Die Kuppe seines Zeigefingers an die Nasenspitze gelegt, starrte Tonino unentwegt auf die Steinbank auf der anderen Seite der Loggia, vielleicht sogar darüber hinaus. Auf seinem Gesicht war ein wehmütiges Lächeln eingefroren.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Was soll denn das jetzt wieder?«, murmelte Siniša verzweifelt und lief in der Loggia auf und ab.
Er blickte auf die Uhr. Als wäre das noch wichtig! Zehn Minuten bis Mittag. Was hatte dieser Simpson gestern noch gesagt, wie lange dauerte das bei Tonino? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Na und – auch wenn es fünf Stunden dauerte, was würde das denn ändern? Während er so hin- und herlief, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass sich im Bildausschnitt etwas bewegte: Wie in einem Zeichentrickfilm versuchte ein gebeugter älterer Mann, auf Zehenspitzen unbemerkt über den Place zu gelangen, und zwar genau in dessen Mitte.
»Stehengeblieben!!!!«, rief Siniša und warf einen schnellen Blick zu Tonino, der nicht einmal zuckte. Die Comic-Gestalt blieb kurz stehen, sah sich um und richtete sich dann auf, um ihren Weg mit normalem Gang fortzusetzen, ohne Siniša zu beachten. »Hey! Stehen geblieben oder ich schieße!«, brüllte der Beauftragte und rannte aus dem Schatten in die Sonne. Ein Teil seines Verstandes wunderte sich dabei maßlos über den anderen: »Oder ich schieße?! Punkt zwölf Uhr mittags, jetzt habe ich dich erwischt, Punkt zwölf Uhr mittags«, dachte er, während er mit schnellen Schritten zu dem stocksteif stehengebliebenen Bauern eilte.
»Wo gehst du hin? Wo gehst du eigentlich hin, wenn du hörst, dass ich dich rufe?«, fragte er den Unglücksraben wütend, als er einen Schritt vor ihm zum Stehen gekommen war. »Was ist, bist du etwa mit dem armen Schlucker da oben verwandt? Du bist ja genauso steif geworden! Wohin du gehst, habe ich gefragt! Könnte es sein, dass du zur Versammlung der Einwohner willst?«
»Noi woule onli to go …«
»Noi-noi, woule-woule! Du ju parlare Kroejschn?«
Der Bauer nickte erschrocken.
»Super! Dann sag mir jetzt erst mal, ob du gestern auch bei dieser Bande warst, die mich empfangen hat?«
Der Alte schüttelte den Kopf. Siniša sah ihm tief in die Augen und erwartete, dass er zumindest einen Funken Gerissenheit erkennen würde, eine Spur Schläue, mit der der Alte nach einer Schwachstelle bei ihm suchte, um ihn hereinzulegen und zu demütigen. Aber er sah nichts. Wäre der Unselige nur ein wenig schlauer gewesen, hätte er den Place auf Nebenstraßen umgangen, statt auf Zehenspitzen mitten über die Hauptstraße zu laufen. Und hätte er einen Streich geplant, würde er doch nicht so vor Angst zittern. Nachdem der Beauftragte nachgedacht hatte, sagte er mit versöhnlicher Stimme:
»Und, was haben sie gesagt – wann ist heute das Treffen vor der Kirche?«
»Ei-, eine Ora vor der Midneit …«
»Wie immer beim ersten Mal, oder?«, heuchelte Siniša Freundlichkeit und legte dem Bauern eine Hand auf die Schulter.
Der nickte erleichtert, zufrieden darüber, dass sich die Dinge anscheinend günstig entwickelten.
»Wie heißen Sie, mein Herr? Mein Name ist Siniša Mesnjak, Beauftragter der Regierung der Republik Kroatien auf Ihrer Insel.«
»Zani … Langfuß Zani«, antwortete der Alte nach kurzem Zögern und griff nach der ausgestreckten Hand.
»Mister Zani, das Treffen war für elf Uhr vormittags anberaumt, vor einer Stunde. Und es wird morgen zur gleichen Zeit am gleichen Ort stattfinden. Wenn Sie mich wieder verarschen, werde ich die Spezialeinheiten der Polizei holen und Sie alle auf dieser Insel wegen Bedrohung der Verfassungsordnung der Republik Kroatien verhaften lassen. Das können Sie allen weitersagen. Morgen um elf. Um – elf – Uhr – vor– mit – tags. Das ist für Sie und Ihresgleichen die letzte Gelegenheit. Sonst werde ich alles den entsprechenden Stellen melden, und Ihre Idylle wird endgültig dahin sein. Okay? Sie können jetzt gehen.«
Zani drehte sich schnell in die Richtung um, aus der er gekommen war, und eilte sich bekreuzigend davon. Als er in der engen Gasse verschwunden war, ging Siniša langsamen Schrittes zum Heileusebi zurück. In einem Film wäre eine solche Szene von Musik untermalt worden, die die baldige Rache des Gerechten ankündigen würde.
»Der dritte!«, rief Tonino, richtete sich plötzlich auf und sah sich um. »Es war doch der dritte!«
»Hier bin ich, Tonino. Sag mal, bist du zufällig mit einem gewissen Zani Langfuß verwandt?«
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Foundeischn! So ungefähr nennen sie das. Die Stiftung des alten Bonino, der als Kind nach Australien ausgewandert ist, reich geworden im Bergbau. Schrecklich reich, Millionen. Die Rechtsanwälte, sie sagen hier Avokadi, kümmern sich um das Geld. Einmal in der Woche – am Freitag – kommen zwei Schnellboote aus Italien: Bier, Mehl, Zucker, alles. Solarzellen und andere Dinge fürs Haus. Natürlich auch Zigaretten, Tee, Kaffee … Und australische Renten. Den Laden betreibt die Genossenschaft. Alles billig, günstig, das Geld geht an die Italiener, alles Schmuggler. Das Geld kreist, fließt in die Foundeischn zurück. Allen geht es gut. Zwei Kirchen, kein Priester, sie beten alleine. Wann es ihnen passt. Ansonsten eine wunderbare Insel. Wenn man sie alle aussiedeln könnte, dann wäre es ein Genuss!
Das erste Treffen: Arschkarte.
Am nächsten Tag ließ er sie zehn Minuten vor der Loggia warten und trat erst dann aus der schattigen Gasse heraus, langsam, cool, die Hände lässig in den Taschen. Er betrat den sonnigen, leeren Place. Aber dort, vor dem Heileusebi, war niemand! Vor fünfzehn Minuten hatte er Tonino zur Erkundung losgeschickt und ihm aufgetragen, er solle zurückkommen, wenn bis fünf nach elf niemand da sei. Und wenn mehr als zehn Bewohner gekommen seien, solle er bei ihnen bleiben.
»Was ist denn jetzt schon wieder …«, fragte er sich laut und breitete die Arme aus, um sie dann hilflos fallen zu lassen. »Das werdet ihr mir noch büßen …«
Er drehte sich langsam um und versuchte mit aller Kraft, laute Flüche zu unterdrücken. Doch dann entdeckte er vor dem Heilopoli, dem Heiligen Polion auf der anderen Seite des Place, eine Gruppe von etwa fünfzig Menschen. Alle starrten ihn ernst an.
»Gut«, sagte Siniša streng und blieb vor ihnen stehen. »Obwohl zu wenige gekommen sind, und zudem auch noch an den falschen Ort, wollen wir nun unser erstes Treffen beginnen. Falls es jemanden gibt, der es noch nicht wissen sollte: Ich bin der Beauftragte der Regierung der Republik Kroatien auf Ihrer Insel. Mein Name ist Siniša Mesnjak, aber der Name ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich der Beauftragte bin, dessen Aufgabe es ist, hier endlich die Einheit der lokalen Selbstverwaltung herzustellen, den Bezirk Drittchen, der vollständig mit der Verfassung und den Gesetzen unseres Staates in Einklang gebracht werden soll. Ich weiß nicht und ich möchte auch nicht wissen, warum meine Vorgänger daran gescheitert sind. Es interessiert mich nur, dass ich es schaffe und Sie dann so schnell wie möglich sich selbst überlassen kann, damit Sie so leben, wie sie möchten, aber eben mit einem demokratisch gewählten Bezirksrat und zwei gewählten Ratsmitgliedern in der Gemeinde Erstchen-Zweitchen.«
»Aba wourum?«, fragte jemand laut aus der Menge.
»Bitte?«
»Jemand hat die Frage gestellt, warum, weswegen«, sprang Tonino bereitwillig ein, zum ersten Mal in seiner Rolle als offizieller Dolmetscher.
»Warum? Weil es das Gesetz über die Verwaltung und lokale Selbstverwaltung für alle Bürger Kroatiens vorschreibt. Auch Sie sind Bürger der Republik Kroatien, deshalb müssen Sie Ihre Vertreter in der lokalen Regierung haben. Indem Sie diese Pflicht erfüllen, werden Ihnen auch zahlreiche Rechte zuteil, da Sie Ihre Interessen in den gemeinsamen Entscheidungsprozessen vertreten können.«
»Ouns geht es olso so buon!«, meldete sich wieder jemand aus dem Hintergrund.
»Uns