Dieser gellende Schrei wies Doktor Seefeld den Weg, als er endlich mit quietschenden Reifen auf dem Hof zum Stehen kam. Ein Griff, und er hatte beide Koffer in den Händen und raste in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Als er Sekunden später um die Ecke bog, sah er Marie, die wie zur Salzsäule erstarrt auf der gemähten Hauswiese stand. Nur wenige Meter entfernt lag Benjamin auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt, halb unter einer langen Leiter aus Metall begraben. Er hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht.
Beim Anblick des Arztes löste sich Marie aus ihrer Erstarrung. »Ben!« Sie fiel neben ihm auf die Knie, wagte aber nicht, ihn zu berühren aus Angst, ihm durch Bewegung weitere Verletzungen zuzufügen. »Ben, bitte, bitte …«, flehte sie.
Doktor Seefeld kniete ebenfalls neben dem Verletzten und überprüfte als erstes Herzschlag und Atmung. »Er lebt!«, sagte er zu der verzweifelten Marie. »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!« Seine geübten Hände glitten über den Körper des Bewusstlosen, tasteten vorsichtig die Gliedmaßen ab. »Nichts gebrochen!«, teilte er Marie mit, die leichenblass neben ihm kniete. Vorsichtig streckte sie die Fingerspitzen aus und berührte Bens Wange. »Liebster, bitte komm zurück, bitte komm zurück …«, murmelte sie wie eine Beschwörung.
Und wie durch ein Wunder öffnete Ben die Augen, blinzelte verwirrt in die Sonne und wandte den Kopf zur Seite. »Was …, was ist denn passiert?«, murmelte er.
Maries Schluchzen war irgendetwas zwischen Lachen und Weinen, ihre Erleichterung war zu groß für Worte. Sie fasste nach Bens Hand, die er ihr entgegen streckte, bedeckte sie mit Küssen und legte sie an ihre Wange. Nur seinen Namen konnte sie stammeln, wieder und wieder. »Ben! Liebster, liebster Ben!«
»Ben, können Sie sich erinnern, aus welcher Höhe sie gestürzt sind?«, fragte Doktor Seefeld.
»Ich war ungefähr auf der Höhe des ersten Stockwerks«, murmelte Ben. »Und jetzt bin ich im Himmel.« Er griff mit beiden Händen nach Marie und hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest. »Auch wenn ich versprochen habe, es nie zu sagen: ich liebe dich, Marie, und ich weiß, dass ich dich für immer lieben werde.«
»Und ich liebe dich, ich liebe dich so sehr! Bitte, geh nie wieder weg! Bleib bei mir, bleib bei mir!«, schluchzte sie.
»Für immer, Marie!«, versprach Benjamin.
»Ich möchte diesen wunderschönen Augenblick nicht stören, aber neben einer großen Liebe haben wir hier auch eine dramatische Notsituation!«, erinnerte Doktor Seefeld die Liebenden. »Wie durch ein Wunder scheinen Sie durch den Sturz keine großen äußeren Verletzungen erlitten zu haben, aber wie es mit inneren Verletzungen aussieht, das müssen die Kollegen im Krankenhaus abklären. Der Rettungswagen ist schon unterwegs. Aber auch wenn Sie keinen Beinbruch haben, so ist das linke Bein doch deutlich geschwollen und heiß, ich habe es eben beim Abtasten gespürt. Ich werde jetzt das Hosenbein aufschneiden, um zu sehen, was passiert ist.«
»Rostiger Nagel«, murmelte Ben. Er hatte nur Augen für Marie und hielt ihre Hände in seinen, als wollte er sie nie wieder loslassen. Sein Bein, sein Kopf, sein bitterer Kummer wegen Maries Misstrauen all das hatte sich auf wunderbare Weise aufgelöst und in ein Glücksgefühl verwandelt, das ihn schweben ließ.
Er bemerkte kaum, wie Doktor Seefeld das entzündete Bein versorgte, wie ein erster Tropf gelegt wurde, wie ihn das Team vom Rettungswagen auf die Trage legte und zum Krankenhaus fuhr. Infusionen und starke Medikamente begannen ihren Kampf gegen die Blutvergiftung, aber auch das nahm er nicht wahr. Wirklich war nur Marie, die neben ihm saß, die seine Hand hielt und immer wieder sein Herz auf den Kopf stellte, wenn sie sich über ihn beugte und ihm den schönsten Satz der Welt zuflüsterte: »Ich liebe dich!«
Die Zeit im Krankenhaus war lebensrettend für Benjamin. Ohne das Eingreifen der Ärzte, insbesondere Doktor Seefelds, wäre die verschleppte Blutvergiftung tödlich verlaufen.
Wegen des Sturzes waren sich alle einig, dass Ben einen Schutzengel gehabt haben musste, denn außer einigen blauen Flecken blieb er unverletzt. Medizinisch gesehen, war es auf zwei Umstände zurückzuführen: Erstens war Ben nicht aus großer Höhe gefallen, und zweitens genau auf der Stelle aufgeschlagen, auf der das gemähte Gras der Wiese auf einem Haufen lag. Der hatte den Aufprall ein wenig gemildert. Dennoch konnte man es nur als ein Wunder bezeichnen.
Auch dass sich sein Körper so schnell von einer derart schweren Infektion erholte, grenzte an ein Wunder. Die Ärzte führten es darauf zurück, dass Ben vorher kerngesund gewesen war und eine sehr gute Konstitution besaß. Auch Doktor Seefeld war dieser Meinung, aber als darüber gesprochen wurde, zwinkerte er dem Patienten heimlich zu; er wusste genau, was – oder vielmehr wer – Ben so schnell wieder gesund machte.
Ben teilte diese Ansicht aus tiefstem Herzen!
Es war Marie, die jeden Tag von morgens bis abends bei ihm saß.
Immer, wenn er aufwachte, erwartete ihn ihr Lächeln. Dann spürte er, dass sie seine Hand hielt, und er wusste, es war kein Traum. In den ersten Tagen, als die Medikamente gegen die Entzündung ankämpften, hatte er wie in einem Nebel gelegen und nicht immer sofort gewusst, was Wunschdenken und was Wirklichkeit war. Aber Marie war immer da.
Auch für die junge Frau begann in diesen Stunden ein neues Leben.
Vor der lebensbedrohlichen Situation lösten sich ihre eigenen Ängste und Bedenken in Nichts auf. Sie erkannte, wie unnötig ihr Zögern und ihr Misstrauen gewesen waren. Dieses hier war eine Situation, in der sie Ben tatsächlich und unwiederbringlich hätte verlieren können. Wie dumm war sie gewesen, ihrer Liebe nicht zu vertrauen und jeden einzelnen Augenblick zu genießen, den ein gütiges Schicksal ihnen schenkte!
Aber als sie Ben das sagte, schüttelte er entschieden den Kopf. »Du warst nicht dumm!«, widersprach er. »Du hattest Ängste, und das ist niemals dumm! Wenn sich hier jemand diesen Vorwurf machen muss, dann bin doch wohl ich es. Mein gekränkter Stolz hat mich diese blödsinnigen Dinge von einer Trennung sagen lassen. Du ahnst ja gar nicht, wie bitter ich das bereut habe! Und anstatt sofort zu dir zu …«.
Seidige Lippen berührten ihn und verschlossen seinen Mund mit einem Kuss. »Kein Wort von Dummheit mehr«, murmelte Marie zärtlich. »Wir haben doch etwas viel Schöneres, das wir uns sagen können: ich liebe dich, Benjamin Lauterbach.«
Ben umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, und er wurde sehr ernst, ohne etwas von dem Leuchten seiner Liebe zu verlieren. »Ich liebe dich auch, Marie Höfer, von ganzem Herzen und für immer. Und deshalb möchte ich dich etwas fragen, obwohl dieses hier vielleicht ein nicht so ganz romantischer Ort ist und ich keinen Ring bei mir habe.
Willst du dein Leben mit mir teilen, in guten wie in schlechten Zeiten? Willst du Kinder mit mir haben, die wir gemeinsam aufwachsen und in ihr eigenes Leben gehen sehen? Willst du zusammen mit mir alt werden? Erweist du mir die Ehre, mit dir verheiratet zu sein? Marie, willst du meine Frau werden?«
Tränen glänzten in Maries dunklen Augen und vertieften deren dunklen Glanz. »Seit unserer Nacht auf dem Sternwolkensee bin ich deine Frau, Benjamin, und keine Ängste und Bedenken können das ruckgängig machen. Und ja, ich will für dich und vor den Augen aller Welt deine Ehefrau sein. Ich will bei dir sein, in allem, was das Leben uns noch bringen wird.«
Tief bewegt hatte Ben zugehört, hatte jedes einzelne Wort in sich aufgenommen und dem Schatz ihrer gemeinsamen Erinnerungen hinzugefügt. Wie ein kostbares Geschenk hielt er ihr Gesicht zwischen seinen Händen und dachte: und wenn wir auch sehr alt geworden sind, werde ich nie vergessen, wie sie in diesem Augenblick ausgesehen hat!
»Meine Liebste«, sagte er innig.
Sanft zog er ihr Gesicht zu sich herunter, um sie zu küssen, aber Marie hob ihren Kopf und wich soweit zurück, dass sie ihm weiterhin in die Augen schauen konnte. »Da ist noch etwas, was du wissen musst, ehe du mein Jawort annimmst«, sagte sie.
Erwartungsvoll und ein wenig verwirrt schaute Ben die junge Frau an. Sie war ernst, aber in ihren Augen