Sein Vater war mit Traudel und Emilia zu einem Biohof im Nachbartal gefahren, der einem Freund von Benedikt gehörte. Traudel wollte dort einkaufen, und Emilia, die sonst lieber im Garten lag und Musik hörte, hatte sich aus irgendeinem Grund dazu durchgerungen, die beiden zu begleiten. Sie wollten gegen halb acht zurück sein. Ein paar Minuten kann ich noch liegen bleiben, dachte Sebastian, als er auf die Uhr schaute. Traudel hatte einen Auflauf vorbereitet, den er eine halbe Stunde vor ihrer geplanten Rückkehr in den Ofen schieben sollte.
Was ist das?, dachte er, als er irgendwann durch einen lauten Knall geweckt wurde und hochschoss.
Der Himmel vor seinem Fenster war nachtschwarz. Wenig später jagte ein Blitz über den Horizont, dem ein krachender Donner folgte. Sebastian schaute auf die Standuhr, die neben der Tür zur Diele stand. Es war bereits neun Uhr vorbei, er hatte beinahe zwei Stunden geschlafen. In der Küche war niemand, und im Haus brannte auch kein Licht. Wo waren Emilia, Traudel und sein Vater abgeblieben?
Er wählte Emilias Handynummer, aber die Leitung brach sofort zusammen. Das Gleiche passierte ihm, als er es auf dem Telefon seines Vaters versuchte. Traudel besaß kein Handy, noch weigerte sie sich strikt, eines zu benutzen. Wie hieß dieser Biohof? Während er versuchte, sich an den Namen zu erinnern, durchforstete er den Kalender, der in der Küche hing, nach einem Hinweis. Traudel trug wichtige Termine immer dort ein. Aber sie hatte für diesen Tag nur »Einkaufen« notiert.
Das Gewitter war jetzt genau über dem Tal. Blitz und Donner wechselten im Sekundentakt, und der Wind nahm stetig zu. Schon flogen kleinere Äste von den Bäumen im Garten am Küchenfenster vorbei. Sebastian unterbrach seine Suche nach der Telefonnummer. Er musste die Fensterläden schließen, damit die Scheiben nicht zu Bruch gingen, wenn das Unwetter noch stärker wurde. Nachdem er die Fenster im Erdgeschoss gesichert hatte, lief er hinauf in den ersten Stock und danach ins Dachgeschoss. Im Arbeitszimmer seines Vaters sah er den Flyer eines Biohofes auf dem Schreibtisch liegen. Er nahm ihn mit in die Küche, griff nach dem Telefon, das in der Ladestation auf dem Fensterbrett stand, und wählte die Nummer des Biohofes. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich dort jemand meldete.
»Kugler Hof, guten Tag«, hörte er eine Frau sagen.
»Sebastian Seefeld, guten Tag, können Sie mir sagen, ob mein Vater bei Ihnen ist? Hallo?!«, rief er, als die Verbindung abbrach. Er wartete einen Augenblick, bevor er es erneut versuchte, aber die Leitung blieb tot. Weder auf dem Festnetz noch auf den Handys konnte er seine Familie erreichen, egal, wie oft er diese Nummern wählte.
Um herauszufinden, was da draußen los war, schaltete er das Radio ein. Es hieß, dass durch das schwere Unwetter einige Funkmasten umgekippt seien. Das war vermutlich der Grund, warum die Leitungen zusammengebrochen waren. Aber er war nicht wirklich beruhigt. Vielleicht waren sie bereits unterwegs gewesen, als das Unwetter losbrach, und steckten nun irgendwo fest. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug und seine Atmung sich beschleunigte. Da war wieder diese Angst, die er empfunden hatte, als er in der Nacht von Helenes Unfall den Polizisten gegenüberstand.
»Ich muss mich zusammenreißen«, sagte er laut. Sein Vater und Traudel würden kein Risiko eingehen, sie kannten die Gefahr dieser Unwetter, die sich zwischen den Bergen fingen.
Der nächste Donner rollte über das Tal hinweg, und Sebastian versuchte, sich erneut davon zu überzeugen, dass es Emilia, Traudel und Benedikt gut ging. Da es nicht funktionierte, dachte er schon daran, sich auf die Suche nach ihnen zu machen, als der Sturm noch an Stärke zunahm. Ein schwerer Ast krachte gegen einen Fensterladen in der Küche. Vorsichtig öffnete er das Fenster und schaute durch die Ritzen des Holzladens hinaus. Der Wind tobte über die Wiesen und Felder, trieb Äste und entwurzelte Bäume vor sich her. Jetzt dort hinauszugehen, das wäre Selbstmord. Er hoffte inständig, dass in den nächsten Stunden niemand seine Hilfe als Arzt benötigte.
Er drehte das Radio lauter und legte sich wieder auf das Sofa. Er musste warten, bis der Sturm abflaute. Nach zwei Stunden war der Spuk endlich vorbei, draußen wurde es wieder ruhiger. Nach den nächsten vergeblichen Versuchen, seine Familie zu erreichen, beschloss er, zum Kuglerhof zu fahren. Er ging in die Küche und machte sich einen Kaffee, um ein bisschen wacher zu werden. Er hatte gerade den ersten Schluck getrunken, als jemand mit beiden Fäusten gegen die Holzladen der Terrassentür hämmerte.
Im ersten Moment wich er erschrocken zurück. Wenn jemand etwas von ihm wollte, warum läutete er nicht einfach an der Haustür.
»Hallo, Doktor Seefeld! Sebastian! Ist jemand da?!«, hörte er gleich darauf einen Mann rufen. So verzweifelt, wie er sich anhörte, befand er sich in einer Notlage.
Vorsichtig zog Sebastian die Terrassentür auf und klappte den Laden zur Seite. Ein völlig durchnässter Mann in Latzhose, Pullover und Gummistiefeln starrte ihn aus angstvollen Augen an.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Sebastian.
»Du musst mitkommen, Sebastian, schnell, mit meiner Sabine stimmt was nicht. Das Baby will kommen, aber es geht einfach nicht«, sagte der Mann, dem das Wasser aus seinen krausen Locken tropfte.
»Anton?«, fragte Sebastian, weil er seinen ehemaligen Schulkameraden nicht wirklich erkennen konnte. Die harte Arbeit, die er jeden Tag verrichten musste, hatte ihn wohl schnell altern lassen.
»Ja, ich bin’s, komm mit, es pressiert.«
»Ich fahre dir hinterher«, sagte Sebastian, nachdem er seine Notfalltasche geholt hatte.
»Das geht nicht, du musst mit mir kommen, auf dem Weg zu unserem Hof liegen umgestürzte Bäume. Deshalb können wir auch keinen Krankenwagen rufen. Du bist unsere einzige Rettung, Sebastian.«
»Aber wie bist du hierhergekommen?«
»Damit.« Anton deutete auf den Traktor mit der überdachten Kabine, der auf dem Rasen vor dem Haus stand.
»Gut, dann mit dem Traktor«, sagte Sebastian.
»Geht es?«, erkundigte sich Anton, nachdem er auf den Fahrersitz gestiegen war und Sebastian auf den Beifahrersitz kletterte.
»Ja, alles gut, wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf. Warte kurz«, bat Sebastian, als sein Handy surrte. »Fahr los«, forderte er ihn gleich darauf auf, als er sah, dass nur eine SMS eingegangen war, die ihn aber glücklicherweise von seinen Sorgen um seine Familie befreite.
»Wegen des Unwetters werden wir auf dem Kuglerhof übernachten. Mach dir keine Sorgen, habe dich lieb, Emilia.«
*
Die Fahrt mit dem Traktor erschien Sebastian endlos lang. Krampfhaft hielt er seine Tasche umfasst und klammerte sich an den Haltegriff neben seinem Sitz, während Anton den Traktor an den Hindernissen vorbeisteuerte, die die Straßen und Wege blockierten.
Der Mittnerhof lag außerhalb des Dorfes inmitten von Feldern und Weiden. Auch in der Dunkelheit konnte Sebastian sehen, dass der Hof zwar aufgeräumt und sauber war, der Putz aber von den Mauern des Wohnhauses blätterte und die Stallungen und Scheunen dringend neue Dachabdeckungen benötigen.
»Wohin?«, fragte er, als Anton den Traktor vor der Haustür zum Stehen brachte und er das Gefährt endlich verlassen konnte.
»Hier entlang.« Anton stieß die schwere Eichenholztür auf.
Sebastian fand sich in einer spärlich beleuchteten Diele wieder. Eine dunkle Holztreppe führte nach oben. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, so als befürchtete er, sich an der niedrigen Decke zu stoßen.
Das gehört doch dieser Rekordjägerin auf den Straßen von Bergmoosbach, dachte er, als er beim Hinaufgehen ein pinkfarbenes Fahrrad im Treppenhaus stehen sah. Er zuckte zusammen, als er den alles durchdringenden Schmerzensschrei einer Frau hörte. Das klang gar nicht gut. Sabine hatte bereits drei Kinder geboren, sie konnte Schmerzen aushalten.
»Ich bleibe bei den Kindern in der Küche!«, rief Anton und gleich darauf schloss sich eine Tür im Erdgeschoss.
Er hat Angst, dachte Sebastian.
Sabine