Nichts von dieser Flucht-Atmosphäre war an diesem Tag zu spüren. Noch hatte es keine nervige Konferenz gegeben, manche waren noch gar nicht aus ihren jeweiligen Urlauben zurückgekehrt und reizten die freie Zeit bis zum letzten Tag vor Vorlesungsbeginn aus.
An den Anschlagtafeln waren die Zettel des vergangenen Semesters längst abgenommen worden, jetzt hing dort wieder Zukunft: Die Stundenpläne des folgenden Studienjahres mit den Kürzeln der Lehrenden.
In der Teeküche und auf dem anschließenden Balkon standen einige Kollegen, darunter Gabriele, tiefgebräunt, und Holger Wuttke, der Hobbyradleistungssportler, offenbar über den Sommer noch eine Spur schlanker geworden. Ich schnappte Sätze auf, die eine Art Kurzzusammenfassung von Sommerurlauben waren: war nicht ganz so toll, aber das Wetter hat uns entschädigt / ein paar Höhenmeter habe ich schon zusammengebracht / du kannst hinkommen, wo du willst, die Deutschen sind schon da (ein Satz, der gegen Holger gerichtet war) / und das Beste war dann, als … / das Übliche halt / Familie, verstehst du …
Jemand drückte mir einen Becher in die Hand und goss Kaffee ein, jemand legte mir kurz die Hand auf die Schulter: Und bei dir?
Bei Gabriele riskierte ich einen zweiten Blick. Sie war umringt, sie war besetzt, aber sie zwinkerte mir kurz zu: Ich interpretierte ihr Zwinkern als Zeichen eines Einverständnisses über unser sommerliches Erlebnis. Im Vorbeigehen drückte sie mir den Oberarm, eine Berührung, die ich als angenehm empfand. Ich überlegte kurz, wie viele der Anwesenden mich je anfassten, wen ich überhaupt nicht anfassen würde und bei welchen Kolleginnen eine Berührung vielleicht sogar als Übergriff interpretiert werden und notgedrungen eine unmittelbare Nachberührungsentschuldigung nach sich ziehen würde.
Ich klinkte mich aus der lauten und unstrukturierten Unterhaltung aus, noch ehe ich richtig eingestiegen war. In der Straßenbahn hatte ich in der Gratiszeitung von einer Umfrage gelesen, laut der ein Drittel der Österreicher im Urlaub einmal eine Romanze erlebt hatte. Was genau mit dem Begriff Romanze gemeint war, war dem Artikel nicht zu entnehmen gewesen. Der Titel des Textes hatte etwas holprig Ein Drittel der Österreicher hatte schon eine Romanze im Urlaub gelautet. Für einen Moment sah ich mich im Lehrsaal zu meinen Studierenden sprechen: Die Art und Weise, wie wir über Wirklichkeit sprechen, ist Konstrukt. Genauso richtig (und so holprig) wäre es gewesen, Zwei Drittel der Österreicher hatten noch keine Romanze im Urlaub zu titeln. Die Überschrift war natürlich nicht gegendert gewesen. Ich sah noch einmal zu Gabriele hinüber und fragte mich, zu welchem Drittel sie wohl in diesem Sommer gezählt hatte. Ihr Mann arbeitete als Geschäftsführer einer Firma, die Kinder waren aus dem Haus, ihr Leben, gesettelt und abgesichert, war aber von einer steten unglücklichen Unruhe angekränkelt.
Unvermutet fielen mir mein Vater ein und sein offenbarer Sohn: Hatte es vielleicht in Vaters Leben eine Romanze gegeben, von der ich bisher nichts gewusst hatte? Wer war denn die Mutter gewesen? Und wenn Preinfalk Vaters erster Sohn war, war ich wohl ab jetzt der Zweitgeborene. Der Gedanke mutete seltsam an.
Beim Fußweg zurück zur Straßenbahn durchströmte mich ein kurzes Gefühl der Dankbarkeit, dass ich Holger Wuttke für diesen Tag ausgekommen war. Gleichzeitig schlug mein Vorurteilsbarometer aus. Auf meiner privaten Ressentiment-Skala stand Wuttke relativ weit oben. Es gab kaum eine Sitzung, in der einem Wuttke nicht einen Ratschlag erteilte, wie etwas zu bewerkstelligen, einzuschätzen, abzuhandeln, zu wuppen war, wie er gern sagte. Egal ob es sich um Fachliches oder Privates handelte, Wuttke wusste (auch unaufgefordert) Bescheid. Unsere gegenseitige Sympathie hielt sich in engen Grenzen, obwohl ich den offenen Konflikt mit ihm vermied. Für mich war er ein Klugscheißer, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob meine Abwertung nicht doch einem Minderwertigkeitsgefühl entsprang: ich war nicht so eloquent, nicht so taff, nicht so schlagfertig wie Wuttke. Er wusste Bescheid, ich hatte oft keine Ahnung. Er wusste, wie das Leben (auch anderer) zu optimieren war, ich wusste es nicht einmal für mich, ich lavierte mich wie ein blinder Maulwurf dilettierend durch die enge Röhre meines Lebens. Wie Wuttke mich einschätzte, wollte ich lieber gar nicht wissen.
In der Straßenbahn betrachtete ich eine Frau mit Kopftuch, die mir gegenüber saß. Das Tuch, das ihr Haar vollständig verhüllte, betonte ihre schönen, dunklen Augen. Kurz trafen sich unsere Blicke. Schnell schaute sie weg. Ein paar Stationen noch betrachtete ich ihr Gesicht, wie es sich im Fenster spiegelte. In meiner Fantasie betrat gleich darauf eine Abordnung der Moralpolizei das Abteil und unterzog mich einer Kontrolle. Für einen Moment hatte ich eine mir fremde Frau zu lange angeschaut und das Delikt Blickbelästigung ausgelöst. Die Welt war kompliziert. Ich wurde gerade noch einmal abgemahnt.
Im Internet war ich auf eine Liste von 13 Dingen gestoßen, die mental starke Menschen unbedingt vermeiden sollten. Beim Surfen im Netz ging ich immer wieder den Listen und Aufzählungen über Dinge und Sachen auf den Leim, die man entweder kennen, kosten, besuchen, kaufen, essen oder strikt vermeiden sollte. Zahlen spielten in diesen Auflistungen eine große Rolle, etwa die Zahl 111, oder aber, wie in diesem Fall, die Zahl 13. Hier schwang die Bedeutung als Unglückszahl mit. Das Netz war voll von moralischen Imperativen. Früher waren diese strengen Vorschriften von den Kirchenkanzeln verkündet worden. Heute hatte das Netz die Funktion einer moralisierenden Instanz übernommen. Jetzt posteten viele Menschen, die sich längst von den moralischen Anmaßungen der Amtskirchen verabschiedet hatten, freiwillig diese Verhaltenslisten, die das Leben in Anweisungen und Verbote schieden. Ich notierte im Kopf den Begriff Säkularkatechismus.
Von den Dingen, die jeder mental Starke unbedingt vermeiden sollte, hatte ich nichts über das Anschauen/ Anstarren/Beobachten in der Straßenbahn gelesen. Dafür gab es den Hinweis, dass man keine Zeit daran verschwenden sollte, in Selbstmitleid zu baden. Vielleicht badete ich allein durch den Vorgang, dass ich mich innerlich rechtfertigte, die fremde Frau zu lange betrachtet/angesehen/angestarrt zu haben, in Selbstmitleid, das sich als Selbstzensur tarnte.
Ein weiterer Punkt, den ein mental starker Mensch unbedingt vermeiden sollte, war, auf der Vergangenheit herumzureiten, so wörtlich. Ich überlegte, wie sich diese Anweisung auf meine Profession, die Geschichtswissenschaft, auswirken würde. Ob man sagen konnte, dass ein Historiker auf der Vergangenheit herumritt (warum war für dieses Verdikt eigentlich eine Metapher aus der vorindustriellen Zeit verwendet worden?)? Oder aber es war unausgesprochen klar, dass es sich gerade bei Historikern um eine mental schwache Gruppe handelte. Ich versuchte, mir einen redlichen Historiker vorzustellen, der nicht in der Vergangenheit herumritt. Kurz darauf stellte ich mir einen Selbsthilfegesprächskreis mental schwacher Historiker vor, bei dem die Teilnehmer (und innen!) gegenseitig an, auf und in ihren Vergangenheiten herumritten. Ich brach meinen Versuch wegen Ermüdung ab.
Kurz nachdem die Frau ausgestiegen war (ich hatte sie nach der Begegnung mit der Moralpolizei weder direkt noch gespiegelt im Fenster ein weiteres Mal betrachtet), fiel mir ein, dass ich unversehens eine Hauptrolle in dem Stück Die Fliehenden übernommen hatte. Ich war nämlich der Erstfliehende gewesen, ich hatte die kaffeetrinkende, ihre gefilterten Urlaubserinnerungen als konstruierte Erzählungen vor sich hertragende Gruppe als erster verlassen und war als Erstfliehender sogleich in das Netz meiner herbeifantasierten Tugendaufsicht geraten.
Bei der Fahrt über die Donaubrücke überlegte ich, wie ich mit der Nachricht von gestern weiter vorgehen sollte. Ich ertappte mich dabei, zu sehr in aufschiebende Fantasien zu fliehen. Ich nahm mir vor, am Abend meine Schwester Ulrike anzurufen. Gleichzeitig fehlte mir der Plan, wie ich ihr die Nachricht stecken sollte. Weißt du eigentlich, dass wir noch einen Bruder haben? Allein diesen Satz auszusprechen, kam mir nahezu unmöglich vor. Ich blickte mich um. Vielleicht saß der neue Bruder ein Stück weiter vorne in der Straßenbahn. Oder ein naher Angehöriger von ihm. Vielleicht war ich diesem Bruder in meinem Leben schon einmal begegnet, ohne es zu ahnen. Wo? In der Straßenbahn? Im Supermarkt?
Dann läutete mein Handy. Entgegen meiner Gewohnheit, in der Straßenbahn nicht zu telefonieren, hob ich ab. Am anderen Ende der Leitung war Herr Meilinger, der Veranstalter meines Vortrags vom Vortag.