»Genau.«
Siniša richtete seinen müden Blick auf eine der Reisetaschen: auf diejenige, in der sein mühsam im Landwirtschaftsministerium ergatterter Laptop verstaut war.
»Wie lange ist es noch bis zu deiner Insel?«
»Sagen wir mal zwei Stunden, vielleicht zweieinviertel Stunden.«
»Hast du hier eine Decke?«
»Natürlich.«
Siniša zog seine Jacke aus, griff sich die beiden Decken, die Tonino ihm reichte, deckte sich zu und rollte sich auf der Bank zusammen, das Gesicht zur Kajütenwand gerichtet.
»Du wirst mich gewiss anlässlich unserer Ankunft in Arkadien wecken«, murmelte er so zynisch er konnte.
»Ganz gewiss, ganz gewiss«, antwortete Tonino dienstbeflissen.
Der riesige Hai schwamm wütend im Kreis herum und warf aus seinen hervortretenden Augen wilde Blicke in alle Richtungen. Noch nie war er so hungrig und so gefährlich gewesen. Ungefähr zehn Meter über ihm schimmerte weißlich die Meeresoberfläche, doch plötzlich wurde sie von einem Etwas, das einer schwarzen Kette mit einem Anhänger ähnelte, durchstochen. Der Hai zog sich ein wenig zurück, wich zur Seite und wartete, bis der ungewöhnliche Gegenstand bis auf seine Höhe gesunken war. Als er den Rosenkranz erkannte, verwandelte ein zufriedenes Lächeln sein starres, vor Hunger verkrampftes Maul, das sich weitete und dann aufsperrte, als wolle der Hai einen Tanker und nicht nur eine Gebetskette verschlingen. Das Gesicht unseres Heilands auf dem winzigen Kruzifix war Sinišas Gesicht, die Augen in unsagbarem Schrecken weit aufgerissen …
Siniša fuhr hoch, warf die Decke von sich und setzte sich so plötzlich aufrecht, dass Tonino für einen Augenblick vor Schreck erstarrte.
»Ah, Ah … Ahaa …«, schnaubte der Regierungsbeauftragte. »Oh Mann, oh Mann, was für ein Traum … Verflucht, was für ein Traum, das kann doch nicht wahr sein ….«
»Ist schon gut, schon gut … Es ist alles in Ordnung. Gerade haben wir die Bucht von Drittchen erreicht.«
Noch immer schlaftrunken, blickte Siniša durch das von Wassertropfen trübe Bullauge. Er bemerkte keinen Unterschied, nur das Meer war jetzt bedeutend ruhiger.
»Sind wir da?«, fragte er.
»Bald, noch etwa zehn Minuten.«
»Hast du einen Spiegel? Hast du ein Klo?«
»Der Spiegel ist in der Bank unter dir und die Toilette – was soll ich sagen, ich erledige das vom Heck aus.«
»Und ein Klo hast du nicht?«
»Hier auf der ›Adelina‹ nicht. Es ist nicht nötig. Allerdings würde ich dir nicht empfehlen, das ausgerechnet jetzt zu erledigen. Es wäre ratsamer, sich noch eine halbe Stunde zu gedulden.«
Achtlos faltete Siniša die Decken zusammen, legte sie auf das Tischchen und klappte die Sitzbank auf. Der Spiegel war nicht in der Bank, sondern auf der inneren Deckelseite. Er warf dem lächelnden Tonino einen resignierten Blick zu, kniete nieder, schob seine Unterschenkel unter das befestigte Tischchen und begann, sich in diesem merkwürdigen Spiegel zu rasieren. Tonino trat auf das Heck und reduzierte das Motorengeräusch auf ein angenehmes Brummen.
Siniša klappte den Deckel mit dem Spiegel zurück, ging um das Tischchen herum, holte sich eine neue Dose »Foster’s« aus der Bank auf der gegenüberliegenden Seite und trat dann auch selbst aufs Deck.
»Do isser! De nju Beautrotto vons Drittchen! Douch de best bishero!«, rief Tonino und erreichte in drei Sprüngen den Schiffsbug.
Am schmalen Uferstreifen standen ungefähr zwanzig Menschen unter Regenschirmen vor einer kleinen Reihe betagter, niedriger Steinhäuschen. Einer löste sich von der Gruppe, fing das Seil, das Tonino ihm zuwarf, geschickt auf und legte es um einen alten Poller aus Stein. Siniša wusste nicht so recht, was er tun sollte, und hob seine Bierdose ein wenig in die Höhe, als wolle er jemandem zuprosten. Wie von einem Dirigenten angeleitet, hoben sich im selben Augenblick alle schwarzen Regenschirme am Ufer ein wenig in die Höhe. Angenehm überrascht hob Siniša seine Dose noch einmal hoch, sogar ein wenig höher, doch dieses Mal erwiderte niemand seine Geste.
»Tonino, lebt ihr alle in den paar Häuschen?«, fragte Siniša leise.
»Nein, um Gottes willen, das ist doch bloß der Hafen. Das Dorf liegt da oben, dahinter.«
»Dahinter?«
»Langsam, du wirst schon noch alles begreifen. Jetzt geh von Bord und pass auf, dass du nicht ausrutschst.«
Siniša trat auf die Bugspitze, stieß sich mit dem linken Bein ab und sprang geschickt ans nasse Ufer, direkt neben den Mann, der aus der Gruppe herausgetreten war, um ihnen zu helfen. Er klopfte ihm souverän auf die Schulter und lächelte ihn an, um sich dann mit demselben Lächeln an die anderen zu wenden:
»Guten Tag, gute Leute!«
»Benvenout, Signor Beautrotto«, antwortete einer ohne zu zögern, und die anderen nickten mit den Köpfen. »Benvenout ouf dous Drittchen, dous Stontir, dous Lacrima della Pietra!«
Obwohl er kaum etwas verstand, begriff er aufgrund des Tonfalls, dass es sich um einen höflichen Willkommensgruß handelte.
»Besten Dank«, sagte er und ließ einen schelmischen Blick über alle Versammelten wandern. »Ich habe den Eindruck, dass wir uns ausgezeichnet verstehen werden … Ich werde freilich etwas Zeit brauchen, um Ihren Dialekt und Ihre Sitten kennenzulernen, aber ich verspreche Ihnen, dass ich fleißig und schnell sein werde. Natürlich wird das kaum ohne Ihre Hilfe gehen, aber ich denke, dass es im beiderseitigen Interesse liegt, diese Situation schnellstens in den Griff zu bekommen … Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich sofort damit anfangen. Warum nennen Sie mich zum Beispiel alle ›Beautrotto‹? Erst Tonino während der Fahrt und jetzt auch Sie. ›Beautrotto‹ hört sich irgendwie Italienisch an, aber es klingt auch etwas von einem schönen Trottel mit. Halten Sie mich etwa für einen Trottel?«
Die Inselbewohner blickten sich ernst an, und Tonino, der mit seinem Zeitungsbündel vom Boot ans Land sprang, sagte:
»Mal langsam, Herr Beauftragter. Hier handelt es sich offensichtlich um ein Missverständnis. Beautrotto hat mit einem Trottel nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Wir haben nur das Wort ›Beauftragter‹ ein wenig verkürzt, das war ja für uns alle ein neues Wort, und so wurde daraus ›Beautrotto‹. Sehen Sie sich das Wort doch mal genauer an, es bedeutet einfach Beauftragter im Dialekt von Drittchen, ganz ohne irgendeine böse Absicht.«
Siniša blickte ihm tief in die Augen, aus denen nur Unschuld und Ehrlichkeit sprachen. Allerdings überraschte ihn der offizielle Ton Toninos. Offenbar wollte auch er ein wenig Autorität wahren. Das sollte ihm vergönnt sein, er würde hier sowieso viel mehr als einen gewöhnlichen Dolmetscher abgeben. Die Stille dauerte zu lange an, und Siniša spürte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Er wusste, dass er etwas sagen musste, und er wusste auch, dass davon, was er sagte, das weitere Verhalten dieser durchnässten Heuchler abhängen würde.
»Nun gut, da bin ich ja erleichtert«, sagte er endlich und bemühte sich, dass ihm sein Lächeln nicht vom Gesicht rutschte. »Sind wir mit dem Protokoll am Ende? Was hast du gesagt, wo ist das Dorf?«
Er duzte Tonino, um dessen Autorität nicht noch anwachsen zu lassen.
»Da oben … Wie soll ich sagen, hm, hinter der Anhöhe da …«
»Wunderbar, lass uns vor Anbruch der Nacht dort sein.«
»Woullens Osolo?«, fragte ihn im selben Augenblick einer aus der Gruppe, der mit der linken Hand an einem Esel zog und mit der rechten auf ihn zeigte. Aus dieser Pantomime erschloss sich Siniša der Sinn der Frage.
»Nein danke, ich kann zu Fuß gehen. Es ist ja hoffentlich nicht so weit …«
Keiner