Leirichs Zögern. Rudolf Habringer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Habringer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362844
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Sie liebte Jazz wie ich, vor allem vokalen. Und meistens hatte ich mit ihr auch etwas zu lachen.

      Sie war schlagfertig, ein wenig frech, wirkte fast immer fröhlich und gehörte zu den Menschen, deren Nähe ich mir heimlich wünschte. Außerdem war sie hübsch, allerdings verheiratet. Sie war einige Jahre jünger als ich. Daher hatte ich nie daran geglaubt, dass aus unserem freundschaftlichen Verhältnis einmal mehr werden würde. Seit einem gemeinsamen Erlebnis, das uns zwei Monate vorher beim Institutsausflug ungeplant und unvermutet nähergebracht hatte, hatte ich Gabriele auf meiner kleinen, ungeschriebenen Zukunftsliste als Hoffnungsprojekt verzeichnet. Der Ausflug hatte in die Wachau inklusive einer Nächtigung in einem Hotel in Spitz an der Donau stattgefunden. Nach dem Abendessen in einem Heurigenlokal war unsere kleine Gruppe zu Fuß ins Hotel zurückgekehrt. Die meisten von uns waren etwas alkoholisiert und suchten sofort das Bett auf. Der Abend war warm, der Himmel klar. Gabriele hatte spontan vorgeschlagen, noch kurz zur Donau hinunterzugehen, ich war ihr gefolgt. Auf einer Bank ließen wir uns nieder, schauten in den Sternenhimmel und wurden uns über die mangelhafte Qualität eines sogenannten Bratlgeigers einig, der uns beim Abendessen mit seinem Spiel zwangsbeglückt hatte. Zuerst streifte ich zufällig Gabrieles Handrücken, später ihren nackten Unterarm. Kurz darauf lehnte sie sich an mich, bald darauf küssten wir uns. Im Nachhinein stellte sich diese Annäherung als stringente und den Ereignissen des Abends folgerichtige dar. Ich war leicht angeduselt, hatte wohl auch für einen Moment einen Zustand der schwebenden Wahrnehmung erlebt und erinnere mich an einen Seufzer des Wohllauts, der aus Gabrieles Körper drang, als wir uns küssten. Beide hatten wir unsere Brillen beim Kussvorgang anbehalten. Die Zartheit des unvermuteten Kusses war dann wohl in einen kurzen Anfall haptiler Gier meinerseits übergegangen, den Gabriele offenbar zu genießen schien. Von diesem Abend an teilten wir also eine kleine erotische Erfahrung, die bisher glücklicherweise weder Klammerversuche noch weitere Begehrlichkeiten ausgelöst hatte: Seit dem nächtlichen Vorfall in dem bekannten Weinort in der Wachau hatten wir uns kein einziges Mal gesehen, im Sommer lediglich ein paarmal miteinander telefoniert. Aber wir teilten nun ein kleines Geheimnis, das den anderen hoffentlich verborgen geblieben war. Möglicherweise waren seit dem Wachau-Ausflug die Chancen gestiegen, dass sich mein Verhältnis zu Gabriele über das Stadium freundlicher Sympathie hinaus entwickeln würde.

      Die Sehnsucht, jetzt mit ihr zu telefonieren und ihr von dem Vorkommnis zu erzählen (sie beschäftigte sich mit Biografieforschung, vielleicht interessierte sie mein Erlebnis auch als Wissenschaftlerin), überfiel mich unvermittelt und mit leisem Verlangen.

      Ich drückte Gabrieles Nummer, die in meinem Handy eingespeichert war, und war enttäuscht, als ich nur ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter vernahm. Leicht verstimmt legte ich auf, der Wunsch, Gabriele mitten in der Nacht erreichen zu wollen, war verwegen gewesen. Vielleicht war sie irgendwo unterwegs, vielleicht schlief sie schon.

      Ariane stand als Nächste auf der Liste. Ich wusste aber sofort, dass es illusorisch war, mich an sie zu wenden. Dazu waren wir schon zu lange getrennt. Ihr hatte ich früher immer alles als Erste erzählt und dargelegt. Zu Arianes Stärken gehörte es zweifellos, dass sie sich – im krassen Gegensatz zu mir – sagenhaft gut abgrenzen konnte. Dinge, die sie nicht interessierten oder die sie instinktiv ablehnte, schüttelte sie ab wie ein Hund, der gerade aus dem kalten Wasser kam, und in einer Geschwindigkeit, die manchmal das Ende meiner Erzählung überrundete. Ich begann zu erzählen und sie rollte mit den Augen und ich war informiert und ruhiggestellt oder es kam zum lauten Streit. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der so schnell zu einem Urteil über eine Sache oder eine Person gekommen war wie sie. Wenn ich gut gelaunt war und bei Kräften, konnte ich diese Blitzurteile, die leider oft auch negativ (aus meiner Sicht) ausfielen, mit einem Scherz abfedern, indem ich sagte, die Rakete spricht, oder jetzt hast du wieder den Turbo gezündet oder ähnlich Albernes, womit ich auf die europäische Trägerrakete gleichen Namens anspielte, ein Scherz, der meistens das Gespräch sofort vergiftete. Möglicherweise hatte ich das Prinzip, Schlimmes oder Unangenehmes zu antizipieren, im Lauf der Jahre auch auf Arianes Gesprächsverhalten angewendet und mein Mitteilungsbedürfnis nach und nach gedrosselt. Eigenartig, dass sie mir dennoch eingefallen war. Früher hätte sie mir zugehört, aus dem Bauch heraus geurteilt und vielleicht sofort gewusst, wie ich vorzugehen hatte. Wir lebten aber seit sieben Jahren getrennt, waren seit fast fünf Jahren geschieden und telefonierten nur mehr selten miteinander – eine Form der Distanz, die uns nach einer längeren Kontaktlosigkeit als praktikabelste aller Möglichkeiten erschien. Wir waren eine erkleckliche Strecke unseres Lebens parallel marschiert, irgendwann hatten sich unsere Wege getrennt, über Hanna blieben unsere Existenzen bis an unser Ende verbunden. Ariane würde ich also nicht informieren, natürlich nicht.

      Mein nächster Gedanke galt Hanna. Sie jetzt anrufen und ihr von diesem Johann Preinfalk erzählen? Der, wenn stimmte, was behauptet wurde, ihr Onkel war? Ich hörte direkt ihr helles Auflachen, das Ungläubigkeit ausdrückte. Chill deine Basis, erklärte sie mir neuerdings, wenn sie mich beruhigen wollte. Vielleicht hätte sie mich für verrückt erklärt.

      Jetzt war unsere Tochter siebenundzwanzig, lebte in Wien und führte dort ihr eigenes Leben, angeblich mit zwei Frauen in einer WG. Ich hatte die WG noch nie betreten.

      Zu oft verspürte ich das schlechte Gefühl, mich seit Längerem zu wenig um sie zu kümmern. Der Gedanke befiel mich regelmäßig und traf mich immer unvorbereitet. Ich wusste zu wenig von Hanna, wie es ihr erging, wie sie versuchte, ihre manifeste Prokrastination in den Griff zu kriegen (sie schob ihre letzte Masterprüfung seit mehr als einem Jahr vor sich her), ich mäkelte höchstens an der Tatsache herum, dass sie sich von ihren Eltern noch immer teilalimentieren ließ. Das, was sie durch das Kellnern in einem Lokal verdiente, war ihr zum Leben zu wenig und hielt sie erst recht vom Studienabschluss ab. Ab und zu jobbte sie bei einem Trendforschungsinstitut. Gab es Studien darüber, dass sich Prokrastination vererbte? Hatte ich Hanna überhaupt jemals darüber aufgeklärt, dass sie diese Aufschubstendenz möglicherweise von mir, ihrem Vater geerbt hatte? Ich rief sie regelmäßig an, machte offenbar aber irgendetwas falsch, wenn ich sie einlud. Sie schlug meine Einladungen nämlich fast immer aus, außer wenn es um Weihnachten und ein Treffen rund um meinen Geburtstag ging. Dabei wusste ich, dass wir uns sehr mochten. Unsere Zuneigung kam aber eher wortlos daher. Hatte sie mir die Trennung von Ariane jemals verziehen? Wir hatten uns darüber nie unterhalten.

      Ich war zu müde, um die Liste bis um Ende abzuarbeiten. Ich würde morgen weiter überlegen. Und vielleicht eine meiner Schwestern anrufen. Oder mit Konrad ein Treffen vereinbaren.

      Beim Zähneputzen dachte ich an meinen Vater. Als ich studiert hatte, war er schon in Rente gewesen. Alle paar Wochen war ich nach Hause gekommen und hatte mich gewohnheitsmäßig mit einem Stoß alter Zeitungen (der Vater wusste, dass er sie für mich aufbewahren musste) in mein Zimmer zurückgezogen und den ganzen Packen durchforstet. Mein Zimmer lag neben dem seinen, auch der Vater legte sich nachmittags gerne zum Ausruhen ins Bett. Durch eine einzige Mauer getrennt, hörte ich ihn husten und schnarchen. Eine Erinnerung an ihn war: dass ich mir damals als knapp Zwanzigjähriger oft bewusst gemacht hatte, dass der Vater jetzt, im Moment, lebte. Ich hörte ihn durch die Wand hindurch sich räuspern, hörte, wenn er sich schnäuzte, hörte, wenn er hustete. Seltsamerweise ging mir damals der Satz durch den Kopf: Jetzt höre ich dich. Noch. Noch lebst du. Es wird der Tag kommen, da werde ich dich nicht mehr hören. Nichts mehr von dir. Du wirst nicht mehr da sein. Ich lag dann in meinem Zimmer und war dankbar für den Augenblick. Ich nahm den Augenblick wahr, den Moment: Jetzt. Jetzt leben wir.

      Ich ging in mein Schlafzimmer und legte mich ins Bett. In der Wohnung war es ruhig. Kein Geräusch, kein Husten, kein Schnäuzen aus einem Nebenzimmer. Ich sah auf die Uhr. Es war halb zwei. Morgen musste ich früh zur Universität aufbrechen. Ich sah die Frau auf dem Fahrrad vor mir.

      Spätnachts legte ich eine Aufnahme mit der feinen Stimme von Chet Baker auf: I fall in love so easily: My heart should be well schooled’ / Cause I’ve been fooled in the past / But still I fall in love so easily / I fall in love too fast / sang Baker. War das bloß ein simpler Text oder beschrieb der Text eine simple Wahrheit?

      Lieder mit Sätzen des Inhalts über Männer, die bei Verliebtheit rasch in die Verwirrung hineindelierierten, gab es wahrscheinlich zu Tausenden. Ein Lied mit dem Satz Weil wir den gleichen Vater haben war mir unbekannt.

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