Leirichs Zögern. Rudolf Habringer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Habringer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362844
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      Morgens erwachte ich in diffuser Stimmung. Ich duschte, ich trank einen schnellen Kaffee, ich sah, dass die junge Frau in der Wohnung schräg gegenüber im Nachtgewand barfuß durch ihre Küche lief. Eine Fleischfliege krachte brummend gegen das Fenster. Mir fiel ein, dass Hanna in der frühen Pubertät versucht hatte, Fliegen mit bloßen Händen zu schnappen. Irgendwann einmal war es ihr zufällig gelungen, eine Fliege beim Abheben zwischen ihren Handflächen einzufangen. Ab da hatte sie an ihre Fähigkeit geglaubt, schnell genug zu sein, um spielend Fliegen zu erhaschen, obwohl ich ihr erklärt hatte, dass Fliegen mit ihren Facettenaugen die Bewegung unserer Hände gewissermaßen wie in Zeitlupe verfolgten und sich daher rechtzeitig aus dem Staub machen konnten. Ob meine Fliegenflugerklärung naturwissenschaftlich gesehen richtig gewesen war, wusste ich bis zum heutigen Tag nicht. Hanna hatte monatelang ihr Fliegenfangspiel fortgesetzt, bis sie begann, Wespen in Marmeladegläser zu sperren und in Gefangenschaft zu beobachten.

      Ich ließ die Fliege in Ruhe. Obwohl alles für ein Frühstück in der Wohnung vorrätig war, ging ich aus dem Haus. Ein schöner Spätsommertag hatte begonnen, in einer Bäckerei bestellte ich Kaffee und eine Buttersemmel, die ich im Stehen aß. Ich hatte die irrwitzig egomanische Vorstellung, jemand könnte mir gratulieren, so wie man einem neugebackenen Vater zu seinem Nachwuchs gratulierte. Ich war über Nacht nicht Vater geworden, wohl aber Bruder eines Bruders. Eines offenbar älteren Bruders. Beim Aufstehen hatte ich das Foto noch einmal analysiert. Da lachte mein Vater vom Bildschirm, es war verrückt. Der Erwachsene in mir begriff bald, dass die Gratulationen ausbleiben würden. Die Verkäuferinnen in der Schnellbäckerei waren freundlich wie immer, aber sie gratulierten mir natürlich nicht. Nach dem Frühstück erfasste mich eine Stimmung nervöser Planlosigkeit, in der ich nicht in die Wohnung zurückgehen wollte, obwohl es jetzt endgültig Zeit war, die Unterlagen für die Lehrveranstaltungen durchzugehen. Die Nachricht von gestern hatte mich aber in einer Weise durchgerüttelt, dass ich, so kann man sagen, ordentlich durcheinander war.

      Über die Jahre hatte ich mir ein System vorauseilender Schutzgedanken aufgebaut. Ich neigte dazu, jederzeit mit allem zu rechnen. Genauer gesagt, ich hatte Angst davor, ständig mit allem rechnen zu müssen, auch mit dem Schlimmsten. Ich malte mir aus, wie ich reagieren würde, wenn etwas sehr Schlimmes eintrat. Ich überlegte, wie ich mich am besten von vornherein so verhielt, dass das Schlimme nicht geschah. Oder, falls ich das Schlimmste nicht verhindern konnte, dass ich mich wenigstens so weit wappnete, dass ich es nicht mehr als das Schlimmste auffassen musste, weil ich ja bereits damit gerechnet hatte.

      Im Internat hatte ich mir einmal in der morgendlichen Eile mit einer erst neu angeschafften Brille am Kopf die Haare gekämmt und die Brille in einem unbedachten Augenblick mit dem Kamm vom Kopf und zu Boden gefegt, wo ein Glas zu Bruch gegangen war. Eine Brille war teuer, natürlich hatten wir keine Bruchversicherung abgeschlossen und außerdem war ich durch den Glasbruch für mindestens einen Tag schwer sehbeeinträchtigt. Noch vor dem Spiegel, die Scherben zusammenklaubend, mit Tränen der Wut in den Augen, schwor ich mir, dass dieser Fall nie mehr eintreten sollte. Ich wertete diese Anekdote weniger als Beleg für ein vermeidendes, vorausschauendes Verhalten als das einer Konditionierung. Die unbedachte Bewegung hatte zur Folge, dass ich für immer lernte, vor dem Kämmen die Brille abzulegen.

      Nicht das erste Mal, aber beinahe das erste Mal in meinem Leben, dass etwas wirklich Schlimmes geschah, war, als meine Mutter starb. Der Vorgang ihres Sterbens ereignete sich buchstäblich über Nacht. Das achtjährige Kind wusste zwar, dass die Mutter erkrankt war und am nächsten Tag ins Krankenhaus gehen sollte (die Ursache der Erkrankung war dem Kind unbekannt), daher verabschiedete ich mich von der Mutter mit einer Umarmung und einem Kuss, wie sich ein Kind von seiner Mutter abends verabschiedet. Der Unterschied zu anderen Abschieden lag offenbar in einem Satz, den die Mutter zu mir sprach und der später noch viele und verhängnisvolle Grübeleien im Kind, im Jugendlichen, im Erwachsenen auslösen würde: Du bist ja schon groß.

      Es war der letzte Satz gewesen, den die Mutter zu mir gesprochen hatte. Daraufhin war ich in mein Zimmer und ins Bett gegangen. Als ich aufwachte, war die Mutter – nach dramatischen nächtlichen Ereignissen, von denen ich nichts mitbekommen hatte – bereits tot. Einmal noch, am Nachmittag des folgenden Tages, in der Prosektur des Krankenhauses, gab ich meiner toten Mutter einen letzten Kuss auf die Wange. Es war nicht das erste Mal, dass etwas Schlimmes geschehen war im Leben des Kindes, aber dieses Schlimmste war völlig unvermutet und, wie man sagt, aus heiterem Himmel geschehen. Der Himmel hatte sich verdüstert an diesem Tag, in einer Art, mit der nicht zu rechnen gewesen war. Besser: mit der das Kind nicht gerechnet hatte.

      Mit diesem Geschehen hatte sich eine Erfahrung in das Kind eingebrannt, die für eine gesamte Lebensexistenz reichte: Es gab Dinge, mit denen zu rechnen war. Man konnte nicht vorsichtig genug sein, gegen das gewappnet zu sein, was einem zustoßen konnte. Meine Neigung, ständig mit dem Schlimmsten zu rechnen, war daher auch die Folge dieser traumatischen Erfahrung und mein Versuch, das Schlimmste vorausschauend zu bannen. Eine Art psychischer Trauma-Panzerung? Eine Trauma-Wappnung? Eine Schreckens-Prävention?

      Aber warum bedeutete das Auftauchen eines möglichen Bruders etwas Schlimmes? Hatte ich mir nicht eben noch eingebildet, jemand könne mir zum Auftauchen des bisher nicht Existenten gratulieren? Mich ärgerte, dass ich mich gedanklich wieder einmal zu einer Art Opfer stilisiert hatte, etwas, das ich unbedingt vermeiden wollte. Ein Opfer ist passiv, stumm, dumpf und bewegungseingeschränkt. Als Kind hatte ich mich nicht und niemals als Opfer gefühlt. Ich hatte die Umstände meiner Existenz so akzeptiert, wie sie waren. Ich hatte ohnehin keine Wahl gehabt. Dem Vater waren gleich zwei Mal die Frauen gestorben. Systemtechnisch hatte es sich bei uns schon damals um eine Patchworkfamilie gehandelt, ohne dass der Begriff damals gebräuchlich gewesen war: Ulrike war das Kind aus Vaters erster Ehe, ich und Judith stammten aus der zweiten. Schicksalsmäßig schien das Unglück unserer Familie in den Zusammenhang des Dorfes eingepasst. Das Vergleichen, das Hineinrutschen in schicksalsretuschierende Fantasie-Biografien, mein mich Hineinreklamieren in fremde, erfundene Lebensläufe (mein Vater war Universitätsprofessor, meine Mutter Ärztin, ich habe in Wien, Cambridge und Singapur studiert und ein Auslandsjahr in den Staaten absolviert) begann erst viel später, als der Zustand meines jederzeit kündbaren Status als Lehrbeauftragter unmerklich chronisch zu werden begann.

      Als Kind hatte ich also immer mit allem Vorstellbaren gerechnet, ausgenommen einem Krieg – der letzte war gerade einmal fünfzehn Jahre vor meiner Geburt zu Ende gegangen. Schnell begriff ich, dass das Unvorhergesehene, eine Katastrophe, ein Unglück, ein Schicksalsschlag nicht nur die eigene Familie, sondern auch andere, benachbarte treffen konnte. Da ereigneten sich tödliche Raserunfälle junger Burschen, da verstarben Kinder plötzlich im Kleinkindalter, da starb ein junges Mädchen beim Bad am Samstagnachmittag wegen einer defekten Gasleitung, während die ältere Schwester den Unfall, bewusstlos geworden, überlebte, da wurde der beliebte Pfarrer während der Silvesteransprache vom Schlag getroffen und verstarb eine Woche später.

      Alles also war denkbar. Mit vielem hatte ich in der Folge gerechnet. Dass ich nun einen Bruder hatte, konnte daher keine Katastrophe bedeuten, war aber eine überraschende Pointe, mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich war vorläufig froh, dass eine Hemmung (nicht zu wissen, wem ich die Geschichte meines neu aufgetauchten Bruders mitteilen sollte) eine andere aufhob (dass ich nämlich die Vorbereitung auf das neue Semester vor mir herschob).

      Wenig später war ich am Institut. Zu Semesterbeginn wehte mich dort eine Stimmung an, als könne alles, und also auch das eigene Berufsleben, noch einmal von vorn beginnen, als gewährten einem Herbst- und Schulbeginn eine Chance auf einen Neuanfang. Diese Hochstimmung hielt wie ein warmer Föhnsturm aber bloß ein paar Tage an und flaute dann rasch ab. Denn allen kindlichen, kindischen Erwartungen zum Trotz lief natürlich der Institutsbetrieb nach kurzer Zeit wie gewohnt und die Stimmung kippte, die notorisch gut aufgelegten Sekretärinnen ausgenommen, in einen Modus, über den ich in der Lage gewesen wäre, ein Stück zu schreiben. Einen Titel für dieses Schauspiel – eine tragische Komödie? – hatte ich mir bereits zurechtgelegt: Die Fliehenden. Wer auch immer als Lehrender ohne fixe Anstellung an der Uni zu tun hatte, der wurde schon nach wenigen Wochen Unterrichtstätigkeit von einem schwer zu zügelnden Fluchttrieb ergriffen, als würde es sich bei der Universität um eine gefährliche Zone handeln, um ein kontaminiertes Gelände, auf dem man sich eine ansteckende Krankheit einhandeln