Tonino wirkte begeistert. »Meinen aufrichtigen Dank!«, wiederholte er noch einmal, griff wieder nach seinem Nordwester und zog ihn über. Er nahm das Bier und den Rosenkranz und ging schnell zum Bug. Das Rauschen von Regen, Wind und Wellen, das sich mit dem Tuckern des Bootsmotors vermischte, erlaubte es Siniša nur, die Worte »Deifi … Hölle … Nobody … Verflixt … Amen!« zu vernehmen. Er sah, wie Tonino den Rosenkranz und die Bierflasche in etwas einwickelte, sie weit über Bord warf und dann mit der rechten Hand ein großes Kreuz in die Luft über dem Meer schlug.
»Jetzt bist du gereinigt«, sagte Tonino schwungvoll, als er in die Kajüte zurückkam. »Und außerdem bist du jetzt bereit für ein echtes Drittchen-Bier!«
Er hob die Sitzfläche der Bank, auf der er gerade noch gesessen hatte, an. In der Kiste lagen ein fest zusammengeschnürter Stapel Tageszeitungen und daneben – ordentlich aneinandergereiht – ungefähr zehn Halbliterdosen der australischen Biermarke »Foster’s«. Tonino nahm zwei Dosen heraus, blieb bei der geöffneten Bank stehen und reichte Siniša eine. Verwirrt griff Siniša danach und öffnete sie. Sein Blick aber blieb am Zeitungsstapel haften. Obenauf lag die Ausgabe der Wochenzeitung »Global« von vor zwei Wochen, und über der ganzen Titelseite prangte die Zeile: »Ehemalige Geheimdienstler – die wahren Herrscher von Zagreb?« Siniša wusste nur allzu gut, was sich hinter diesem Titel verbarg. Den Artikel hatte er in der letzten Woche mindestens zehnmal gelesen, und es schien ihm, als hätte er ihn selbst diktiert. Die Geschichte über seinen Fall, darüber, wie man ihm die Kellnerin, den Aktivisten, die Drogen und den Fotoreporter untergeschoben hatte, wirkte bis in die kleinsten Details recht subjektiv erzählt. Umso schmerzhafter wirkte der abschließende Satz: »Dank der aus Geheimdienstlern bestehenden Unterwelt ist seine aussichtsreiche Karriere in der Politik bis auf Weiteres vorbei, und es ist fragwürdig, ob Mesnjak, das Opfer dieses Quasi-Spionage-Hinterhalts, je wieder an seine Arbeit zurückkehren wird, für die er zweifelsohne viel Begabung besaß, aber leider nur einen unzureichenden Instinkt.«
Siniša berührte mit dem Rand der kalten Bierdose seine Unterlippe und zuckte zusammen.
»Danke dir, entschuldige bitte. Und was ist das hier? Sammelst du auf verschiedenen Inseln Altpapier?«
»Nein, aber … Um ehrlich zu sein: Die anderen sammeln es für mich. Die Zeitungen kommen nicht bis nach Drittchen, und auf Zweitchen lebt ein Ehepaar, bei dem ich für kurze Zeit wohnte, als ich auf die Mittelschule ging. Sie haben alle Zeitungen abonniert und heben die Wochenzeitungen für mich auf. Immer wenn ich komme, empfangen sie mich mit einem Päckchen. Da liegt das von heute, eine Dreimonatssammlung. Ich kann es kaum abwarten, das Päckchen aufzuschnüren.«
In Sinišas Kopf fügte sich endlich zumindest ein kleines Puzzle zusammen: Daher hatte Tonino also sein unglaubliches Kroatisch – aus den Zeitungen! Aus diesem fantastischen Mischmasch, in dem – wie es einst der ehemalige Kulturminister ausgedrückt hatte – »die seltenen, etwas gebildeteren Autoren im genetisch modifizierten Konzentrat aus Unbildung und Oberflächlichkeit als Additiv und Konservans fungieren«! Mein Gott, wie würde Tonino erst klingen, wenn diese Leute von Zweitchen auch ihre Tageszeitungen für ihn aufbewahrten.
Siniša trank lustvoll einen Schluck Bier, starrte die Dose an und erinnerte sich an ein Café in der Zagreber Oberstadt, wo er diese Sorte zuletzt getrunken hatte. Željka hatte gerade ihre Magisterprüfung abgelegt, sie hatte etwas unverschämt Ausgeschnittenes getragen, ohne BH darunter, und später hatte sie irgendwie wie ein Mohnstrudel geduftet … Und nun verfiel Siniša in eine romantische Schwärmerei. Binnen einer Sekunde fasste er den Entschluss, die Wahlen auf diesem vermaledeiten Drittchen in höchstens einem halben Jahr zu organisieren, komme was wolle. Diese Zeit würde für seine mentale und physische Regeneration völlig ausreichen, und vielleicht würde die Öffentlichkeit seinen Fall inzwischen sogar vergessen. Vielleicht fände man auch etwas, was ihn vollständig rehabilitieren könnte. Und er würde sechs Monate lang inmitten der Adria meditieren und sich mit den lokalen analphabetischen Schlitzohren herumschlagen. Vielleicht würde er sich ja sogar endlich daran gewöhnen, Fisch zu essen. Željka würde zweioder dreimal für ein Wochenende kommen, und in der Zwischenzeit ließe sich wohl auch irgendeine Inselbewohnerin auftun. Man musste nur vorsichtig sein. Zum hundertsten Mal während der letzten zehn Tage erinnerte er sich an »Mediterraneo«. Er passte die Filmgeschichte ein wenig seiner eigenen Situation an (Herbst und Winter, Einsamkeit und Unwirtlichkeit), und dann lehnte er den Kopf an die Kajütenwand und sank in einen Halbschlaf. Toninos Stimme schreckte ihn auf:
»Hallo, Beautrotto! Siniša!«
»Häh?!«
»Entschuldige, dass ich dich wecke, aber wenn du dich noch bei jemandem melden willst, empfehle ich, das in den nächsten zehn Minuten zu tun. Ich vermute mal, dass du im Besitz eines Mobiltelefons bist.«
»Natürlich.«
»Wir verlassen nämlich das erreichbare Gebiet.«
»Was für ein erreichbares Gebiet? Du meinst für Handys?«
»Richtig. Um genau zu sein: Es handelt sich um alle mobilen Netzwerke.«
»Bist du noch bei Trost? Es muss doch wohl ein Netz geben!«
»Natürlich gibt es ein Netz, sogar ein gutes – und zwar noch sieben oder acht Minuten lang«, erklärte Tonino, während er auf seine Uhr schaute, die auf die Zeitzone von Irkutsk eingestellt war.
»Wie, und auf Drittchen gibt es gar keins? Okay, aber das Festnetz, ich meine die Post oder die örtliche Verwaltung …«
Tonino schloss voller Mitleid die Augen und schüttelte den Kopf. Siniša griff nach dem Handy an seinem Gürtel und starrte es an. Željka? Den Premierminister? Wen?
»Warte mal – das heißt ja, dass dieses Scheißteil überhaupt keinen Wert mehr für mich hat.«
»Noch hat es einen Wert, aber nicht mehr lange.«
»Und ich habe erst vor drei Tagen viertausend Kuna dafür hingelegt, und zwar mit Rabatt! Scheiße, das hättest du mir wirklich früher sagen können, dann hätte ich es zusammen mit dem anderen Mist ins Meer geschmissen … Wieso gibt es denn kein Netz?«
Tonino zuckte mit den Schultern.
»Wir sind sehr abgelegen, ein anderer Grund ist mir nicht bekannt.«
»Und das italienische Netz? Ich meine Roaming oder so?«
Tonino setzte einen Nie-davon-gehört-Gesichts-ausdruck auf und schüttelte erneut den Kopf. Siniša blickte auf das Display seines Handys. Das Symbol für die Signalstärke zeigte nur noch einen Balken. Er begann, schnell eine Nachricht zu schreiben. »Rette mich von hier! Ganz egal w…« Doch als er den nächsten Buchstaben schreiben wollte, merkte er, dass auch der letzte Balken nur noch ganz schwach flackerte.
»Wende das Boot!«, rief er. »Fahr ein Stück zurück!«
Tonino stürzte zum Bug, sah sich um und kam zurück.
»Das geht nicht, der Sturm wird heftiger. Es besteht die Gefahr, dass uns während des Manövers eine Welle zum Kentern bringt.«
»Red keinen Scheiß! Dreh um! Fahr rückwärts, verflucht noch mal!«
»Siniša, jetzt bin ich für dich verantwortlich. Ich darf es nicht. Stoß mich ins Meer und mach dann, was du willst, aber solange ich hier bin, steht die ›Adelina‹ unter meinem Kommando.«
Siniša drehte sich resigniert einige Male um die eigene Achse. Er wusste nicht, wohin er schauen sollte. Dann besann er sich und drückte mehrere Male hintereinander auf die Sende-Taste seines Handys, das ihm ebenso oft mit der Mitteilung »Address« antwortete. Er fummelte hektisch herum, bis er in seinem Adressverzeichnis »Zzeljka« gefunden hatte, drückte »OK« und dann wieder »Send« und starrte gebannt auf das Display. Nach einigen Sekunden erschien die Mitteilung »Message sent«. Erleichtert atmete er ein-, zwei-, dreimal aus. Für ein paar Augenblicke ließ er den Kopf entspannt hängen, aber dann schreckte er auf, als hätte ihn ein Stromschlag erwischt:
»Warte mal, das heißt also,