Dann tippte ich den Namen in den Computer, der so gar nichts mit mir zu tun zu haben schien: Johann Preinfalk. Die Suche ergab sofort einen Treffer und lieferte ein Ergebnis, das mir bereits bekannt war: die Telefonnummer und die Adresse. Er lebte in der Nähe der Pfarre, wo ich meinen Vortrag gehalten hatte. Nur einen längeren Fußmarsch entfernt davon. Er hatte von dem Termin gewusst. Er war aber nicht zu meinem Vortrag erschienen.
Dann entdeckte ich eine Ergebnisliste mit dem Namen Johann Preinfalk auf der Homepage eines Sportvereins. Er führte zahlreiche Sektionen, von Fußball über Judo bis Tischtennis. Ich klickte die Sparten durch, rief zuletzt die Stockschützen auf.
Ich scrollte die Seite hinunter zu der Fotoserie einer Vereinsmeisterschaft. Kleinformatige Aufnahmen eines Asphaltplatzes waren das, zum Teil aus großer Entfernung aufgenommen, unter ihnen ein Stillleben mit vier Asphaltstöcken. Am Schluss dieser Serie dann ein paar Aufnahmen, offensichtlich aus einem Vereinslokal. Gutgelaunte Männer saßen an einem Tisch, einer der Männer hatte wie zum Scherz eine Kieferbinde um den Kopf gebunden. Das nächste Foto zeigte ein Porträt dreier älterer Herren, alle drei lachend, der Mann in der Mitte hatte seinem Sitznachbarn freundschaftlich die Arme um die Schultern gelegt. Dieser Mann sah aus wie mein Vater, ich sah meinen Vater, so wie er mit vielleicht sechzig Jahren ausgesehen hatte: sein Gesicht, sein Lachen, die Form seiner großen Ohren, eine Hakennase, seine nach hinten verlaufende fliehende Stirn. Aber die Aufnahmen stammten aus dem Jahr 2012. Damals war mein Vater bereits sechzehn Jahre tot gewesen. Ich spürte, wie sich etwas in mir gegen dieses Erkennen sträubte. Wie ich mir wünschte, einem Irrtum aufzusitzen. Aber da gab es keinen Irrtum.
Nebenbei lief im Radio das Nachtkonzert, die Schwärmerei, die mich in Bezug auf Musik oft befiel (unglaublich, in welch verschwenderischer Vielfalt die Historie Komponisten hervorgebracht hatte: Ries, Bertali, Reinecke, Braunfels, Weinberg, Herschel, Mealli, Namen, die ich noch nie gehört hatte und die doch alle Könner ihres Fachs gewesen waren!), stellte sich heute nicht ein.
Zuerst einmal wollte ich bei den Fakten bleiben. Eine unbekannte Frau hatte mir eine Telefonnummer und den Namen eines Mannes in die Hand gedrückt. Ich hatte noch nie von dem Mann gehört. Er wusste offenbar, wer ich war. Er wusste, wer sein Vater war. Hatte er behauptet. Ich hatte eben sein Foto im Internet gesehen. Auf jeden Fall sah er meinem Vater ähnlicher als ich ihm. Der Mann war sichtbar älter als ich. Warum hatte er so lange geschwiegen? Der Vater war doch lange schon tot. Welche Absicht verband sich mit der Nachricht an die Frau? Wollte er, dass diese mich informierte? Wenn ja, warum jetzt? Warum überhaupt? Konnte ich die Nachricht einfach abtun? Mich so verhalten, als ob die Frau mir den Zettel nicht in die Hand gedrückt hätte? Hatte sie mir damit etwas an den Hals geschafft, womit ich mich beschäftigen musste? Sie sind Historiker, hatte sie gesagt. Was bedeutete das? Sollte ich einen Informationskongress einberufen? Das Faktum spektakulär enthüllen? Sollte ich der Sache nachgehen, in einer Angelegenheit wühlen, die offenbar nicht meine, sondern die meines Vaters gewesen war? Hatte es etwas in seinem Leben gegeben, wovon ich vielleicht gar nichts wissen wollte? Welche Anstrengungen lauerten, wenn ich mich mit dieser Sache zu beschäftigen begann? Musste ich Zahlungen leisten? Bedeutete das womöglich, für eine Sünde des Vaters zu büßen? Oder sollte ich die Nachricht als wundersame Botschaft auffassen? Wo sollte ich anfangen? Sollte ich den Typen einfach anrufen? Sollte ich jemanden aus meinem Umfeld informieren? Meine Schwestern? Meine Ex? Meine Tochter? Margit, die Halbverflossene? Meine Kollegin Gabriele, die jüngst Ersehnte? Meinen Freund Konrad, den Psychotherapeuten? Sollte ich nach der Frau suchen, die mir den Zettel in die Hand gedrückt hatte?
Der pedantische Anteil in mir gewann allmählich die Oberhand über die schreckbesetzten Bezirke in meinem Kopf. Pedanterie – Erschrecken 1:0. Ich schrieb eine Liste.
Instinktiv schloss ich aus, als erstes Johann Preinfalk anzurufen. Dazu wusste ich zu wenig über ihn. Ich würde mich auf ihn vorbereiten müssen. Mich vielleicht mit einer Person meines Vertrauens beraten. Auf einen Zettel schrieb ich eine Reihe von Namen, spontan und ungeordnet. Margit. Gabriele. Ariane. Hanna. Ulrike. Judith. Konrad. Ich begann die Liste durchzudenken.
Margit also. Sie arbeitete als Helferin beim praktischen Arzt im vierten Stock unseres Hauses. Ich hatte sie zufällig in der Mittagspause unten im Park kennengelernt, als sie sich für eine kurze Rast auf eine Bank setzte und einen Bulgursalat aus der Plastikdose löffelte. Über ein paar Banalitäten waren wir ins Gespräch gekommen, erst als wir gemeinsam ins Haus traten, stellte sich heraus, dass sie ein Stockwerk über mir ihren Dienst versah. Die Formulierung so ergab eins das andere war in Bezug auf Margit tatsächlich zutreffend. Irgendwann einmal traf ich sie im Treppenhaus, beim Abholen eines Rezepts tauschten wir etwas verstohlen die Telefonnummern aus, wenige Tage später gingen wir miteinander essen, wo mir Margit die Geschichte ihrer Misere darlegte (sie befand sich in der Trennungsphase von ihrem Mann, einem Immobilienmakler), irgendwann einmal saßen wir spätabends in der Ecke eines Gastgartens, wo es zu ersten einvernehmlichen Annäherungen kam. Kurz darauf besuchte mich Margit dann ein paarmal in meiner Wohnung, wo die Einvernehmlichkeit an Heftigkeit zunahm. In der intensivsten Phase erreichten mich während des Tages mehrere Margitsche SMS, die ich unverzüglich beantwortete. Zum Konflikt mit ihrem Mann kamen Auseinandersetzungen mit ihren Kolleginnen (es ging um Arbeitszeiten, um Eifersucht und Konkurrenz, sie fühlte sich vor allem ungerecht behandelt). Tatsächlich war es nicht einfach, sie zu treffen. Margit achtete penibel darauf, dass nicht ruchbar wurde, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, der ausgerechnet in dem Haus wohnte, in dem sie arbeitete. Meine naive Fantasie, dass Margit in der Mittagspause nur ein Stockwerk herabzusteigen brauchte, um mich in meiner Wohnung zu besuchen, verblasste rasch, weil sie während der Dienstzeiten (und also auch in der Mittagspause) keine Lust auf eine rasche Entspannung hatte und noch weniger darauf, beim Verlassen der Wohnung von wem auch immer gesehen zu werden. In den letzten Wochen hatte die Frequenz der SMS von Margit auf dramatische Weise nachgelassen, was ich mir nicht erklären konnte. Über Monate hatte ich ihren Scheidungsprozess wohlwollend und freundschaftlich zuhörend begleitet, nun aber, da die Trennung abgeschlossen war und Margit sich freier fühlte, wie sie sagte, war meine Zuhörhilfe offenbar nicht mehr so dringend erwünscht. Kürzlich hatte sie vage angedeutet, dass sie nun ein paar Tage nicht erreichbar sei. Ich hatte es nicht gewagt, nachzufragen. Dem Impuls, einen Kontrollgang in die Praxis zu machen, um zu sehen, ob sie arbeitete oder zu eruieren, ob sie auf Urlaub gegangen war, hatte ich nicht nachgegeben.
Wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass die Margitepisode möglicherweise bereits an ihr Ende gekommen war, darüber brauchte ich mir keine Illusionen zu machen. Dennoch überlegte ich kurz, sie jetzt spätnachts in ihrer neuen Singlewohnung anzurufen und ihr von einem möglichen Familienzuwachs zu erzählen. Ich verwarf den Gedanken, ich hatte sie zuletzt kontaktiert, jetzt war sie dran. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich laufe ihr nach oder sei von ihr abhängig. Vor Kurzem noch hatte ich ihr gestanden, dass ich oft an sie dachte und sie begehrte. Du solltest wissen, dass das Verb begehren für mich zu den Vokabeln der höchsten Kategorie gehört und von mir nur ganz selten ausgesprochen wird, hatte ich zu Margit gesagt. Sie hatte darauf mit dem kleinen, gurrenden Lachen reagiert, das mich von Anfang an für sie eingenommen hatte. Jetzt aber Margit wegen dieses Preinfalk anrufen? Nein. Definitiv nicht.
Als Nächste stand meine Kollegin Gabriele auf der Liste. Unser Beziehungsstatus war im Augenblick nicht genau geklärt. Gabriele war Zeithistorikerin wie ich, sie hatte seit Jahren eine Dreiviertelanstellung an der Uni, gemeinsam hatten wir bereits mehrere Lehrveranstaltungen abgehalten. Wir trafen uns gelegentlich