»Ja, es ist tatsächlich ein verrückter Sommer«, antwortete Lilly gedankenverloren. Sie pflückte ein Zweiglein duftenden Jasmin und schob ihn in ihre aufgesteckten Haare. Dann winkte sie ihm noch einmal zu und ging langsam über den weichen Grasweg zum Haus zurück.
Daniel holte tief Atem und versuchte, die zauberhafte Begegnung festzuhalten; Lillys Worte und ihre Wärme, ihren Duft und den weichen Schimmer ihrer Haut, als sie ihre Hände zu seinem Gesicht gehoben hatte.
Lilly, liebste Lilly, dachte er.
Plötzlich krachte es im Gebüsch hinter ihm, und eine spöttische Männerstimme sagte: »Hattest du Spaß bei deinem kleinen Rendezvous, Bruderherz?«
Daniel fuhr herum und stand Robert gegenüber, der sich Jasminzweiglein vom Sakko zupfte. »Ich hab das süße Zeug noch nie leiden können«, knurrte er und trat die Blüten in den Staub. Dann schaute er seinen jüngeren Bruder herausfordernd an.
Dieser erwiderte gelassen den provozierenden Blick. »Ja, Lilly und ich haben uns gut unterhalten«, antwortete er ruhiger, als er sich fühlte. Daniel hatte kein schlechtes Gewissen, denn zwischen der jungen Frau und ihm war nichts Unrechtes geschehen, aber Roberts plötzliches Auftauchen ärgerte ihn. Es legte sich wie ein hässlicher Schatten über die schöne Begegnung.
»Und worüber habt ihr euch so gut unterhalten?«, stichelte Robert weiter. »Wie du es am besten anstellen kannst, dass der liebe, aufopferungsvolle Daniel das Gut bekommt? Willst du Lilly einspannen, damit sie bei mir ein gutes Wort für dich einlegt? Damit du mal wieder das bekommst, was du haben willst?«
»Schätzt du mich tatsächlich so ein?«, fragte Daniel eher traurig als wütend.
Robert zuckte abschätzig mit den Schultern. »Wieso denn nicht? Du willst ›Silberwald‹ und hast dir dafür die Geschichte vom angeblichen Gespräch mit Vater zurechtgelegt. Als du damit nicht durchgekommen bist, musstest du dir etwas Neues überlegen, und dafür kommt dir Lilly sehr gelegen. Du musst sie nur auf deine Seite ziehen. Aber ich warne dich: versuche nicht, einen Keil zwischen Lilly und mich zu treiben!«
Daniel war ein friedliebender Mensch, aber nun platzte ihm der Kragen. Er trat sehr dicht an seinen Bruder heran und schaute ihm starr in die Augen. »Behalte deine Hirngespinste für dich, Robert!«, sagte er energisch. »Deine Worte beleidigen nicht nur mich, sondern auch Lilly. Sie ist klug und eigenständig und würde sich von niemandem einspannen lassen. Anstatt ausfallend zu werden, solltest du lieber über die Nachlassregelung nachdenken.« Daniel trat jetzt einen Schritt zurück und straffte erneut die Schultern. Der Blick seiner blauen Augen war so durchdringend und kühl, wie sein älterer Bruder ihn noch nie wahrgenommen hatte. »Und damit dir das ganz klar ist, Robert: für deine eitlen geschäftlichen Pläne werde ich dir ›Silberwald‹ niemals überlassen! Gute Nacht.« Daniel machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus zurück.
»Das werden wir ja sehen«, murmelte Robert und schaute seinem Bruder aus zusammengekniffenen Augen hinterher. Er wartete, bis er ganz sicher sein konnte, Daniel nicht mehr über den Weg zu laufen, dann ging auch er ins Haus hinein.
Als er in sein Zimmer kam, bauschten sich die Vorhänge im Wind, der mittlerweile aufgekommen war. Das Licht des zunehmenden Mondes, über den Wolkenschatten fegten, erhellte das schweigende Zimmer. Lilly lag auf ihrer Seite des Bettes und schlief. Auf dem Nachttisch neben ihr stand eine flache Glasschale mit Wasser, auf dem ein Jasminzweiglein schwamm. Robert zog sich aus und ließ sich ins Bett fallen. Er rutschte zu Lilly hinüber und wollte sie an sich ziehen, aber sie murmelte im Halbschlaf: »Geh weg, du hast getrunken.« Sie drehte ihm den Rücken zu und suchte die Nähe zu den Blüten, die neben ihrem Kopf standen. Als sie den süßen Duft spürte, erschien die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen, und sie glitt tiefer in den Schlaf.
*
Daniel konnte nicht so entspannt und friedlich schlafend im Bett liegen. Die angekündigten Orkanböen hatten mittlerweile das Allgäu erreicht und tobten sich dort aus. Dieses Mal wurden sie nicht von sintflutartigen Regengüssen begleitet, aber das Unwetter war auch so heftig genug.
Begleitet von seinen treuen Hunden hatte Daniel das Haus und die Nebengebäude gesichert, im Hof der Werkstatt nach dem Rechten gesehen und mit Rautende die Sonnenschirme von der Terrasse geholt. Wieder einmal fegten abgerissene Äste und Blätter über die Rasenflächen, und von der Landstraße klangen die Sirenen der Einsatzfahrzeuge herüber.
»Was für ein seltsamer Sommer, so viele Unwetter hatten wir doch sonst nicht«, murmelte Rautende. Sie saß mit Daniel am Küchentisch und trank Kräutertee. Beruhigend legte sie ihre Hand auf die des Mannes und drückte sie. »Du wärst jetzt am liebsten dort draußen und würdest deine Glaskuppel bewachen wie eine Glucke ihre Küken, gell?«, sagte sie mit einem freundlichen Augenzwinkern.
Daniel seufzte. »Ich weiß ja, dass ich nichts tun kann und dass man mich sofort anrufen würde, sollte das Glas beschädigt sein. Trotzdem kann ich nicht schlafen, obwohl ich sehr müde bin. Die Gefahr durch umstürzende Bäume und Astbruch lässt mir einfach keine Ruhe.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete Rautende nur. Sie wusste, es hatte keinen Zweck, Daniel jetzt zur Nachtruhe zu überreden. Die Kuppel über dem Burgsaal war sein ›Baby‹, für das er sich immer verantwortlich fühlen würde. Sie schob die Teekanne näher zu ihm heran und stand dann auf. »Ich gehe jetzt schlafen und wünsche auch dir eine gute Nacht. Versprich mir, dass du mich sofort weckst, sollte etwas passieren und du musst aus dem Haus.«
»Natürlich, Rautende, gute Nacht«, antwortete Daniel freundlich. Er nahm den Tee mit hinüber in die Bibliothek. Auf der dem Wind abgewandten Seite des Hauses öffnete er den hölzernen Laden, der die große Fenstertür schützte. Nachdem er Laden und Fenster gut gesichert hatte, wickelte er sich in einen Quilt, den seine Mutter macht hatte, und zog den Sessel zur Tür. Dort saß er stundenlang und beobachtete das Toben der Elemente und dachte daran, wie sehr der Sturm dort draußen seinen eigenen Gefühlen glich.
Er hatte sich noch keinem Menschen so nahe gefühlt wie Lilly, die ihn fraglos verstand. Aber sie war und blieb Roberts Freundin, das musste er respektieren. In seinem Kopf formte sich der Gedanke, dass sein skrupelloser Bruder diese wunderbare Frau nicht verdiente, aber was ging ihn diese Beziehung an? Leider gehörten Robert und Lilly zusammen, und er musste aufhören, an sie zu denken. Mit Anstrengung lenkte er seine Überlegungen wieder auf den Sturm und die Gefahren, die von ihm ausgingen.
Daniel war nicht der einzige Schlaflose in dieser Nacht. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste waren im Einsatz, Doktor Seefeld wurde zu Unfällen gerufen, die durch den Sturm verursacht worden waren. Förster Lorenz Breitner war mit seinen Leuten unterwegs, um gefährliche Waldgebiete abzusperren, seine Frau Friederike musste zu Höfen fahren, auf denen Weidevieh zu Schaden gekommen war. Als sich der Sturm in den frühen Morgenstunden ausgetobt hatte, waren alle Helfer froh, dass es keine Schwerverletzte gegeben hatte, sondern dass es überwiegend bei Sachschäden geblieben war.
Ehe er für eine Dusche und frischen Kaffee ins Forsthaus fuhr und die Aufräumarbeiten begannen, rief Förster Lorenz Daniel an. Neben der Burg war eine mächtige Eiche gesplittert, und Teile der Krone waren gegen das Glasdach des Festsaals geschleudert worden. Man hatte die Kuppel von innen begutachtet und zum Glück keine Schäden feststellen können.
»Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast, Lorenz«, sagte Daniel. »Ich mache mich gleich auf den Weg, um das Dach von außen zu untersuchen.«
»Willst du nicht lieber warten, bis meine Mannschaft mitkommen kann? Es ist vielleicht besser, du bist nicht allein dort oben«, gab Lorenz zu bedenken.
»Es besteht ja keine akute Gefahr durch Glasbruch, und ich bin vorschriftsmäßig gesichert«, antwortete Daniel. »Ich will mir nur sofort die Verstrebungen anschauen. Vielleicht gibt es Schäden, die ihr von innen nicht sehen konntet.«
»In Ordnung, du bist der Fachmann, aber sei vorsichtig, du bist dann allein dort