Leirichs Zögern. Rudolf Habringer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Habringer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362844
Скачать книгу
hatte ich sie nicht bemerkt. Unvermutet sprach sie mich an.

      Sie redete sehr leise und nuschelte, möglicherweise nannte sie mir auch ihren Namen, ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, zu nicken, wenn jemand mit mir redete, eine Reihe von Hörtests hatte ich ohnehin schon hinter mir. Ich verstand die Frau erst, als sie sich dafür entschuldigte, mich angesprochen zu haben. Möglicherweise sagte sie auch, sie habe noch ein kleines Anliegen vorzubringen, oder sie formulierte sogar scherzhaft, dass sie einen kleinen Anschlag auf mich verüben wolle. Wie so oft stellte sich bei mir das Gefühl der verwirrenden Gleichzeitigkeit mehrerer Sinneswahrnehmungen ein. Einerseits merkte ich, wie klein die Frau war – ich überragte sie um mehr als einen Kopf, obwohl ich nicht besonders groß bin –, andererseits spürte ich in dem Moment, dass ich hungrig war. Ab und zu kam es vor, dass mich nach einer Veranstaltung der Organisator zu einem Imbiss oder auf ein Glas Wein einlud, hier in dieser abgelegenen Wohngegend war offenbar kein Gasthaus mit Küche in der Nähe. Ich war jedenfalls zu nichts eingeladen worden. Außerdem wurde mir schlagartig klar, dass sich nicht nur der Nebel wie Schweiß auf meine Haut setzte, sondern dass ich tatsächlich durch den Vortrag ins Schwitzen gekommen war. Hoffentlich hatte ich nicht nach Schweiß gerochen, als ich noch ohne Mantel im Saal gestanden war.

      Ich wollte Ihnen nur von einem seltsamen Erlebnis berichten, sagte sie, das Sie wahrscheinlich interessieren wird.

      Ah ja, sagte ich.

      Sie lebe allein in einem kleinen Häuschen in der Nähe und habe wie jedes Jahr kürzlich ihren Keller gründlich gereinigt und unnütze Dinge, die sich dort im Lauf der Zeit angesammelt hätten, aussortiert, sagte die Frau. Ein Bekannter habe ihr geholfen, die Sachen in sein Auto zu verfrachten, um sie abzutransportieren. Vorher habe sie mit dem Mann Kaffee getrunken und sich mit ihm unterhalten. Und, vielleicht werden Sie jetzt lachen, sagte die kleine Frau zu mir, ich erwähnte meinem Bekannten gegenüber auch, dass ich heute Abend zu Ihrem Vortrag gehe.

      Ich stand da und hörte zu. Aha, sagte ich und nickte.

      Und dann erwähne ich ihm gegenüber auch noch, wer der Referent ist und nenne Ihren Namen, sagte die kleine Frau und wich ein bisschen zurück. In dem Moment sagt mein Bekannter: Ja, den kenne ich. Sage ich: Wieso kennst du den? Sagt er: Weil wir den gleichen Vater haben. Aber wir haben nichts miteinander zu tun. Er weiß gar nichts von mir.

      Weil wir den gleichen Vater haben, wiederholte die Frau und lachte leise. Ich habe mir gedacht, vielleicht interessiert Sie das. Sie sind doch Historiker. Mehr habe ich ihm nicht entlocken können, sagte die Frau. Sachen gibt es, sagte sie. Ich habe mir gedacht, ich schreibe Ihnen seinen Namen auf. Sie drückte mir einen Zettel in die Hand. Die Telefonnummer steht auch dabei. Aber jetzt muss ich gehen, Sie haben wahrscheinlich auch noch zu tun. Sie stieg aufs Rad und fuhr davon. Eben hatte es leicht zu nieseln begonnen. Ich stand verblüfft da und sah ihr nach. Ich war im Moment so erstaunt, dass ich nicht weiter reagierte und auch keinen Versuch unternahm, die Frau aufzuhalten oder ihr etwas nachzurufen. Nach wenigen Metern bog sie um eine Ecke und war in der Nacht verschwunden.

      Wenig später saß ich in der Straßenbahn Richtung Stadtzentrum. Zwei Jugendliche mit Skateboards waren mit mir eingestiegen, beide trugen ihre Kappen verkehrt auf dem Kopf. Sie setzten sich mir gegenüber. Einer der beiden holte sein Handy aus der Tasche und wischte darauf herum, um seinem Freund etwas zu zeigen. Dann lachten beide meckernd auf. Fett, Oider, sagte der Kleinere der beiden schließlich, was ein neuerliches Meckern auslöste. Dann kam der Moment, wo sie bemerkten, dass ich sie beobachtete. Gleich darauf kicherten sie wieder los, jetzt hatte ich Mühe, ihr Gelächter nicht auf mich zu beziehen. Sie musterten mich, so wie ich sie eben gemustert hatte. Ich wandte den Blick ab und betrachtete mein Spiegelbild im Fenster. Zwei Stationen später stiegen die beiden aus. In der Hand hielt ich noch immer dieses kleine Stück Papier, das mir die Frau in die Hand gedrückt hatte. Ich betrachtete die Buchstaben einer zarten Frauenschrift, die einen Namen und Ziffern auf den Zettel geschrieben hatte: Johann Preinfalk. Mir war kein Mensch dieses Namens bekannt.

      Ich war konsterniert. Wie sediert saß ich da. Ich fühlte mich behelligt. Unsittlich betastet. Mit einem fremden Satz traktiert, ausgesprochen von einer mir unbekannten Radfahrerin. Der Satz Weil wir den gleichen Vater haben hüpfte in meinem Kopf wie die Nadel eines Plattenspielers, wenn sie wegen eines Kratzers auf der Scheibe hängen bleibt. Ich habe zwei Schwestern, eine ältere und eine jüngere. Für alle drei von uns stimmte die Aussage: Wir hatten alle den gleichen Vater.

      Aber es gab bis zum heutigen Tag keinen männlichen Menschen außer mir, der diesen Satz sagen hätte können. Die Ungeheuerlichkeit, die diese Behauptung beinhaltete, brachte mich völlig durcheinander.

      Der weitere Abend zerfiel in drei Teile: in die Nachhausefahrt mit der Straßenbahn (Grübelphase, Infragestellung); in die Ankunft in der Innenstadt (nächtliche, ungesunde Halbsättigung an der Wurstbude am Schillerplatz) und das Eintreffen in meiner Wohnung (Unruhe, Schlaflosigkeit).

      Von meinen Studenten war ich es gewohnt, die ungewöhnlichsten Sätze zu vernehmen, meistens ausgefallene Ausreden, warum eine Arbeit nicht fristgerecht fertig geworden war oder eine Prüfung verschoben werden musste. Da starben ununterbrochen Großmütter und entfernte Verwandte, da mussten Haustiere urplötzlich und unerwartet zum Tierarzt gebracht werden (Durchfall, verschluckte Gegenstände), da traten Unpässlichkeiten oder unerklärliche körperliche Beschwerden auf (rasende Kopfschmerzen, Migräne, Eileiter- und Prostataentzündungen, Kopf- kombiniert mit Regelschmerzen), da traten Unfälle und Lebenskatastrophen ans Licht und ins Leben, die es Menschen verunmöglichten, Termine einzuhalten. Nichterscheinen wurde mir meist per E-Mail mitgeteilt, manchmal durch eine telefonische Mitteilung der Institutssekretärin, sehr selten auch per handgeschriebenem Zettel, der an meinem Postfach im Institut hing: Bin beim Augenarzt wegen plötzlichem Erblinden etc.

      Auch von meinen Beinahefreundinnen, Kurzzeitfreundinnen, Exfreundinnen und Freundinnen in spe und in nuce hatte sich im Laufe der letzten Jahre eine Liste von Unpässlichkeiten angesammelt, die vorab vereinbarte oder beabsichtigte oder sich eventuell zufällig ergebende sexuelle Handlungen im letzten Moment stoppten: die Monatsregel, Kopfschmerzen, der Besuch einer Mutter, eines Verwandten, eines Zeugen Jehovas, die Vortäuschung eines Verkehrsunfalls, eine versehentlich eingenommene zu hohe Dosis eines Medikaments (vornehmlich Schlafmittel), der Tod eines Haustieres (Wellensittich), ein Wasserrohrbruch, der Einbruch in eine Wohnung, ein Hochwasser, ein Stromausfall, ein Taxifahrerstreik, ein Scheidenkrampf, eine Ischiasnervreizung etcetera.

      Der Vorrat auf mich einprasselnder Sätze, die die Lebensfreude augenblicklich beeinträchtigten und knickten, war also lang. Aber ein Satz der Gattung Weil wir den gleichen Vater haben, ausgesprochen von einer Unbekannten, hatte sich in über fünfundfünfzig langen Lebensjahren bisher noch nicht eingestellt. Plötzlich war mein Vater im Spiel. Über ihn nachzudenken hatte ich an diesem Abend nicht wirklich vorgehabt. Mein Vater war zweimal verheiratet und zweimal verwitwet gewesen, hatte drei Kinder gezeugt, soweit mir bekannt war, und dann den Rest seines Lebens alleinerziehend verbracht. Vor mehr als zwanzig Jahren war er verstorben. Möglicherweise hatte die Frau sich wichtigmachen wollen, möglicherweise lag auch eine Pathologie vor. Gelegentlich war ich in der Straßenbahn schon von offenbar Schizophrenen oder Psychopathen angesprochen worden, Menschen, deren Selbstgespräche unvermittelt auf einen Fremden, in dem Fall auf mich, übersprangen.

      Dann also der Besuch der Imbissbude am Schillerplatz. Damit brach ich mein Vorhaben, so spät am Abend nichts mehr zu essen. Der Vorfall mit der Frau hatte meine innere Festigkeit ins Wanken gebracht und meinen Vorsatz, Gewicht zu verringern, im Nu pulverisiert.

      Die Mahlzeit am Würstelstand (eine Bosna, Weißbrot, gefüllt mit einem currygewürzten Paar Schweinsbratwürstchen) war nichts anderes als ein Rehabilitationsunternehmen zum erlittenen Unbill des Tages: Zur Feier der inneren Versöhnung trank ich auch noch eisgekühltes Bier aus der Flasche. Beim Verzehr der Bosna dachte ich darüber nach, wann ich das letzte Mal das Wort Unbill verwendet hatte und ob es einen Plural dafür gab (ein solcher wäre für diesen Tagesausklang angemessen gewesen): Unbille?

      Als ich ins Haus trat, kam mir die Nachbarin, Frau Hüsch, entgegen, die Leute wohnten ein Stockwerk über mir, wir grüßten uns beinahe tonlos. Mir fiel ein, dass wir vor Jahren, als mich mein Freund, Maturakollege und jetzt Psychotherapeut Konrad