»Ach du Scheiße!«
Er erinnerte sich an ein weiteres Detail von gestern Abend. Während er abwesend seine Hose ausgezogen und im Kopf wiederholt hatte: Verschwinde, verpiss dich endlich, hatte ihm Tonino an der Tür erklärt, dass die Toilette unten im Erdgeschoss sei, aber dass sich »im Falle äußerster Not ein Nachttopf unter dem Bett befindet, direkt am Fußende des Bettes«. Siniša öffnete die Tür einen Spalt breit, vernahm von unten gedämpftes Geschirrklappern und schloss sie schnell wieder. Er holte den Emailletopf unter dem Bett hervor, schob ihn an die richtige Stelle und legte los.
»Ha!«, rief er aus, als das kalte Metall die Unterseite seiner Eichel berührte. »Ha, verflucht …«, wiederholte er, als der Rand des Nachttopfs an seinen Oberschenkel kam.
Begleitet von Zuckungen und häufigen Unterbrechungen, war dieses Wasserlassen das unangenehmste, das er bisher erlebt hatte. Gegen Ende hatte er sich damit abgefunden und warf einen Blick aus dem Fenster. Das hellblaue Viereck war derart schön, dass es ihn vollends wach machte. Man sah nichts als Himmel, nur oben rechts zitterte in leichter Brise der mit feiner Spitze verzierte Zipfel eines Lakens oder einer Tischdecke oder was immer draußen von der Hauswand hing. Nur dieses Fleckchen Weiß störte die perfekte blaue Geometrie von Himmel und Fenster. Eigentlich störte es gar nicht, sondern machte, indem es verschämt ins Bild flatterte, diese Komposition zeitloser Milde nur noch schöner. Siniša spürte, wie ihn eine plötzliche Wonne erfasste, die man nur teilweise auf die Tatsache zurückführen konnte, dass er soeben den letzten Tropfen seines poetischen Inneren in den Nachttopf entleert hatte. Er stellte das volle Gefäß vor sein Bett und ging zum Fenster, voller Sehnsucht nach dieser nicht definierbaren, tief in ihrem Wesen mediterranen Szene, nach diesem Panorama, das ihm durch seine Schönheit Mut für das ganze Leben verleihen und sich wie ein Siegel in seine Erinnerung einprägen würde.
»Ja, leck mich doch am Arsch, was ist das denn für eine Scheiße?!«, flüsterte er, als er die Dächer des Dorfes von Drittchen erblickte: Alle, soweit er sehen konnte, waren mit Solarzellen gedeckt! Das war ihm gestern im Dunkeln schon so vorgekommen. Da hatte er diese idiotische Fata Morgana jedoch sofort verworfen, weil er sie seinem nervlichen Zustand und seiner Müdigkeit zugeschrieben hatte.
Tonino stand vor dem Spülbecken aus Stein und wusch einen Teller ab. Am Tisch saß ein alter Mann mit grimmigem, faltigem Gesicht in einem Rollstuhl und aß langsam und lustlos mit einem Löffel Brot, das in Milchkaffee schwamm. Die schwarze Hornfassung seiner alten Brille wurde am rechten Glas mit einem Stückchen Pflaster zusammengehalten.
»Guten Morgen«, begrüßte Siniša die beiden mit aufgesetzter Herzlichkeit.
»Oh, danke gleichfalls, Beauftragter«, entgegnete Tonino heiter. »Hast du es geschafft, deinen Geist und deinen Körper zu stärken, um die bevorstehenden Aufgaben besser bewältigen zu können? Setz dich, frühstücke mit uns.«
»Danke, aber ich konnte morgens noch nie etwas essen.«
Erst jetzt bemerkte ihn der Alte und zeigte das durch ein Zucken der Augenbraue über dem Pflaster.
»Bitte, darf ich bekannt machen … Mein Vater, Tonino Langfuß, hier is ounsor nouvo Beautrotto.«
Der alte Tonino sah ihn jetzt mit beiden Augen an, aber wieder nur eine Sekunde lang, und senkte dann wortlos den Blick in die Schale vor ihm. Seinem Sohn war das sichtlich unangenehm, doch Siniša zog die ausgestreckte Hand gleichgültig zurück und zuckte mit den Schultern.
»Tonino, wo kann ich mich waschen und ein wenig zurechtmachen?«
»Oh, entschuldige! Da vorne. Ich zeige es dir.«
Fünfzehn Minuten später kam der Beauftragte in die Küche zurück, gewaschen, rasiert, wohlriechend und innerlich schrecklich wütend auf die beiden Toninos.
»Möchtest du wenigstens einen Kaffee?«, kam der Jüngere ihm zuvor, obwohl Siniša gerade eine Frage nach den Dingen, die er im Bad gesehen hatte, stellen wollte. »Mokka, Espresso, Milchkaffee?«
»Ach Gott … Espresso, am liebsten mit ein, zwei Tropfen Milch.«
»Wir haben nur Schafs- und Ziegenmilch. Auf der Insel Drittchen gibt es nämlich keine Kühe.«
»Egal welche Milch.«
Hier die Ziegenmilch und dort das Badezimmer mit feinster italienischer Keramik. Solarzellen und eine Spüle aus Stein. Ein Nachttopf und dieser alte Nörgler in einem brandneuen Rollstuhl. Eine uralte Brille, die von einem Pflaster zusammengehalten wurde, und ein auf Hochglanz polierter Krankenhauslifter, um gelähmte Patienten in die Badewanne befördern zu können. Vakuumverpackter Kaffee, Marke »Lavazza«, in einem Küchenschrank, der so aussah, als würde er jeden Moment auseinanderfallen. Am frühen Morgen waren das einfach zu viele Kontraste, zu viele Unstimmigkeiten für Siniša. Seine Gedanken waren wirr, einer jagte den anderen. Er versuchte sie mit gelegentlichem Blinzeln zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Merkwürdigerweise fühlte er sich rein physisch ausgezeichnet. Ausgeruht, beschwingt, vollkommen bereit für einen Tag voller Aufgaben – die ihm nicht mehr so klar vorkamen wie gestern. Außerdem war sein Wille, diese Aufgaben zu lösen, nicht mehr so stark wie gestern. Ähnlich war es ihm auch vor einem halben Jahr ergangen, als er das Rauchen aufgegeben und die erste Abstinenzwoche überlebt hatte: Sein Körper war voller Tatendrang gewesen, aber sein Gehirn, unfähig, die Prioritäten des Tages in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, hatte nur wiederholt: »Zünde dir eine an, dann fällt dir alles sofort wieder ein!« Zünde dir eine an? Hier hätte er das ja tun können: Das Rauchen hatten er und Željka nämlich an dem Tag aufgegeben, als ihnen der Chef gesagt hatte, sie sollten mit dem Qualmen aufhören, zumindest in der Öffentlichkeit. Und hier gab es sowieso keine Öffentlichkeit. So wie es wahrscheinlich auch keine Zigaretten gab: Man rauchte bestimmt Macchia und diverses Gestrüpp.
Als würde er seine süchtigen Gedanken lesen, zog der alte Tonino eine Packung weißer Marlboro und ein dunkel gewordenes Benzinfeuerzeug, eins von denen, die man einst »Straßenkumpel« genannt hatte, aus der Tasche seines Pullovers. Er holte langsam eine Zigarette heraus, klappte die Schachtel zu und schob sie schweigend über den Tisch, ganz nah an Siniša heran. Mit einem geschickten Fingerzucken brach er präzise den Filter der Zigarette ab und steckte sie dann gemächlich in seine Zigarettenspitze. Schließlich zündete er die Zigarette an, nahm einen Zug bis auf den Grund seiner Lunge und schob dann auch das Feuerzeug über den Tisch. Als hätte Siniša nie aufgehört zu rauchen, überkam ihn der Wunsch nach einer Zigarette, aber im selben Augenblick meldete sich sein Politikerinstinkt und verbat ihm, nach der Schachtel zu langen. Dieser alte Miesmacher trickste ihn nicht aus! Schau dir nur mal an, wie er durchs Fenster guckt, als wäre ihm alles egal – der miese Provokateur!
Tonino stellte hilfsbereit einen Aschenbecher vor seinen Vater auf den Tisch und übersetzte das Angebot:
»Nimm ruhig eine, wenn du rauchen möchtest.«
»Nein danke, ich möchte nur Kaffee.«
Einen angenehmen Geschmack hatte Siniša schon immer in eine innere Geometrie übersetzt. Ein guter Wein hatte immer die Form einer Ellipse – in dieser oder jener Farbe. Der frische grüne »Kristall-Salat« war – richtig angemacht – ein gleichseitiges Dreieck, Gavrilović-Salami ein rechtwinkliges Dreieck und warmer, aromatischer Kaffee ein rotierender Kreis, wie ein Rad ohne Speichen. Der Kaffee, den er gerade geschlürft hatte, rief in ihm das Bild von zwei konzentrischen Kreisen hervor, die sich langsam und harmonisch drehten, jeder in seine eigene Richtung. Der äußere war nur der Kaffee, frisch, von hoher Qualität und duftend, und der innere …
»Tonino, hast du Ziegenmilch in den Kaffee getan?«
»Schafsmilch. Von einem jungen Schaf.«
»Mann, der Kaffee ist genial.«
Während