Leirichs Zögern. Rudolf Habringer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Habringer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362844
Скачать книгу
zu widmen.

      Der Vater hatte seine Aufzeichnung in mehrere kleine Unterkapitel unterteilt, von denen das erste mit Die Kinderzeit! überschrieben war. Manche Details seines Lebens waren auch mir neu, oder ich hatte sie vergessen oder nicht beachtet, weil sie mir unbedeutend erschienen waren.

      Mein Vater war als neuntes Kind einer armen Kleinhäuslerfamilie, so wörtlich, am 5. Jänner 1920 geboren worden. Augenblicklich begann ich mich meiner Onkel und Tanten väterlicherseits zu erinnern, ich kam einschließlich meines Vaters auf sieben Kinder, die ich gekannt hatte und von denen heute niemand mehr am Leben war. Zwei Geschwister meines Vaters mussten also als Kleinkinder oder als Kinder sehr früh gestorben sein, der Vater erwähnte sie in seiner Skizze nicht einmal. Auf nicht mehr als einer halben Textseite beschrieb er seine ersten Lebensjahre, deutete die politische Situation der Nachkriegsjahre an – die Monarchie war aufgelöst, 1920 trat eine totale Geldentwertung ein, die Gemeinden zwang, Notgeld zu drucken. Der Vater summierte: In dieser schweren und harten Zeit wuchs ich auf und kannte nichts als ein hartes, karges Leben.

      Ein einziges seiner Geschwister erwähnte der Vater in diesem ersten Kapitel nach einem Hinweis, dass es damals noch keine gesunde Kinderernährung gab und viele Kinder früh an Krankheiten starben. Es war der Satz, an dem ich hängen blieb: Es ergab sich, dass ich und mein älterer Bruder diese Zeit überdauerten.

      Und dann, ein paar Zeilen später die Anmerkung: Uns beiden Brüdern wurde das Los zuteil, dass wir schon vor der Schulpflicht zu Bauern in der Nachbarschaft Viehhüten und Ochsenweisen gehen mussten.

      Formulierungen waren das, die völlig aus der Zeit gefallen anmuteten. Der Historiker in mir versuchte, den Text analytisch zu verstehen. In einer Zeit, in der die Autonomie des Subjekts und die Wahlfreiheit des Individuums betont wurde, in der wir selbstverständlich von der freien Wahl von Partnern, Beruf, Wohnort ausgingen, in der einem jungen Menschen von heute mindestens der ganze Schengenraum offen stand, in einer Zeit, in der viel von Ich-AGs die Rede und eine ständige Selbstoptimierung in den Medien angesagt war, hörten sich die Sätze des Vaters, vor gut fünfunddreißig Jahren geschrieben, seltsam an. Da resümierte ein Mensch, der vor beinahe hundert Jahren geboren worden war, die Tatsache seiner Geburt und Existenz mit einer lapidaren Wortwahl, die mich an die biblische Weihnachtsgeschichte denken ließ: Es ergab sich, dass ich und mein älterer Bruder diese Zeit überdauerten. Nicht erlebten. Nicht überlebten. Überdauerten. Wie bewusst hatte der Vater damals diese Formulierung gewählt und was verbarg sich für ihn dahinter? (Zeitlebens hatte der Vater Texte verfasst, berufsbedingt, Amtsschreiben, Protokolle, Niederschriften, aber auch aus Neigung, Gedichte, literarische Gebrauchstexte, Sketche, und über Jahrzehnte auch Berichte über das lokale Geschehen für mehrere regionale Zeitungen.) Wie überdauerte man eine Zeit, die die Kindheit war?

      Wie viel Unfreiheit steckte in dieser Formulierung, wie viel Gefühl von in die Welt geworfen sein aus Zufall? Glück? Schicksal? Fügung?

      Wenige Zeilen später dann der Hinweis, dass ihm das Los zuteil wurde.

      Zum Leben wurde man eingeteilt, schon als Kind. Als noch nicht schulpflichtiges Kind zur Arbeit verpflichtet. Keine behütete Kindheit. Keine Wahlfreiheit. Nichts anderes gekannt. Das Leben, ein Los. Dieses Los wurde einem zugeteilt.

      Ich mochte nicht an eine zufällige Formulierung glauben. In Sätzen steckt Obrigkeit, heißt es in einem Buch von Handke. Die Obrigkeiten dieses Lebens in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren eine autoritäre Gesellschaft, ein strenger Vater, die Enge einer dörflichen Gemeinschaft und die rigiden Vorschriften der Kirche.

      Beim Lesen seiner Zeilen hatte ich das Gefühl, diesem Kind nahe zu kommen, das mein Vater vor fast hundert Jahren gewesen war. Hanna fiel mir ein, die, vielleicht war sie fünf Jahre alt gewesen, einmal um mich herumgestrichen war und mich dann aus ihren blauen Augen groß angeschaut hatte: Papa, es ist eigentlich komisch, dass es uns gibt. Ich war Zeuge eines ersten philosophischen Anfalls geworden, bei dem Hanna, die unter ganz anderen Bedingungen als ihr Großvater aufgewachsen war, über ihr Leben, über die Realität ihrer puren Existenz nachgedacht hatte.

      Ihr, die ihren Opa nur vom Hörensagen kannte, hatte ich damals die Geschichte seiner Errettung durch einen Kameraden im Krieg erzählt, die für mich und meine Geschwister immer eine Ursprungsgeschichte unserer Familie gewesen war. Am 22. Juni 1941, gleich am ersten Tag des Russlandfeldzuges, war unser Vater schwer verwundet worden. Ein Unterarzt, der ihn notdürftig erstversorgt hatte, starb wenig später neben ihm im Schützengraben. Nach einer kurzen Bewusstlosigkeit, war der Vater wieder aufgewacht. Er hatte bereits russische Infanteristen über einen Wiesenhang laufen gesehen, sich aber wegen seiner schweren Verwundung nicht bewegen können. Auch der Satz stand in seinem Lebensbericht: Wie durch ein Wunder wurde ich gerettet. Ein Kompaniesanitäter aus Freistadt, den mein Vater von der Sanitätsausbildung her kannte, entdeckte den Verwundeten und organisierte den Abtransport. Der Vater wurde in eine Zeltplane eingepackt, an ein Geschützrohr gehängt und aus dem Gefahrengebiet herausgebracht. Die Episode gehörte für uns Kinder zu den wenigen Kriegserinnerungen, die er uns öfter erzählt hatte. Der Freistädter Gendarm war dabei vom Vater immer als sein Lebensretter tituliert worden. Ich glaube, dass der Vater nach dem Krieg viele Jahre Kontakt zu dem Mann pflegte, der in Freistadt bis zu seiner Pensionierung bei der Gendarmerie beschäftigt gewesen war.

      Auch für Hanna erzählte ich die Geschichte mit einer Frage am Ende: Was wäre geschehen, wenn dein Großvater, also mein Vater, damals nicht gerettet worden wäre?

      Mein Vater hatte die harten Jahre seiner Kindheit überdauert und den Krieg überlebt. Nur deshalb konnte ich Jahre später vor seiner Skizze sitzen, um sie zu lesen.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.

/9j/4AAQSkZJRgABAQEBLAEsAAD/4QAiRXhpZgAATU0AKgAAAAgAAQESAAMAAAABAAEAAAAAAAD/ 7QAsUGhvdG9zaG9wIDMuMAA4QklNA+0AAAAAABABLAAAAAEAAQEsAAAAAQAB/+IMWElDQ19QUk9G SUxFAAEBAAAMSExpbm8CEAAAbW50clJHQiBYWVogB84AAgAJAAYAMQAAYWNzcE1TRlQAAAAASUVD IHNSR0IAAAAAAAAAAAAAAAAAAPbWAAEAAAAA0y1IUCAgAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAARY3BydAAAAVAAAAAzZGVzYwAAAYQAAABsd3RwdAAAAfAA AAAUYmtwdAAAAgQAAAAUclhZWgAAAhgAAAAUZ1hZWgAAAiwAAAAUYlhZWgAAAkAAAAAUZG1uZAAA AlQAAABwZG1kZAAAAsQAAACIdnVlZAAAA0wAAACGdmlldwAAA9QAAAAkbHVtaQAAA/gAAAAUbWVh cwAABAwAAAAkdGVjaAAABDAAAAAMclRSQwAABDwAAAgMZ1RSQwAABDwAAAgMYlRSQwAABDwAAAgM dGV4dAAAAABDb3B5cmlnaHQgKGMpIDE5OTggSGV3bGV0dC1QYWNrYXJkIENvbXBhbnkAAGRlc2MA AAAAAAAAEnNSR0IgSUVDNjE5NjYtMi4xAAAAAAAAAAAAAAASc1JHQiBJRUM2MTk2Ni0yLjEAAAAA AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAFhZWiAAAAAAAADz UQABAAAAARbMWFlaIAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAABYWVogAAAAAAAAb6IAADj1AAADkFhZWiAAAAAA AABimQAAt4UAABjaWFlaIAAAAAAAACSgAAAPhAAAts9kZXNjAAAAAAAAABZJRUMgaHR0cDovL3d3 dy5pZWMuY2gAAAAAAAAAAAAAABZJRUMgaHR0cDovL3d3dy5pZWMuY2gAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAZGVzYwAAAAAAAAAuSUVDIDYxOTY2LTIuMSBE ZWZhdWx0IFJHQiBjb2xvdXIgc3BhY2UgLSBzUkdCAAAAAAAAAAAAAAAuSUVDIDYxOTY2LTIuMSBE ZWZhdWx0IFJHQiBjb2xvdXIgc3BhY2UgLSBzUkdCAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAGRlc2MA AAAAAAAALFJlZmVyZW5jZSBWaWV3aW5nIENvbmRpdGlvbiBpbiBJRUM2MTk2Ni0yLjEAAAAAAAAA AAAAACxSZWZlcmVuY2UgVmlld2luZyBDb25kaXRpb24gaW4gSUVDNjE5NjYtMi4xAAAAAAAAAAAA AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAB2aWV3AAAAA