»Weil die Gedanken dann immer kreisen, ich weiß.«
»Was meinen Sie, wollen wir beide darüber nachdenken, wie wir Ihre Lage verbessern können?«
»Sie meinen, es wartet noch ein wenig Freude auf mein altes Herz?«, fragte Frau Mechler, und als sie Sebastian anschaute, zeigte sich ein schüchternes Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Wir finden etwas, ganz sicher.«
»Danke, Herr Doktor Seefeld, ich fühle mich schon ein bisschen leichter. Was doch so ein paar Worte ausmachen können.«
»Das ist der Sinn der Sprechstunde, in vielen Fällen ist ein Gespräch immer noch die beste Therapie.«
»Das hat Ihr Vater auch immer gesagt. Wissen Sie, gerade die älteren von uns hatten ihre Bedenken, ob ein junger Arzt sich überhaupt noch die Zeit für Gespräche nehmen wird. Heutzutage muss doch alles schnell gehen, und dann diese vielen Geräte, an die sie uns anschließen und die uns durchleuchten.«
»Manchmal lässt sich das nicht vermeiden.«
»Ich weiß, aber zuerst kommt das Gespräch.«
»So werden wir es auch weiterhin halten«, versicherte Sebastian seiner Patientin.
»Grüßen Sie Ihren Herrn Vater von mir.«
»Das mache ich gern, und wir sehen uns in den nächsten Tagen wieder, um über unser gemeinsames Vorhaben zu sprechen.«
»Sie meinen, dass ich etwas finde, was mir Freude macht?«
»Das meine ich, Frau Mechler, also dann, auf bald.«
»Auf bald, Herr Doktor.«
»Du machst das gut, mein Junge.« Benedikt Seefeld ging aus alter Gewohnheit noch immer jeden Morgen vor dem Frühstück erst einmal in den Hof, um ein paar Worte mit den Leuten zu reden, die dort auf den Beginn der Sprechstunde warteten.
»Beobachtest du mich etwa, Vater?«, fragte Sebastian.
»Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.«
»Du kannst es nicht lassen, nicht wahr?«
»Nicht so ganz«, gab Benedikt schuldbewusst zu.
»Deine Patienten vermissen dich auch, besonders die älteren Damen. Frau Mechler hätte sich sicher auch gern mit dir unterhalten, sie lässt dich übrigens grüßen.« Sebastian konnte verstehen, dass die Damen seinen Vater vermissten. Er war eine beindruckende Erscheinung, groß und sportlich, mit silbergrauem Haar, dunklen Augen und einem Lächeln, dem so manche nur schwer widerstehen konnte.
»Einige brauchen eben noch eine Weile, bis sie sich an dich gewöhnt haben, aber ich denke, die meisten sind bereits recht zufrieden mit dir.«
»Wenn das nicht so wäre, dann wäre dein Plan gescheitert.« Sebastian wusste sehr gut, dass sein Vater sich nicht allein aus Altersgründen aus der Praxis zurückgezogen hatte. Er hatte gehofft, ihn und Emilia auf diese Weise dazu zu bringen, dass sie nach Bergmoosbach zurückkehrten, und damit hatte er letztendlich auch Erfolg gehabt. »Sie vermisst dich auch«, sagte er und winkte Gerti Fechner, die von der Straße heraufkam.
Gerti war die Sprechstundenhilfe der ersten Stunde in der Praxis Seefeld. Dreißig Jahre lang hatte sie Benedikt tatkräftig unterstützt, und nun ließ sie Sebastian, den sie hatte aufwachsen sehen, an ihrer Erfahrung teilhaben und umsorgte ihn mit der gleichen mütterlichen Zuneigung wie Traudel.
Gerti liebte deftiges Essen und hausgemachte Kuchen, und im Laufe der Jahre war sie dabei recht rundlich geworden. Aber das bremste sie nicht aus. Mit flottem Schritt marschierte sie den Weg von der Straße herauf. Alles an Gerti strahlte Ordnung aus. Das kurze dunkle Haar war akkurat gekämmt, der graue Faltenrock, die weiße Bluse gestärkt und gebügelt, die schwarzen Halbschuhe poliert und sogar die betagte braune Umhängetasche schien gründlich gewienert.
»Guten Morgen«, sagte sie mit einem fröhlichen Lächeln, und in ihren hellblauen Augen zeigte sich ein Strahlen, als sie ihre beiden ›Doktoren‹, wie sie Vater und Sohn nannte, voller Zuneigung ansah.
»Guten Morgen, Gerti«, antworteten Sebastian und Benedikt und erwiderten ihr Lächeln.
»Ich habe gerade die Mechler Pia getroffen. Sie war geradezu euphorisch, dass du die Open-Air-Sprechstunde vom Herrn Doktor fortsetzt«, wandte sie sich direkt an Sebastian, den sie außerhalb der Praxis duzte, weil sie ihn schon als Kind gekannt hatte.
»Ich habe auch nicht vor, sie abzuschaffen. Ich halte sie für eine gute Einrichtung.«
»Mei, Herr Doktor, das hätten Sie ihm schon ausreden sollen. Oder wird die Zeit jetzt aufgeschrieben, damit ich was zum Abrechnen habe?«, fragte Gerti und schaute Benedikt abwartend an.
»Wir plaudern doch nur ein wenig mit den Nachbarn, Gerti«, verteidigte Benedikt Sebastian und sich. »Sobald jemand die Praxis betritt, kann er ohnehin nicht mehr an dir vorbei.«
»Zum Glück, sonst könnten wir bald Konkurs anmelden.«
»Solange wir dich haben, passiert das sicher nicht«, sagte Sebastian, legte den Arm um Gertis Schultern und drückte sie liebevoll an sich.
»Du machst mich ganz verlegen«, murmelte sie.
»Und solange ich hier im Haus bin, werden die beiden nicht verhungern!«, rief Traudel, die mit einer Pfanne in der Hand um die Ecke schaute. »Die Rühreier werden kalt, würden die Herrschaften sich bitte herbemühen!«
»Ich würde mich beeilen, sonst versalzt sie euch noch das Essen«, sagte Gerti, während sie den Schlüsselbund für die Praxis aus ihrer Umhängetasche fischte.
»Bis später, Gerti«, sagte Sebastian.
»Einen schönen Tag, Gerti«, verabschiedete sich Benedikt.
»Danke«, antwortete sie und wischte mit der Hand über die Lehne der Bank, die neben dem Eingang der Praxis stand. »Das muss noch mal gewischt werden«, seufzte sie.
Wen auch immer sie mit der Reinigung ihrer Praxis beauftragten, Gerti war es nie gut genug.
»Traudel und Gerti tragen immer noch ihre kleinen Kämpfe aus, daran wird sich wohl nie etwas ändern«, stellte Sebastian fest, als er und sein Vater zur Terrasse zurückgingen.
»Jede verteidigt ihr Revier, aber das sind nur Scheingefechte. Ich versichere dir, wenn irgendjemand einen Angriff auf unsere Familie starten würde, dann wären die beiden eine verschworene Gemeinschaft.«
»Dann leben wir in einer uneinnehmbaren Festung?«, fragte Sebastian lächelnd.
»Das möchte ich meinen, wir werden von zwei gestandenen Frauen beschützt, das ist die beste Festung, die wir uns wünschen können, mein Sohn«, sagte Benedikt mit einem liebevollen Lächeln, das diesen beiden Frauen galt.
*
Sebastian hatte sich nach der Nachmittagssprechstunde auf das alte schon ein wenig versessene Ledersofa im Wohnzimmer gelegt. Der gemütliche Raum mit dem grünen Kachelofen und dem Ohrensessel mit dem Rosenmuster hatte einen Durchgang zur Küche. Als Sebastian noch ein Kind war, spielte er an langen Winterabenden in diesem Zimmer, genoss die Wärme des Kachelofens und schaute Traudel in der Küche zu. Ich will nur ein paar Minuten die Augen schließen, dachte er. Das Wartezimmer hatte sich an diesem Tag einfach nicht leeren wollen. Am Vormittag gaben sich die Patienten die Klinke in die Hand und am Nachmittag auch. Gerti hatte ihm versichert,