»Es hat dir auf der Seele gelegen, du hast dir Luft gemacht. Und du musst dir nicht die geringsten Sorgen machen, dass ich es ausplaudere. Ich nehme meine ärztliche Schweigepflicht ernst«, versicherte er ihr und betrachtete sie mit einem Lächeln, das Anna einen Schauer über den Rücken jagte.
»Der Auflauf«, sagte sie, als die Backofenuhr schrillte.
»Stimmt.«
»Du solltest ihn aus dem Ofen nehmen.«
»Ich weiß.«
»Sebastian«, flüsterte sie, als er sie nur ansah und sich nicht bewegte.
»Wir haben Hunger, richtig?«
»Ja, haben wir«, antwortete sie lächelnd.
Wenig später stand der nach Thymian und Oregano duftende Auflauf vor ihnen auf dem Tisch, und auch Sebastian spürte jetzt, dass er Hunger hatte.
»Köstlich wie immer«, lobte Anna Traudels Spezialität, während sie es sich schmecken ließ.
»Ja, ganz köstlich«, sagte Sebastian und schenkte ihr erneut ein Lächeln. »Was ist mit deiner Familie, Anna, lebt sie in München?« Er wollte gern mehr über diese Frau erfahren, die er gerade erst kennengelernt hatte und die ihm doch schon so vertraut erschien.
»Meine Eltern leben zurzeit in Indien. Sie arbeiten im Entwicklungsdienst. Meine Mutter als Biologin und mein Vater stellt sein Wissen als Forstwirt zur Verfügung.«
»Interessante Familie.«
»Leider sehe ich meine Eltern nicht sehr oft«, seufzte Anna, »aber sie lieben dieses Leben, und ich bin ja schon groß«, fügte sie lachend hinzu.
Nach dem Essen räumten sie das Geschirr in die Spülmaschine, und Sebastian öffnete die Fensterläden, die ihnen die Sicht nach Osten versperrten. Sie setzten sich nebeneinander auf das alte Ledersofa und schaute in die Dunkelheit hinaus.
»In einer halben Stunde geht die Sonne auf, der erste Sonnenaufgang für unser Patenkind, wir sollten ihn uns ansehen«, sagte er.
»Und dem kleinen Bastian alles Glück dieser Welt wünschen.«
»Das werden wir tun«, antwortete Sebastian und lehnte sich zurück.
Anna wagte es nicht, sich ihm zuzuwenden, zu verräterisch wäre ihr Blick gewesen. Es war unglaublich aufregend, ihm so nahe zu sein. Dieser Mann, den sie so stark erlebt hatte, als es darum ging, Sabine und ihr Kind zu retten, hatte sich ihr nun auch von seiner verletzlichen Seite gezeigt.
Sie saßen ganz still nebeneinander und schauten auf die Berge am Horizont, die sich allmählich aus dem Schatten der Nacht lösten. Bald strichen die ersten Sonnenstrahlen über den Himmel, färbten ihn feurig rot und tauchten die Gipfel der Alpen in rotgoldenes Licht.
»Wie ist der Sonnenaufgang in Kanada?«, fragte Anna.
»Wenn du dich auf den neuen Tag freust, dann ist diese Stunde an jedem Ort dieses Planeten großartig.«
»Ja, das ist sie«, entgegnete Anna und schloss die Augen, weil sie plötzlich so müde war.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie mit einer Decke zugedeckt auf dem Sofa. Ihre Schuhe standen auf dem Boden. Von Sebastian war nichts zu sehen.
»Elf Uhr«, sagte sie laut, als sie auf ihre Armbanduhr schaute. Sie hatte fast fünf Stunden geschlafen. Ihr fiel ein, dass Sebastian irgendwann gegangen war. Vermutlich schlief er noch.
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: »Es ist jetzt halb elf, muss kurz zu einem Hausbesuch, bin gleich zurück«, hatte Sebastian geschrieben.
Sie zuckte zusammen, als es an der Haustür läutete. Hatte Sebastian seinen Schlüssel vergessen? Vielleicht war es aber auch ein Notfall. In der Diele schaute sie kurz in den Spiegel, fuhr mit beiden Händen durch ihr zerzaustes Haar und zog danach die schwere Haustür aus dunklem Holz auf.
»Was machst du denn um diese Zeit hier?« Miriam Holzer, deren Familie das Sägewerk in Bergmoosbach gehörte, starrte Anna verblüfft an.
»Wir hatten heute Nacht einen Notfall.«
»Wenn man dich holt, dann ging es wohl um eine Geburt. Doch nicht etwa Traudel? Hat das alte Mädchen sich doch noch entschlossen, eine eigene Familie zu gründen?«, fragte Miriam und lachte über ihren eigenen Scherz.
»Bist du verletzt?« Anna überhörte die Anspielung auf Traudels Alter und ihre Kinderlosigkeit und schaute auf das blau-weiß karierte Männertaschentuch, das Miriam um ihre rechte Hand gewickelt hatte.
»Deshalb bin ich hier. Ich war mit Harald Baumann draußen im Forst, die Sturmschäden besichtigen, und er schlägt mir einen Ast direkt auf die Hand. Der Mann ist wirklich unglaublich tollpatschig«, schimpfte sie.
Miriam kam aus dem Wald, das erklärte, warum sie in Jeans und Gummistiefeln herumlief und nicht in ihren Designerkleidchen wie gewöhnlich. Anna mochte Miriam nicht besonders. Sie bildete sich ein bisschen zu viel auf ihre blonden langen Haare, das hübsche Gesicht und die dunkelblauen Augen ein, die sie zusammen mit ihrem Schmollmund immer richtig einzusetzen wusste, wenn sie ihren Willen haben wollte. Anna hatte sie im Pilateskursus kennengelernt, den sie beide zweimal in der Woche besuchten. Viel hatten sie aber nicht miteinander zu tun. Miriam und ihre Freundinnen, die ebenso geltungssüchtig wie sie waren, blieben meistens unter sich.
»Entschuldigung, würdest du bitte aufhören, mich so anzustarren und stattdessen Sebastian rufen«, riss Miriam Anna aus ihren Gedanken.
»Tut mir leid, er ist nicht da.«
»Gut, dann gehe ich zu Benedikt.«
»Auch er ist nicht da.«
»Aber Traudel?«
»Nein, außer mir ist niemand hier. Wenn du willst, kann ich mir deine Hand ansehen.«
»Du bist Hebamme.«
»Und Krankenschwester, also mach schon.«
»Meinetwegen«, murrte Miriam und befreite ihre Hand von dem Taschentuch.
»Das sind nur ein paar Kratzer, warte kurz.« Anna öffnete ihren Rucksack, der in der Diele stand, und holte das Mittel zur Wunddesinfektion und die Box mit dem Pflaster, die sie immer bei sich hatte, heraus. »Wann wurdest du das letzte Mal gegen Tetanus geimpft?«, erkundigte sie sich, während sie Miriams kleine Wunde versorgte.
»Vor einem Jahr.«
»Sicher?«
»Bin ich senil?«
»Schon gut.«
»Vielleicht sollte sich Sebastian meine Verletzung doch noch mal ansehen«, sagte Miriam, als sie den dunklen Geländewagen sah, der die Einfahrt zum Hof hinauffuhr und neben ihrem Sportwagen parkte.
»Wenn du das möchtest.«
»Hallo, Sebastian!« Miriam ließ Anna stehen und lief Sebastian entgegen, der aus seinem Auto stieg.
Vielleicht ist etwas Wahres an der Geschichte, die ich vor ein paar Tagen im Friseursalon gehört habe, dachte Anna. Es hieß, dass Miriam mit Sebastian zusammen war, bevor er nach Kanada ging, und dass sie diese Beziehung gern wieder aufleben lassen würde.
»Alles bestens, das heilt schnell«, sagte Sebastian, als Miriam das Pflaster vorsichtig löste, um ihm die Kratzer zu zeigen.
»Danke, ich wollte nur sicher gehen.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Miriam?« Sebastian nahm seine Arzttasche aus dem Auto und ließ die Tür sachte zufallen.
»Du könntest mich auf einen Kaffee einladen.«
»Ja, könnte ich«, antwortete er und lächelte in sich hinein, als sie ihr verführerisches Lächeln aufsetzte. Vergiss es, das wirkt schon lange nicht mehr bei mir, dachte er. »Ich denke, ich werde mich erst einmal um Anna kümmern, wir haben eine aufregende Nacht hinter uns«, sagte er und fing Annas Blick auf.