Judith, unsere jüngere Schwester, würde ich benachrichtigen. Vielleicht konnten wir uns an einem der nächsten Wochenenden zu einer Wanderung irgendwo im Donautal verabreden.
Das fällt dir jetzt einfach so ein, fragte Ulrike verwundert.
Eigentlich schon, sagte ich ausweichend.
Oder hat es doch was mit einer Frau zu tun, bohrte sie nach. Sie konnte es nicht lassen. Wir vereinbarten, dass wir uns per Mail verständigen würden. Kurz darauf legte ich auf.
Ich ging unruhig in der Wohnung herum. Draußen war es stockdunkel geworden. Für heute schien es mir zu spät, ich hatte keine Lust mehr, jetzt noch Judith anzurufen, die abends selten zu Hause war. Sie lebte als Single mit einem starken Bedürfnis nach Menschen. Ihr Verschleiß an Bezugspersonen und unglücklichen Männerbekanntschaften war groß.
Ich schaltete den Fernseher ein und zappte/tappte in eine Sendung, in der in einer abgelegenen, dünn besiedelten Gegend in Deutschland besorgte Bürger vor ihren Einfamilienhäusern mit Doppelgaragen standen und freimütig vor der Kamera bekannten, dass sie sich vor Überfremdung fürchteten. Viele Bewohner von Vorpommern, glaubte ich zu wissen, hatten sich noch während und nach dem Krieg als Flüchtlinge aus Polen, Schlesien und Ostpommern im Osten Deutschlands angesiedelt. Ich wunderte mich, warum mir in diesem Moment der selten gewordene Ausdruck freimütig eingefallen war, und schaltete den Fernseher aus. Jetzt streifte mich die Vorstellung, ich kuratierte eine Ausstellung mit aus der Mode gekommenen Ausdrücken, zu denen unter anderem die Worte gnadenlos, ungnädig und freimütig gehörten. In einer eigenen Vitrine sollten Worte präsentiert werden, die Ausdruck eines freudigen Erstaunens waren, also Stimmungsaufheller. Darunter sollten ebenfalls Worte sein, die früher auf dem Land verwendet worden waren: Höllteufel! Kreuzteufel! Sapperlot! Sie waren längst von wow, cool, krass, abgefahren oder heftig abgelöst worden. In einem speziellen Giftraum sollten die Worte ausgestellt werden, die angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise durch die Medien kursierten, Vokabel des neuen Volksbewusstseins: Flüchtlingsstrom, Flut, Gutmensch, Asyl-Industrie, Welcome-Klatscher, Kulturbereicherer, Human-Neurotiker und- soweiter.
Als ich das Fenster öffnete, hörte ich das Folgetonhorn eines Rettungswagens. Mit der kühlen Abendluft kamen leider auch einige Stechmücken ins Zimmer. Ich schloss das Fenster, setzte mich ans Klavier und spielte ein paar Takte von Both Sides Now von Joni Mitchell. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Aufnahme dieser Nummer des Pianisten Fred Hersch im Netz gefunden, der aus diesem Hit der Folksongwriter-Ära eine gefinkelt harmonisierte Jazzballade im Dreivierteltakt gemacht hatte.
Später ging ich in die Küche und holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Ich stellte es auf die Anrichte und suchte nach dem Öffner. Ich sah meinen Vater vor mir, der sein Abendessen gern an der Kredenz stehend eingenommen hatte. Ich sah mich auf der Eckbank in der Wohnküche unseres Hauses sitzen, wie ich den Vater betrachtete, der jausnend an der Anrichte stand. Mit dem Alter war er langsam und bedächtig geworden, er war schnell gealtert, nicht vergleichbar mit den fitten und aktiven Senioren von heute.
Ich erinnerte mich daran, wie ich mich um ihn bemüht hatte, als ich etwa zwanzig Jahre alt gewesen war. Vater hatte sich in sich verkrochen, war einsilbig geworden. Judith gegenüber hatte er einmal angedeutet, dass er sich einsam fühlte. Wahrscheinlich hätte heute ein Arzt eine Depression diagnostiziert und ihm Stimmungsaufheller verschrieben. Ich studierte in Wien und war selten zu Hause, mein Freundeskreis bestand ausschließlich aus Studenten, daheim fehlte mir der Anschluss an Gleichaltrige. Judith lebte bei Vater daheim, sie war bereits befreundet mit einem Mann, mit dem sie später ein paar Jahre zusammenwohnte. Sie verbrachte ihre Zeit oben in ihrem Zimmer, Vater hauste in der Küche. Dennoch war sie aber am meisten von uns in unsägliche Kämpfe mit ihm verwickelt, seinen Launen, seinen gelegentlichen jähen Ausbrüchen ausgeliefert.
Wenn ich nach Hause kam, versuchte ich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich spürte, dass den Vater am Ende seines Lebens etwas bedrückte. Etwas, das man wohl die Summe seines Schicksals nennen konnte. Natürlich brachte ich seine Niedergeschlagenheit oft mit dem frühen Tod seiner Frauen in Zusammenhang. Der junge Mann, der ich war, wollte seinem Vater nahekommen. Beim Kartenspielen war er manchmal aus der Reserve zu locken. Während wir spielten, begann ich Fragen zu stellen. Über seine Jugend, über seine Erfahrungen im Krieg. Gelegentlich legte ich meinem Vater, der immer auch geschichtlich interessiert gewesen war, obwohl er keine höhere Schulbildung erhalten hatte, ein Buch auf den Tisch. So hatte er etwa die Erinnerungen von Simon Wiesenthal gelesen, ich hatte ihm, der im Krieg als Sanitäter gedient hatte, Die Prüfung von Willi Bredel, Anna Seghers’ Das siebte Kreuz und Feuchtwangers Die Geschwister Oppermann zu lesen gegeben.
Wir spielten Karten und ich stellte Fragen und versuchte, etwas aus dem Vater herauszubekommen. Ohne zu wissen, wie das ging, bemühte ich mich, seine Stimmung aufzuhellen. Einmal während der Weihnachtsferien – an der Universität war ich gerade mit der Methode der Oral History vertraut gemacht worden – schlug ich ihm vor, ihn über seine Lebensgeschichte zu befragen. Ich stellte einen Kassettenrekorder auf und bat den Vater zu einem Interview. Das erste Interview hatte vielleicht eine Dreiviertelstunde gedauert. Dann hatte es eine Unterbrechung gegeben. Wir hatten eine Fortsetzung vereinbart, zu der es nie gekommen war.
Aus nicht geklärten Gründen hatte sich die Kassette dann zu denen gesellt, mit denen ich Musik aus dem Radio, Jazzsendungen des Bayerischen Rundfunks und des ORF, aufnahm. Unglücklicherweise und unbedacht hatte ich später ausgerechnet das Interview mit dem Vater fast zur Gänze gelöscht. Geblieben waren bloß die letzten Minuten vor der Unterbrechung. An dieses verbliebene Aufnahmefragment mit meinem Vater musste ich denken, als ich durch die Wohnung ging. Irgendwo in einer Kiste, irgendwo in einem Regal, musste diese Kassette liegen, eine der wenigen Tonaufnahmen, auf der die Stimme des Vaters gespeichert war. Heute war auf den Festplatten der Welt alles aus dem Leben einer Familie tausendfach festgehalten, von der Wiege bis zur Bahre. Aus dem Leben des Vaters existierten ein paar wenige Fotos aus einem Kriegslazarett, aber keine einzige Aufnahme aus der Kindheit, und nur ein paar wenige Fotos aus der Zeit mit seinen Frauen.
Ich zog ein paar Schubläden aus den Schränken und begann plötzlich, diese Aufnahme zu suchen. Mir war damals wahrscheinlich nicht ganz klar gewesen, warum ich den Vater befragen wollte. Vielleicht wollte ich nur ein Tondokument sichern. Vielleicht trug ich eine Ahnung eines Familiengeheimnisses in mir, vielleicht hoffte ich, der Vater, der in seinen letzten Jahren traurig wirkte und sich mit Rotwein abdämpfte, würde sich mir öffnen oder ich könnte durch meine Befragung für ihn eine Tür zu dem Raum aufstoßen, in dem er sich lebendig fühlte. Ich als Sohn hatte die wahnwitzige Vorstellung gehabt, meinem Vater helfen zu können. Die Kassette fand sich nicht, in einer Lade fiel mir aber ein zusammengefalteter Packen Papier in die Hand, den ich jahrzehntelang nicht beachtet hatte.
Anlässlich seiner Pensionierung hatte der Vater sich von den Bewohnern der Gemeinde, in der er als Sekretär und also rechte Hand von zwei Bürgermeistern fast dreißig Jahre lang tätig gewesen war, mit einer persönlichen Lebensskizze verabschiedet, die er an jeden Haushalt verschickt hatte. Ich war damals gerade frisch an die Universität gekommen und hatte die Pensionierung meines Vaters nur nebenbei miterlebt und auch nicht begriffen, welche Rolle dieser Einschnitt in seinem Leben gespielt hatte. Seinen Lebenslauf hatte ich damals eher beiläufig gelesen, aber wenigstens nicht weggeworfen, sondern in irgendeine Lade gesteckt. Diese Biografie war bis zum heutigen Tag eines der wenigen Dokumente, die mich direkt an ihn erinnerten.
Nach vielen Jahren nahm ich nun Vaters Lebenserinnerungen wieder in die Hand und begann zu lesen. Seine sechzehnseitige Broschüre war gestaltet wie das Informationsblatt, das damals in der Zeit vor Computerprogrammen und Druckern regelmäßig an die Bewohner der Gemeinde ausgesandt wurde. Die Blätter waren auf Matritzen abgezogen worden. Die Abzugmaschine dazu stand in einer Ecke des Amtsraumes. Auf dem Fensterbrett im Amtsraum, mit Blick in den Garten hinter dem Gemeindeamt, war ich als Kind oft gesessen und hatte dort in Büchern geschmökert. Der Platz hinter der Abzugmaschine war für mich der ideale Ort für Lesenachmittage. Dort verschlang ich meine ersten Karl-May-Romane. Nebenbei verrichteten die Kollegen meines Vaters ihre Arbeit. Ich saß also in einem öffentlichen Amtsraum.
Der Vater richtete sich