Vielen Dank, sagte ich. Jetzt fiel mir ein, dass ich am Vortag ein seltsames Zucken in seiner Wange bemerkt hatte.
Weswegen ich anrufe, sagte er: Sie haben einen Knirps liegen lassen. Sie können sich den jederzeit bei uns abholen. Wir haben ihn in der Sakristei verwahrt. Für den Fall, dass niemand da sei: Vielleicht ist ja die Reserveorganistin der Pfarre zugange, so Meilingers Ausdrucksweise. Die sitze fast jeden Tag an der Orgel.
Jetzt war ich erstaunt. Tatsächlich hatte ich einen Knirps bei mir gehabt, aber geglaubt, ich hätte ihn in meiner Tasche verstaut.
Vergisst man ja leicht, sagte Meilinger.
Kurz überlegte ich, ihm von der Frau zu erzählen, die mich gestern angesprochen hatte. Vielleicht kannte er sie. Noch während ich überlegte, hatte er auch schon wieder aufgelegt. Er sei in Eile.
Pflichtbewusst – ich wollte ja abnehmen – verzichtete ich auf den Lift und ging zu Fuß in meine Wohnung hinauf. Um mich vom anstrengenden Aufstieg abzulenken, kippte ich in das Spiel, wen und ob ich dieses Mal jemand im Stiegenhaus antreffen würde. Es wohnten Leute im Haus, denen ich monatelang nicht begegnete. Dann wieder traf ich einen Nachbarn gleich mehrere Tage hintereinander. Viele, die in den oberen Stockwerken wohnten, sah man noch seltener, sie fuhren ja Lift.
Dieses Mal begegnete ich Hüsch, der abwärts ging. Wenn ich ihn sah, musste ich nicht nur an seine Frau, sondern auch an den vor einigen Jahren verstorbenen Kabarettisten gleichen Namens denken und überlegen, ob die beiden vielleicht miteinander verwandt waren. Hüsch trug einen Namen, der zu seinem schleichenden Gang ideal passte: Er huschte regelrecht über die Stufen, gerade dass er nicht, wie wir es als Jugendliche im Internat gemacht hatten, in Pantoffeln die Treppen hinunterrutschte. Wie immer trug er einen grauen Anzug, dazu eine schmale, aus der Mode gekommene Krawatte. Er wirkte wie eine aus dem Fundus geholte Figur aus einem Bürofilm der frühen sechziger Jahre. Er trug tatsächlich eine abgewetzte Aktentasche, die vollends dem Klischee entsprach. Die Tasche hielt er ängstlich an die Brust gepresst. Es hätte nicht gepasst, dass wir uns laut grüßten, kurz trafen sich unsere Blicke.
Später ging ich in die Küche und bereitete mir ein Käsebrot zu, das ich im Stehen aß. In der Wohnung schräg gegenüber saß die Nachbarin am Küchentisch und telefonierte. Sie fuhr sich mehrmals mit der Linken durch ihren blonden Schopf. Die nackten Füße hatte sie auf den Tisch gelegt. Vom Fenster der Toilette sah ich in den Innenhof hinunter. Unten im Büro der Privatdetektei brannte Licht. Das Büro im Erdgeschoß im Haus gegenüber hatte einiges mitgemacht. Früher hatte sich dort ein Sexshop befunden, mit dem Niedergang der Videoindustrie hatte der Laden Pleite gemacht. Ein Bestattungsunternehmen hatte sich kaum ein Jahr lang gehalten, aus mir unbegreiflichen Gründen. Gestorben wurde ja nach wie vor. Anschließend war ein Privatdetektiv in den Laden eingezogen, der vor wenigen Jahren einen spektakulären Abgang geliefert hatte. Der Mann, ein auffälliger Glatzkopf, dessen Name skurrilerweise mit dem eines österreichischen Olympiasiegers im Judo ident war, war bei einer Observierung erschossen und in einem Waldstück an der tschechischen Grenze aufgefunden worden. Der Mord war bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärt worden. Ein junger Türke führte den Laden seither weiter.
Dann nahm ich mir doch die Mappe mit meinen Semestervorbereitungen vor, ein Vorgang, der mich beruhigte. Ich hatte die Proseminare sorgfältig erarbeitet. Es würde mir leicht fallen, sie routiniert abzurufen.
Draußen war es bereits ganz dunkel geworden. Die junge Frau in der Wohnung gegenüber hatte das Licht in der Küche abgedreht, aus einem anderen Raum fiel ein schmaler Streifen Licht, den ich an der Decke wahrnehmen konnte.
Später rief ich Ulrike an, meine ältere Schwester, die seit über zwanzig Jahren in Passau lebte und dort an einem Gymnasium unterrichtete. Manchmal telefonierten wir wöchentlich (als es mit Ariane und mir abwärts ging), dann gab es wieder Zeiten, in denen wir monatelang nichts voneinander hörten.
Sie klang verwundert, als sie abhob. Hast du kurz Zeit, fragte ich.
Aus irgendeinem Grund verschlug es mir plötzlich die Stimme: einerseits wortwörtlich, denn ich musste mich plötzlich räuspern, andererseits im übertragenen Sinn. Kaum hatte sie gesagt, dass sie Zeit zum Reden hätte, wusste ich, dass ich ihr noch nicht berichten konnte, was mich seit gestern beschäftigte. Ich entschied mich blitzartig für höfliches Plaudern. Mir erschien alles noch zu diffus, zu unklar. Ich wollte erst mehr Informationen haben. Mehr über den Vater erfahren, mehr über den Bruder. Mit so einer Bombenmeldung wollte ich Ulrike nicht am Telefon kommen. Ich wollte sie nicht belasten. Ich würde ihr erst von der Geschichte erzählen, wenn ich mir selbst ein Bild über den Bruder gemacht hatte.
Wie geht’s dir, sagte ich.
Geht so, sagte sie. Das Schuljahr läuft. Sie haben mir wieder mehr Musikstunden draufgedrückt, sagte sie. Bring du mal Dreizehnjährige zum Singen. Sie lümmeln herum, starren dich an oder bearbeiten ihr Handy. Aber als Sozialarbeiterin werde ich nicht bezahlt, sagte sie.
Und Kurt, fragte ich. Kurt war Beamter im Rathaus. Dort war er in der Verrechnung tätig. Irgendwie hatten wir es über die Jahre nicht geschafft, miteinander in Kontakt zu kommen. Wenn wir einander trafen, redete ich ihn auf das letzte Hochwasser an (ein letztes Hochwasser hatte sich in Passau immer ereignet), er wiederum stichelte in Sachen Fußball. Er als Bayernfan tat sich leicht, für ihn gehörte ich zu den Ösis, die seit ewig nicht mehr gegen die Deutschen gewonnen hatten. Und unser städtischer Fußball lag seit Jahren darnieder. Die Mannschaft war sogar in die dritte Liga abgestiegen und hatte gerade erst wieder den Aufstieg in die zweite Liga geschafft.
Ulrike rapportierte kurz, dass Kurt am Knie operiert worden wäre, aber sich schon wieder aufs Rad geschwungen hätte, und schwenkte dann auf ihre Kinder um. Ich hatte die zwei, beide etwas älter als Hanna, völlig aus den Augen verloren. Der Sohn studierte offenbar in Berlin und die Tochter war dabei, trotz Baby ihr Soziologiestudium abzuschließen.
Ulrike erzählte und lachte ein bisschen, ihrem dunklen Alt hörte ich gern zu. Jedes Mal fiel mir auf, wie sich ihr Akzent dem Bairischen mehr und mehr annäherte, obwohl auch sie, die so lange schon in Passau lebte, dort noch immer als die Österreicherin wahrgenommen wurde. An ihrer Schule galt sie als Expertin für österreichische Literatur. Gemeinsam mit einem Kollegen führte sie auch den Theaterkurs. Einmal hatte sie sogar Nestroys Die schlimmen Buben in der Schule aufgeführt: Die Bayern packen’s halt nicht ganz, das Wienerische, hatte ihr Kommentar damals gelautet.
Und was ist mit dir, fragte Ulrike dann.
Das Semester beginnt, du kennst das ja, sagte ich ausweichend.
Dann kam auch schon ihre peinigende Frage: Und wie geht’s dir mit den Frauen? Das schien Ulrike immer am meisten zu interessieren. Eine Frage, die mir umso unangenehmer wurde, je länger die Scheidung zurücklag.
Die Organisation unseres Alltags, das Gefühl, dass keiner mehr zu dem kam, was ihn ausmachte, hatte die Beziehung zu Ariane zermürbt. In diesem Gezerre um Zeit hatte ich, so sah ich es, den Kürzeren gegen meine taffe Frau gezogen. Jahrelang konnte ich veröffentlichten Studien entnehmen, dass Frauen weniger als ihre Männer verdienten, sich mehr um ihre Familien kümmerten, dass die Gesellschaft männlich dominiert war und so weiter. Statistisch gesehen hatte ich gegen diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nichts vorzubringen. Mich ärgerte nur, dass ich laut diesen Statistiken so gut wie nicht existierte. Ökonomisch war bei uns nämlich das Gegenteil der Fall. Ariane hatte immer eine volle Anstellung gehabt, ich hatte mit meinen paar Stunden Lehrauftrag gerade einmal die Grundlage für meine Sozialversicherung geschafft gehabt, mich ansonsten aber auf jahrelanges Jobben auf Werkvertragsbasis eingelassen: eine Sackgasse, wie ich leider zu spät bemerkte. Ich werkte da an einem Beitrag für einen Ausstellungskatalog, arbeitete dort an einer Recherche für eine Ausstellung oder zeitlich begrenzt an einem Forschungsprojekt eines zeitgeschichtlichen Institutes. Gemeinsam war diesen Tätigkeiten, dass sie alle schlecht bezahlt waren. Am Ende dieser Einbahn winkte die Mindestrente.
Aber ich wollte schon lange nicht mehr auf diese Phase meines Lebens angesprochen werden. Und auch nicht auf meinen anhaltenden Status als Single.
Ich merkte, dass ich Ulrike gar nicht mehr richtig zuhörte. Vielleicht sollte ich auch etwas sagen. Wie