Leirichs Zögern. Rudolf Habringer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Habringer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362844
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und Stoßgeräusche hatten uns aufgeschreckt, sodass wir überlegt hatten, nach oben zu gehen und nachzufragen, ob alles in Ordnung wäre. Kurz überlegten wir sogar, die Polizei zu rufen. Minutenlang saßen wir damals schweigend in der Wohnung und lauschten. Als wir keine Geräuschentwicklung mehr vernahmen, unternahmen wir damals: nichts. Und setzten unser Gespräch fort. Die Hüschs waren zufällig meine Nachbarn, ich hatte sie mir nicht ausgesucht, sie mich nicht. Einzelheiten aus ihrem Privatleben waren mir unbekannt. Ich fiel in die Kategorie passiver Nachbarn, die immer dann in den Zeitungen gescholten werden, wenn jemand wochenlang in einer Wohnung tot herumlag und niemand etwas bemerkt haben wollte.

      Ich hatte kaum eine Ahnung, wer in unserem Haus wohnte. Man kannte sich vom Sehen, vom raschen Grüßen, vielleicht von einer der seltenen Hausversammlungen. Ich wusste nichts von den anderen, ich war ahnungslos. Wir ließen einander in Ruhe und stiegen uns im Lift nicht auf die Zehen oder gingen im Stiegenhaus in angemessenem Abstand aneinander vorbei.

      In der Wohnung schaltete ich den Fernseher ein und sah in den Spätnachrichten die gewohnten Bilder von den Pressekonferenzen und kleineren Katastrophen des Tages. Ich war schon erleichtert darüber, keine Nachrichten von größeren Unglücken aufschnappen zu müssen: Der Tag war vergangen ohne weitere Zwischenfälle. Irgendwo demonstrierten in unserer Stadt Menschen, weil ein Park einer Wohnanlage zum Opfer fallen sollte. Das war der Aufreger des Tages. In meinem Kopf aber pochte der Satz, den die fremde Frau heute Abend zu mir gesagt hatte. Ich wusste, dass ich keinen Schlaf würde finden können.

      Vorher wurde ich ohnehin von eine Gelse belästigt, die in der Küche um den Lampenschirm kreiste. Ich schloss sofort alle Fenster und machte mich auf die Jagd. Ich bezeichne mich als analogen Gelsenjäger, was bedeutete, dass ich bei der Gelsenjagd weder chemische Waffen noch andere elektronisch-technischen Hilfsmittel verwendete. Seit einiger Zeit benutzte ich eine Adalbert-Stifter-Ausgabe mit dessen Erzählungen, die ich auf einem Flohmarkt günstig erworben hatte. Das Buch war vom Format her nicht zu klein, lag aber dennoch gut in der Hand und wog so viel, dass ausreichend Anpressdruck erzeugt werden konnte. In mehreren leidgeprüften Nächten hatte ich die Wirkung der Adalbert-Stifter-Werkausgabe als Anti-Gelsen-Waffe und Wurfgeschoss vor allem an die Decke erfolgreich und zufriedenstellend ausprobieren können. Der psychologische Effekt, das Ergebnis des Anwurfes, der eigentlich ja ein Aufwurf, besser noch ein Hinaufwurf war, unmittelbar feststellen zu können, war enorm und motivierend. Ein Fehlwurf konnte durch einen erneuten Wurf korrigiert werden, ein Treffer zeitigte sofort einen dunklen, matschigen Fleck an der Decke oder aber, wenn es sich um eine Gelse handelte, die sich bereits an mir vergriffen hatte, einen hellroten Blutfleck. Den Aufpralllärm, der durch den Stifter-Band erzeugt wurde, verrechnete ich als Lärmausgleichskompensation an das Ehepaar Hüsch für vergangene Polterereignisse, die Lärmbilanz zwischen den Apartments schien mir danach ausgeglichen, selbst wenn ich nachts am Keyboard übte, verwendete ich Kopfhörer.

      Dieses Jahr konnte als ausgesprochen hartnäckiges Gelsenjahr bezeichnet werden, keine Ahnung, woher mitten in der Stadt diese Horden an Stechmücken kamen, die ihre Existenz ja stehenden Gewässern oder Tümpeln und Regentonnen verdankten. Mit einem gezielten Wurf an die Decke formte sich ein neuer, dunkler Fleck aus Chitin, der die ursprüngliche Körperstruktur der Gelse noch ungefähr erahnen ließ. Ein wenig erinnerte mich der insektide (existierte dieses Wort?) Abdruck an der Decke an die gepressten Pflanzen in meinem Herbarium, das ich vor Jahrzehnten als Schüler der Unterstufe erstellt hatte. Ich lobte mich innerlich für den gelungenen Buchwurf und machte sofort einen kurzen Kontrollgang ins Schlafzimmer, um Ausschau nach weiteren Gelsen zu halten. Als ich das gekippte Fenster schloss, warf ich einen Blick über den Innenhof in die Wohnung schräg gegenüber, in der ich seit einiger Zeit regelmäßig die Bewegungen einer jungen Frau beobachtete, die keine Gardinen zuzog, weil sie das Anbringen von Vorhängen wohl uncool und überflüssig für eine Wohnung ihres Geschmacks fand: Von schräg unten sah ich in die kleine Wohnküche, in der zwar Licht brannte, sich aber im Moment nichts bewegte. Meine beiläufigen Beobachtungen hatten mittlerweile ergeben, dass die junge Frau allein wohnte und keine regelmäßigen Besuche empfing. Wieder zurück in der Küche, beschloss ich, mir noch eine Tasse entkoffeinierten Kaffees zuzubereiten. Für solche Bedürfnisse hatte ich eine Packung Instantpulver gekauft, das nur mit heißem Wasser aufzugießen war. Ansonsten bevorzugte ich Filterkaffee. Im Kühlschrank entdeckte ich, dass keine Milch mehr da war. Für den Fall hatte ich eine Plastikdose mit Kondensmilch parat. Das Öffnen der Dose hatte mir immer schon Schwierigkeiten bereitet, obwohl an ihr der Vermerk kräftig drücken, dann Lasche anheben angebracht war. Außerdem stand in Versalien das Wort PRESS auf der Lasche. Trotzdem war ich schon mehrmals beim Öffnen gescheitert und hatte dann ein spitzes Messer gebraucht, um an die Kondensmilch heranzukommen. Bei dieser nicht ganz ungefährlichen Operation fiel mir mein Kollege Holger Wuttke ein, der mir im Pausenraum unseres Instituts ein YouTube-Video aus den siebziger Jahren gezeigt hatte, in dem ein Direktor einer Kondensmilchdosen-Fabrik kurz nach Einführung des Tetrapak im Fernsehen vor laufender Kamera daran gescheitert war, den Verschluss zu öffnen, und sich mit Milch vollgekleckert hatte.

      Die Dose mit der Kondensmilch hatte auf dem Küchentisch einen weißen Ring aus Milch gebildet, den ich ausführlich betrachtete. Ein Insekt, das Milchprodukten nicht abgeneigt war, würde an dieser feingezeichneten Null aus Milch wohl eine abgerundete Abendmahlzeit vorfinden. Eben aber hatte ich das einzige im Raum befindliche Insekt mittels Buchanwurf erledigt.

      Spätnachts saß ich vor dem Computer. Ich störte niemanden. Ich ging zu Bett, wenn mir danach war, ich stand auf, ohne den Betrieb der Welt zu stören.

      Ich hatte nichts weiter in der Hand als einen Namen, den ich niemals vorher gehört hatte. Weil wir den gleichen Vater haben; wenn dieser Satz stimmte, dann hatte ich soeben erfahren, dass mein Vater noch ein Kind gezeugt hatte, außer uns, seinen ehelichen Kindern. Zuerst dachte ich: noch ein Kind. Dann dachte ich: mindestens noch ein Kind und musste lachen. Die Vorstellung war so absurd wie überwältigend.

      Der Satz kreiste weiter in meinem Kopf. Der Historiker, der Rationalist in mir versuchte, die Oberhand über meine Ratlosigkeit zu gewinnen. In meinem Kopf überschnitten sich Vorstellungen von Sätzen, die ausgesprochen eine jähe Stimmungsveränderung hervorriefen: Sie haben Krebs. Sie bekommen die Stelle. Sie haben gewonnen. Sie werden entlassen. Sie sind gefeuert. Ich möchte dich heiraten. Ihr Kind ist tot. Morgen verlasse ich dich. Sätze wie Kreuzungen. Sätze, die ausgesprochen wurden und vom Moment des Aussprechens an das Leben in eine bestimmte Richtung lenkten. Nach links. Nach rechts. Hinauf. Hinunter. Sätze, die, kurz nachdem sie ausgesprochen waren, dem Leben eine Wende gaben. Ich spürte mein Herz pochen und bemerkte, dass mir der Schweiß ausbrach.

      Wie immer versuchte ich mich durch eine Denkübung aus dem Gefühlswirbel zu ziehen. Da gab es die Liste meiner eigenen Lebenssätze, die mir durch den Kopf schwirrten, eine Liste lapidar kurzer Sätze, die mein Leben gelenkt hatten:

       Max ist tot (mein kleiner Bruder, der als Säugling gestorben war). Mama ist tot. Du kommst ins Internat. Leirich, das Historische könnte Sie interessieren (ein Lehrer). Wir bedauern, Sie nicht aufnehmen zu können (am Aushang der Musikhochschule). Da kann ich leider nichts für Sie machen (ein Professor nach Abschluss meiner Dissertation, als ich einen Job suchte). Wir sollten heiraten, meinst du nicht? (Ariane) Es ist ein Mädchen (bei der Geburt unserer Tochter). Papa ist tot. Ich gehe (Ariane). Und dann: Weil wir den gleichen Vater haben.

      Ein hechelnder Durchlauf durch meine Biografie, der die skurrilen, tragischen Wendungen meines Lebens beschrieb. Jeder Satz eine Weichenstellung, eine Festlegung, jeder Satz, der mich ein Stückchen weiterschob im Dickicht meines Lebens, ein Labyrinth hindurch, in dem es nur eine Richtung gab, nämlich vorwärts, seit Jahren ruckelnd vorwärts, gefühlt abwärts, und wo irgendwo (unten? seitlich?) ein Ausgang lauerte, Exit, und ein Satz: Er ist tot. (Der sollte dann mir gelten.)

      Oder es wartete ein anderer Imperativ, wie ich ihn als Ministrant in meinem Heimatdorf besonders dramatisch in Erinnerung hatte: Auf! Es war das Kommando des Bestatters Willi Dorfner für die Träger, zwei Hölzer, auf denen der Sarg über der offenen Grube lag, wegzunehmen und den Sarg dann vorsichtig ins Grab zu senken. Das Kommando Auf! setzte die letzte kurze endgültige Bewegung eines Toten in Gang, hinunter ins Grab. Mich wunderte, dass mir plötzlich dieser schräge Bestatter einfiel, der mich wegen