Sieglindes Gedanken flogen in die Zeit zurück, als sie und ihre Schwester junge Mädchen gewesen waren, und sie lächelte. »Hm, ist da nicht ein bisschen mehr zwischen dir und diesem Korbinian gewesen als nur der Abtanzball?«
»Leider nein«, antwortete Gerti und griff zu ihrer Handtasche. Auch die war neu und deutlich hübscher und modischer als ihre Vorgängerin.
»Ich wünsche dir einen wunderschönen Abend!«, erwiderte Sieglinde freundlich und umarmte ihre Schwester. War da flatterndes Herzklopfen unter dem hübschen, neuen Kleid zu spüren?
»Danke, den werden wir bestimmt haben!«
Dann klingelte es, und Gertis heimlicher, sorgsam gehüteter Traum ging in Erfüllung: Korbinian stand vor der Tür, um sie zu einer Verabredung abzuholen.
»Gerti, du siehst fantastisch aus!«, begrüßte er sie, und sein Lächeln war immer noch das gleiche wie damals.
Sie fuhren in die benachbarte Kreisstadt, wo Korbinian in einem sehr guten Restaurant einen Tisch bestellt hatte. Es war ein lauer Sommerabend mit Blumenduft und Kerzenschimmer in gläsernen Windlichtern und einem nicht abreißenden Strom an Gesprächen. Jahrzehnte gelebtes Leben zogen an ihnen vorüber.
»Und jetzt bist du seit dreißig Jahren in der Praxis der Seefelds? Respekt, Gerti, das hört man nicht mehr oft heutzutage«, sagte Korbinian anerkennend.
Gerti zuckte leicht mit den Schultern. »Nun ja, ich bin halt kein ‚Wandervogel’, in keiner Beziehung. Ich mag die Beständigkeit.«
»Das gefällt mir«, sagte Korbinian weich.
»Es hat aber auch seine Schattenseiten«, gab Gerti zu. »Mit Veränderungen tue ich mich manchmal schwer. Als Doktor Seefeld jetzt die neue, sehr junge Kollegin eingestellt hat, war ich mit dieser Entscheidung überhaupt nicht glücklich.«
»Du meinst Caroline Böttcher?«
Gerti errötete. »Ja, Caro. Ich glaube, zuerst hatte ich Angst vor Veränderungen und Neuerungen, die sie einführen könnte. Zum Beispiel ist alles, was mit dem PC zusammenhängt, für sie ein Kinderspiel. Ich hatte Angst, neben ihr plötzlich als ziemlich dumm dazustehen.«
»Und ist es so gekommen?«
»Nein, ich habe mich geirrt«, antwortete Gerti aufrichtig. »Sie ist freundlich, und auf ihre Art und Weise arbeitet sie anders als ich, aber sie respektiert mich und meine Art. Wir kommen gut miteinander aus, und es tut mir sehr leid, dass sie jetzt eine so harte Zeit durchmachen muss.«
»Ich weiß davon«, antwortete Korbinian nachdenklich. »Felix ist ein Neffe meiner verstorbenen Frau, und über die Testamentseröffnung habe ich Caro kennengelernt. Ich mag sie auch sehr, und allmählich mache ich mir Sorgen um sie und die gemeinsame Zukunft mit Felix.«
»Ja, manchmal geht die Liebe, oder was man dafür hält, seltsame Wege.«
»Kann man wohl so sagen«, erwiderte Korbinian. Er griff nach seinem Weinglas und ließ es sacht gegen das der hübschen, älteren Frau klingen. »Auf alle Wege und alle Umwege, Gerti Fechner!«
»Auf alle neuen Wege, Korbinian Wamsler!«, antwortete sie lächelnd.
*
Ein neuer Morgen breitete seinen sommerlichen Glanz über Berge und Täler, die fruchtbaren Wiesen und Weiden des Allgäu. Der Sternwolkensee schimmerte im Sonnenlicht, und von der vergoldeten Wetterfahne auf der Turmspitze der barocken Kirche blitzten goldene Funken in die Fenster der umliegenden Häuser.
Caro erwachte inmitten dieser fröhlichen Helligkeit und drehte sich auf die Seite, hinüber zu Felix, der klaftertief neben ihr schlief. Erst in den frühen Morgenstunden war er von der Arbeit nach Hause gekommen und erschöpft ins Bett gefallen. Er hatte heute frei, und Caro wollte seinen mehr als verdienten Schlaf nicht stören. »Schlaf gut, mein Liebster«, hauchte sie, küsste ihn sanft auf die Wange und schlüpfte leise aus dem Bett.
Sie hatte sich auf ein einsames, schnelles Frühstück eingestellt, aber als sie nach unten ging, sah sie, dass Fiona auch schon aufgestanden war. Und nicht nur das: der große Karton und das Verpackungsmaterial waren verschwunden, dafür stand der Kinderwagen zusammengebaut in seiner ganzen verschwenderischen Pracht in der Eingangshalle.
Fiona begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Guten Morgen, Caro, hast du gut geschlafen? Sieh mal, was inzwischen angekommen ist! Ist dieser Wagen nicht wunderschön? Seitdem ich ein kleines Mädchen gewesen bin, habe ich von solch einem Kinderwagen für mein Baby geträumt.«
»Ein ziemlich kostspieliger Traum«, antwortete Caro trocken. »Den du mit Felix’ Kreditkarte bezahlt hast.«
»Hast du etwas dagegen einzuwenden? Immerhin ist es Felix’ Geld, nicht deines oder euer gemeinsames.« Für eine Sekunde flackerte etwas Stahlhartes in Fionas Augen auf, das sofort wieder verschwand und dem üblichen sanften Ausdruck Platz machte.
Caro schaute sie nachdenklich an. »Ja, da hast du wohl recht.« Sie stellte ihren noch halbvollen Kaffeebecher achtlos zur Seite und verabschiedete sich. »Ich muss in die Praxis. Bis irgendwann nachher.«
»Bis später! Ich kümmere mich um Felix, wenn er nachher ausgeschlafen hat«, antwortete Fiona sanft.
Während des Vormittags schweiften Caros Gedanken immer öfter hinüber zum Kapitänshaus und allem Unausgesprochenem, das in der Luft hing. So konnte es nicht weitergehen; sie würde verrückt werden, wenn jetzt nicht eine klare Entscheidung getroffen wurde!
»Gerti, können Sie den Nachmittag allein übernehmen?«, wandte sie sich an ihre Kollegin.
»Natürlich, das habe ich doch früher immer getan«, antwortete Gerti. »Wenn es etwas Wichtiges gibt, kann ich gern für Sie mit einspringen.«
»Gut! Dann frage ich jetzt Doktor Seefeld, ob ich frei bekommen kann«, sagte Caro entschlossen. Wenige Minuten später warf sie ihren Kittel über einen Bügel und stürmte aus der Praxis.
»Was immer du auch vorhast, ich wünsche dir Glück!«, murmelte Gerti voller dunkler Vorahnungen.
Im Laufschritt legte Caro den Weg nach Hause zurück und platzte atemlos in eine idyllische Szene im Garten hinein. Fiona lag entspannt in einer Hängematte und aß frische Erdbeeren, während Felix, der in einem Liegestuhl neben ihr ruhte, die Matte sanft vor und zurück schwang. An ihren heiteren Stimmen und dem leisen Lachen konnte Caro erkennen, dass sie sich offensichtlich sehr gut verstanden.
»Oh, hallo, Liebling! Du bist schon zurück? So früh habe ich gar nicht mit dir gerechnet. Komm, setz dich zu in die Sommerfrische«, begrüßte Felix sie träge.
»Nein!«, antwortete Caro schneidend. »Wir müssen reden. Allein!«
»Ach, komm, jetzt mach die friedliche Stimmung nicht kaputt, es ist so schön hier. Setz dich doch. Wir haben gerade Namen für das Baby überlegt. Was hältst du zum Beispiel von Paul oder Benjamin? Das sind so meine Favoriten.«
»Ich finde Marvin auch sehr schön«, ergänzte Fiona träumerisch.
Caro rang um Fassung. »Habt ihr mir nicht zugehört? Ich will jetzt mit Felix reden und zwar allein!«
Mit einem ungeduldigen Seufzer stand Felix auf. »Na gut; ich weiß zwar nicht, was so ungeheuer wichtig ist, aber bitte, reden wir.« Er schlenderte zur Veranda hinüber und ließ sich dort in einen Korbsessel fallen. Caro, die zu aufgebracht zum Stillsitzen war, ging während des Redens auf und ab.
»Ich achte und respektiere deine Entscheidung, dich um das Kind kümmern zu wollen, Felix!«, begann sie. »Aber ich respektiere weder Fionas Verhalten noch deine Uneindeutigkeit!«
»Uneindeutigkeit? Was soll das denn heißen?«, empörte er sich.
»Wir beide sind das Paar!«, erinnerte sie ihn. »Das scheinst du manchmal zu vergessen!«
»Ja, spinnst du? Da läuft nichts zwischen Fiona und mir!«
»Nein,