Das stumpfe Gesicht unter dem karierten Regenschirm nickte stumm, auf und ab, auf und ab, bis der dunkelblaue Audi den Fährhafen verlassen hatte und hinter der ersten Kurve in Richtung Zagreb verschwunden war. Auf dem oberen Deck, das durch eine wurmstichige Tür von der Kommandobrücke getrennt war, standen eine kurze Theke und daneben zwei Tische, an denen sechs Männer und ein Großmütterchen in Schwarz saßen. Wer weiß, vielleicht hatten sie vorher auch schon geschwiegen, aber von dem Augenblick an, in dem Siniša an Bord gekommen war, sagten sie kein Wort mehr, bis sie Zweitchen erreicht hatten – immerhin eine Fahrt von viereinhalb Stunden. Alle bis auf einen schnauzbärtigen Mann, der sich mit einer unerwartet hohen Stimme zu Wort meldete, nachdem Siniša schon beinahe eine halbe Stunde an der Theke gestanden und sich immer wieder vorgebeugt hatte, um zu sehen, ob jemand da war:
»Wollnse wat?«, fragte er und schob sich durch eine schmale Tür hinter die Theke.
Sinišas Augenbrauen krümmten sich zu zwei behaarten Fragenzeichen.
»Wollnse wat drinken?«, versuchte es der Schnurrbärtige noch einmal. Und dann sagte er, nachdem er sich kurz geräuspert hatte, steif und pompös wie ein Oberkellner:
»Wollen sich der Herr vielleicht ein Glas seines Lieblingsgetränks genehmigen?«
»Ähhh… Ein Bier, wenn Sie haben.«
»Wen – si – ha – ben, dat is wohl wat Japanisches, dat hammer nich. Wir ham nur hiesiges: Heniken, Gezer, Gines, Klikeni, Milwoki, Bravarija …«
»Guinness? Hier? Bei ihnen?«
»Fragense ruhig mal draußen nach, obs da wat gibt!«
»Schon gut, schon gut, ein Guinness bitte.«
Der Schnurrbärtige holte drei Fläschchen echtes Guinness aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Theke, dazu ein Glas und einen Flaschenöffner.
»Schaffenses selber? Wennse Nachschub wolln, sagense Bescheid.«
Sprachs und ging. Zurück an den Tisch mit dem Großmütterchen. Schweigen. Auch Siniša schwieg. Er tat so, als würde er die anderen nicht beachten, aber in dem ziemlich dunklen Spiegel mit der verblassten Werbeinschrift »Trink mit Maß ein gutes Glas!« konnte er ihre Gesichter beobachten. Versteinerte Hochzeitsgäste, das war das einzige, was ihm dazu einfiel. Er wünschte, Željka wäre hier, damit er sie ihr zeigen könnte, der dummen Kuh, oder wenigstens beschreiben. Als er das dritte Fläschchen öffnete, stand der Schnurrbärtige von allein auf, holte drei weitere Flaschen aus dem Kühlschrank, stellte sie auf die Theke und nickte stumm mit dem Kopf. Dann kehrte er wieder an seinen Tisch zurück. Nach beinahe drei Stunden Fahrt spürte Siniša, wie seine Fußsohlen brannten und seine Waden schmerzten, aber die einzige Stelle, an die er sich hätte setzen können, lag im Rücken der Oma in Schwarz, an dem Tisch mit den restlichen drei Schweigenden. Und dort wollte er nicht sitzen. Hätte er gewusst, ob einer von ihnen von Drittchen kam, hätte er vielleicht ein Gespräch begonnen, aber so … Noch in Zagreb hatte er versucht, sich psychisch auf die zu erwartende Ablehnung und Ignoranz der lokalen Bevölkerung vorzubereiten. Seine Vorbereitungen waren gründlich gewesen und er hätte sie bei diesem Bier noch vertiefen können, aber nicht einmal nach dem vierten Guinness, nachdem sie ohne einen einzigen weiteren Passagier von Erstchen abgelegt und vermutlich in Richtung Zweitchen unterwegs waren, hatte er eine Idee, wie er diese Wehrmauer durchbrechen sollte. Er konnte einfach nicht Zugänglichkeit und lockeres Verhalten vortäuschen und mit diesen versteinerten Hochzeitsgästen ins Gespräch kommen. Eigentlich hatte er ja mit ihnen auch nichts zu schaffen. Seine Aufgabe war es, irgendwie zu diesem Drittchen zu kommen und bis Weihnachten – so gebe Gott – mit kühlem Kopf und in aller Ruhe diese verfluchten Wahlen zu organisieren. Und dann ab nach Hause. Eigentlich auch zurück zu Željka, aber … Lieber Gott, wer weiß, wie die Zimmerdecken auf dieser beschissenen Insel aussehen? Schwarz, verschimmelt, feucht, mit zitternden, weiß schimmernden Wassertröpfchen, die über dem Bett hängen, bis sie sich ablösen und auf die kalte Bettdecke fallen. Vielleicht könnte er wenigstens ein wenig mit dem Kapitän sprechen? So tun, als bräuchte er irgendetwas aus einer seiner Taschen, und dann langsam mit dem Herbstwetter anfangen, dann die gegenseitige Vorstellung, dann ein bisschen über seine Arbeit und dann … Aber was sollte er eigentlich mit dem Kapitän? Der war ja vielleicht nicht einmal von hier, vielleicht arbeitete er nur für die Fährgesellschaft.
Die traurige Schiffssirene und die plötzlich abflauende Vibration unter den Füßen rissen ihn aus seinen Gedanken. Er trennte sich von der Theke, machte einen Schritt vorwärts, stolperte und wäre beinahe gefallen. Der Schnurrbärtige lächelte ihn mit dem rechten Mundwinkel an. Siniša wollte nach seinem Geldbeutel greifen, aber der Kellner, der nun aufgestanden war, winkte ab.
»Nehmse noch des sechste«, sagte er und reichte ihm das letzte noch nicht geöffnete Fläschchen Guinness, das noch auf der Theke stand. »Da, wohin se gehn, trinkense nur das Stralische.«
»Wie bitte?«
»Nur das Stralische, Fister, Fuster, Foster, oder wie heißes noch gleich.«
Sinišas Blick zwang den Schurrbärtigen erneut, sein Vokabular aus dem Hotel Esplanade zu bemühen. Er hatte es dort seinerzeit bis auf den Posten eines Aushilfscroupiers gebracht, aber dann war seine Karriere leider jäh unterbrochen worden.
»Bier aus Australien, mein Herr, dort, wohin Sie fahren, wird nur das australische Bier getrunken«, erklärte er, wobei er das Wort »australisch« mit besonderem Spott betonte.
Sinišas linke Augenbraue ging von einem Fragezeichen in ein behaartes Ausrufezeichen über, während sein Kopf reflexartig nickte, als wäre ihm nun alles klar.
»Ich helf Ihnen mit dem Gepäck«, fügte der Kellner hinzu und verschwand hinter der Theke.
»Lassen Sie nur, das ist nicht nötig«, versuchte Siniša ihn abzuhalten, aber in diesem Moment legten sich die kalten, dunklen, knochigen Finger des Großmütterchens in Schwarz zärtlich auf seinen Handrücken.
Sie sah ihm direkt in die Augen, schweigend, mitleidig und besorgt, aber dennoch irgendwie streng, so wie Mütter ihre Söhne anschauen, wenn diese in den Krieg ziehen. Er erinnerte sich an seine Tante und empfand für einen Augenblick schreckliche Gewissensbisse, weil er vor seiner Abreise nicht an ihrem Grab gewesen war, weder an ihrem noch an dem seiner Eltern. Und dann drehte das Großmütterchen seine Hand um, legte einen Rosenkranz in seine Handfläche und bog seine Finger zu einer geschlossenen Faust. Daraufhin ging sie, ohne ein Wort zu sagen, mit schwachen, langsamen Schritten in Richtung Ausgang, wobei sie sich ununterbrochen bekreuzigte. Siniša betrachtete den schwarzen Rosenkranz aus Plastik in seiner einen Hand und die geschlossene Bierflasche in der anderen, verstaute beide Gegenstände in den Jackentaschen, zuckte verwirrt mit den Schultern und sah sich um. Alle anderen waren schon von Bord gegangen, und jetzt ging auch er. Draußen regnete es in Strömen, und die Windböen wirbelten Regenschauer herum. Er ging noch einmal zurück, um den Regenschirm zu holen, aber er fand ihn nicht mehr. Niemand war mehr auf der Kommandobrücke, und auch sein Gepäck war nicht da. Er fluchte leise vor sich hin, knöpfte sich die Jacke zu, stellte den Kragen auf und betrat vorsichtig das Deck. Durch den Regenschauer hindurch konnte man den größten Ort auf der Insel Zweitchen kaum erahnen. Auf der Mole stand nur ein knochiger Typ in einer abgenutzten Öljacke und einer Hose mit zu kurzen Beinen der breit und fröhlich herüberwinkte und zu dessen Füßen Sinišas Taschen vom Regen durchtränkt wurden. In der linken Hand hielt er den aufgespannten Schirm des Premierministers und in der rechten ein Poster, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand: »Beauftragter!«; darunter stand mit kleinen Buchstaben: »Tonino → Boot → Drittchen!«
Ohne Absicht, vollkommen instinktiv, umklammerte Siniša das Bier und den Rosenkranz in seinen Jackentaschen, bevor er weiter über über das Fallreep von Bord stieg.
Es regnete immer stärker, und der Beauftragte zwängte sich sofort in die kleine Kajüte. Sie war so klein wie unbequem, strahlte jedoch auf Anhieb eine asketische Bodenständigkeit aus.