Der achte Beauftragte. Renato Baretic. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Renato Baretic
Издательство: Bookwire
Серия: editionBalkan
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941395
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Verkehr ziehen. Nur so lange, bis sich dieser Schlamassel etwas gelegt hat, damit wir dich sauber bekommen und diese Scheiße von dir abwaschen können.«

      All das hatte Siniša schon erwartet. Er hatte es ja gewusst. Er hatte sich auf diese Worte eingestellt und war bereit, sich dem Willen des Premierministers zu beugen. Doch jetzt folgte am Ende einer Geraden eine Kurve, hinter der etwas auf ihn lauerte. Aber was? Eine Stelle als Aushilfsarchivar im lexikografischen Institut? Als Sekretär im Landwirtschaftsministerium? Als Referent für – die horizontalen Signalsysteme im Verkehrswesen?!

      »Hast du schon mal von Drittchen gehört?«

      So scharf hätte die Kurve nicht zu sein brauchen.

      »Drittchen? Sie meinen die Insel?«

      »Die Insel, die Insel.«

      »Keine Ahnung … Kenne ich nur aus Kreuzworträtseln. Zwölfte Reihe waagerecht, neun Buchstaben: ›Unsere am weitesten vor der Küste gelegene besiedelte Insel‹. Mehr nicht.«

      Noch bevor der immer noch aus dem Fenster starrende Premierminister weitersprach, begriff Siniša, dass nichts Gutes zu erwarten war.

      »Nächsten Montag fährst du dorthin. Übermorgen wird dich die Regierung zu ihrem Beauftragten ernennen, und ich möchte, dass du all dein organisatorisches Potenzial, das ja unbestritten ist, bei der Organisation der lokalen Verwaltung und Selbstverwaltung zum Einsatz bringst. Einsatz bringst.«

      »Auf der Insel?! Herr Vorsitzender, ich habe nie …«

      »Siniša, es gibt wirklich keine andere Lösung. Unser Mandat läuft noch zwei Jahre, dann sind Wahlen, und bis wir die hinter uns haben, müssen wir dich von der Bildfläche verschwinden lassen. Damit man die Sache vergisst, versteht du? Und dann, und dann kommt deine Zeit, deine Zeit. Aber du bist natürlich ein freier Mensch, du kannst die Partei verlassen und alleine sehen, wie du zurecht kommst, aber ich habe dir ja offen gesagt, dass ich dich brauche und dass ich will, dass du in dieser Partei und in der Politik bleibst, in der Politik bleibst. Ich schreibe dich nicht ab, verstehst du, ganz im Gegenteil, aber ich sehe, dass du ein wenig Ruhe brauchst und noch ein paar Erfahrungen sammeln musst. Und dafür ist Drittchen wie geschaffen, wie geschaffen.«

      »Entschuldigen Sie, Chef, aber Sie haben da etwas von zwei Jahren gesagt. Von zwei Jah…«

      Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, gefror ihm das Blut in jedem Äderchen. Aber statt ihm wieder vorzuwerfen, ihn verspotten zu wollen, blickte der Premierminister ihn an wie ein Vater seinen Sohn.

      »Genau. Und?«

      »Ich meine, wenn ich das da unten auf Drittchen erledigt habe, es geht da ja um ein, zwei, höchstens drei Monate, was dann? Was werde ich dann tun?«

      Der Premierminister blickte nicht mehr milde auf ihn wie ein Vater auf seinen Sohn. Er blickte noch milder auf ihn – wie ein Großvater auf seinen Enkel. Er nahm eine dünne, sichtbar abgegriffene Mappe von einem Beistelltischchen und reichte sie Siniša mit einer langsamen Bewegung. Auf der Umschlagseite stand in ziemlich verblassten Buchstaben »Drittchen«.

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      Željka lag auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Sie versuchte, sich an den Titel des Films – oder war es eine Fernsehserie gewesen? – zu erinnern, in dem ein Paar sich liebt und das Männchen ständig das Weibchen anbettelt, etwas zu sagen. Sie kann nicht, ihr ist nicht nach Sprechen zumute, sie würde gern einfach nur das tun, weswegen sie hier ist, nackt und verschwitzt, aber er besteht darauf. Und als er zum fünfhundertsten Mal seinen Wunsch wiederholt, sprudelt es aus ihr heraus: »Deine Zimmerdecke ist wunderschön«!, und da kommt das Männchen. Nur aufgrund ihrer Stimme, die er mit viel Mühe aus ihr hervorgelockt hat.

      Siniša war vor einer guten halben Stunde gekommen. Nachdem er nun wieder Atem geschöpft hatte, starrte auch er an die Zimmerdecke. Aber er schwieg nicht wie Željka, sondern erzählte, erzählte, erzählte …

      »… und am Schluss hat er mir nicht einmal gesagt, welche Affen das waren, keine Vornamen, keine Nachnamen, Null, absolut nichts, er schmeißt mich einfach auf diese Insel, soll er sich doch samt der Insel und all ihren Bewohnern ins Knie ficken, und erst als ich ihm sagte: okay, okay, ich gehe, kein Problem, sagte er zu mir: Ich verrate dir das bestgehütete kroatische Geheimnis. Schieb dir dein Geheimnis sonstwo hin, habe ich gedacht, und er sagte, dass die ehemaligen Regierungen dort unten in zehn Jahren sieben Beauftragte verschlissen haben und keiner etwas erreicht hat. Die Idioten dort wollen keine Regierung, weder eine eigene noch eine fremde. Sie wollen gar nichts, und wir gehen ihnen alle am Arsch vorbei, und jetzt soll ich mich mit ihnen herumschlagen. Und bei ihnen Parteien, Wahlen und eine Regierung einführen. Ich bin sicher, das dauert höchstens drei Monate und fertig, aber wieso – verdammt noch mal – hat das in zehn Jahren niemand hinbekommen? Ich kapier das nicht, da muss es einen ziemlich beschissenen Haken geben. Aber was soll’s, Strafe ist Strafe, und da muss ich jetzt durch. Aber was, wenn ich das in drei, vier Monaten oder, sagen wir mal, in einem halben Jahr erledigt habe? Das ist ihm dann hundertprozentig zu schnell. Und was jubelt er mir dann unter? Eine Aushilfsstelle in der Abteilung für Feuerwehrwesen, irgend so etwas? Koordinator für Südfrüchte, verdammte Kacke. Wie dämlich ich bin, saudämlich. Einen Hektoliter Mineralwasser hat mir diese Nutte gebracht, und darin schwamm die halbe afrikanische Zitronenernte … Ich Idiot! Aber stell dir mal vor, was passiert, wenn ich es nicht schaffe, wenn mich diese Dalmatiner so richtig hochgehen lassen, nach Strich und Faden verarschen, weißt du, was ich meine, so dass ich mich am Ende noch schäme, zurückzukommen? Das kann ja auch passieren, ach du Scheiße, die haben schon sieben arme Schweine in den Wahnsinn getrieben, stell dir mal vor, ich habe nur drei davon ans Telefon bekommen, aber keiner will auch nur ein Wort sagen, und der siebte ist ohnehin völlig abgetaucht. Er hat keine Familie, niemanden, kapierst du, genau wie ich, und keiner weiß, wohin er von diesem Drittchen, Frittchen, Flittchen – wie heißt es noch mal – gegangen ist. Vielleicht haben sie den Typen erschlagen und ins Meer geworfen …«

      Siniša schwieg ein paar Sekunden lang, in seine Sorgen versunken, und drehte sich dann zu Željka um:

      »Was denkst du darüber, mein kleiner Zypressenzapfen?«

      »Deine Zimmerdecke ist schön«, sprudelte es in derselben Sekunde aus ihr heraus, so als hätte sie nur auf diesen Augenblick gewartet.

      »Wie bitte?! Zimmerdecke?!? Ich … Ich … Hör mal zu, in fünf Tagen fahre ich an den Turbo-Arsch der Welt! Auf eine Insel, auf der es keinen Fischfang, keine Viehzucht, keinen Weinbau gibt, rein gar nichts gibt es dort! Nur eine Truppe von Idioten, die ich dressieren soll! Und du bewunderst meine Zimmerdecke! Eine beschissene Zimmerdecke. Eine weiße Zimmerdecke, eine gewöhnliche, beschissene weiße Zimmerdecke. Du bist total im Eimer, hundertmal mehr als ich! Dich hätte er mal dorthin schicken sollen und nicht mich!«

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      Siniša hatte noch nie eine kleinere Fähre gesehen, schon gar nicht von innen. Auf der Ladefläche hätte man vielleicht fünfzehn Autos zusammenquetschen können, aber dann hätte es niemand geschafft, auszusteigen. Zvonko, der Ćevapčići-Experte aus Dubrava, hatte ihn schweigend in einem Audi mit Klimaanlage zur Küste gefahren. Er hatte alle vier Taschen auf die Fähre getragen und sie auf der Kommandobrücke untergebracht, und am Schluss hatte er den Schicki-Micki-Regenschirm des Premierministers aus dem Gepäckraum genommen und ihn Siniša großzügig angeboten, da ein feiner, schräg fallender und stechender Regen sie überraschte, als sie aus dem Auto stiegen.

      »Nehmen Sie ihn ruhig«, sagte er. »Der Chef wird sich nicht ärgern, er wird es nicht einmal erfahren. Wir haben immer zwei dabei, für den Fall, dass er – oder wir – den einen irgendwo vergessen.«

      Und während Siniša an der Hülle des Regenschirms herumfummelte, reichte ihm Zvonko die Hand:

      »Tja, also … Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«

      »Ja. Ich auch«, flüsterte Siniša ironisch.

      Als er die engen, steilen, grünen Stufen bis zum oberen Deck emporgestiegen