Daniel war sprachlos, und Korbinian Wamsler räusperte sich drohend. Lilly saß wie vor den Kopf geschlagen auf ihrem Stuhl. War Roberts Gefühlskälte tatsächlich noch als Folge seiner harten Kinderzeit zu erklären?
»Ich denke nicht, dass sich deine Vorstellungen so einfach durchsetzen lassen, Robert«, sagte der Anwalt nachdrücklich. »Abgesehen von der juristischen Seite ist dein Vorschlag Daniel gegenüber sehr ungerecht. Ich habe kein Wort von dir gehört, wie du dir die finanzielle Aufteilung zwischen euch denkst.«
»Das wird von meinen Anwälten ausgearbeitet«, erwiderte Robert kühl.
»Nein, damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden!«, stellte Daniel klar. »Du hast dich nie um deine Heimat gekümmert und plötzlich willst du sie besitzen, weil sie der perfekte Werbeträger für dich als Architekt ist? Und ich soll als Angestellter für dich und deine Kunden arbeiten, die viel Geld, aber wenig Sinn für alte Schönheit haben? Schlag dir das aus dem Kopf, das kommt überhaupt nicht infrage!«
Lilly wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie fand Roberts Vorstellung unmöglich, herzlos und konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. Aber als sie seinen Blick suchte und den harten Ausdruck in seinen braunen Augen sah, erkannte sie, dass jedes Wort bitterernst gemeint war.
Der erfahrene Anwalt schob seine Papiere zusammen und erhob sich. »Für heute kommen wir nicht weiter. Ihr solltet in Ruhe über die Angelegenheit sprechen, und wir treffen uns in ein paar Tagen zu einem neuen Gespräch«, sagte er.
Daniel nickte erschöpft, während Robert nur kurz mit den Schultern zuckte.
Korbinian Wamsler schaute die beiden ungleichen Brüder eindringlich an. »Ich nehme das, was Daniel von seinem Vater gesagt hat, durchaus ernst«, sagte er. »Vielleicht hat er noch mit einer anderen Person seines Vertrauens gesprochen, die seinen letzten Willen bezeugen kann.«
»Damit gibt es noch immer nichts Schriftliches«, konterte Robert sofort.
»Das stimmt«, musste der Anwalt zugeben. »Trotzdem ist das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen.«
Daniel begleitete den älteren Mann zur Haustür, wo ihm Korbinian väterlich die Hand auf die Schulter legte. »Ihr werdet das friedlich regeln können«, sagte er freundlich.
»Das hoffe ich sehr«, antwortete Daniel, und er hörte selbst, wie skeptisch er klang.
Als er in die Bibliothek zurückkehrte, hatte er das ungute Gefühl, in eine Auseinandersetzung zwischen seinem Bruder und Lilly geraten zu sein. Es war tatsächlich so, dass Lilly ihre Gefühle nicht für sich behalten wollte. Sie musste Robert ihr Befremden und ihren Ärger über sein Verhalten zeigen.
»Da siehst du, was du mit deinem Märchen von Vaters letztem Willen angerichtet hast«, warf Robert ihm prompt vor, »Lilly und ich streiten, und wir streiten sonst nie.«
Daniel konnte nur den Kopf schütteln. »Für heute reicht es mir. Ich bin ehrlich erschüttert über deinen sogenannten Geschäftssinn, Robert«, sagte er bitter. »Lass uns morgen weiterreden, jetzt fehlt mir dazu ganz einfach die Kraft, ich hatte einen anstrengenden Tag.«
»Ach?«, erwiderte Robert spöttisch. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du nicht einmal den vollen Tag gearbeitet. Kannst du dir das als Selbstständiger überhaupt leisten? Du solltest froh sein, bei mir als Angestellter zu arbeiten, dann musst du keine Verantwortung tragen und kannst dich bei Bedarf krankschreiben lassen.«
Daniel war zwar erschöpft, aber auch sehr zornig. Wie konnte sein Bruder es wagen, sich so abfällig zu äußern und dazu noch in Lillys Gegenwart? »Robert, überspann den Bogen nicht!«, sagte er warnend, dann wandte er sich ab und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
»Er konnte noch nie ein offenes Wort vertragen«, murmelte Robert höhnisch und wollte Lilly den Arm um die Schultern legen, aber sie entzog sich ihm.
»Das hat mit offenen Worten nichts zu tun, es war hämisch und gemein, und es gefällt mir ganz und gar nicht«, antwortete sie kühl. »Es ist doch offensichtlich, dass dein Bruder gesundheitliche Probleme hat. Vielleicht haben ihn die Belastungen der letzten Jahre ausgelaugt und erschöpft? Du solltest ihm lieber endlich deine Hilfe anbieten, anstatt ihn so verächtlich zu behandeln. Mit dieser verletzenden Art will ich nichts zu tun haben. Wenn du dich beruhigt hast und wie ein vernünftiger Mensch mit mir reden willst, weißt du, wo du mich findest. Ich bin bei Rautende in der Küche.« Sie ging hinaus.
Robert war von ihren Worten überrascht und in seiner Eitelkeit verletzt. »Weißt du eigentlich, wie oberlehrerhaft du dich anhörst?«, rief er hinter ihr her, aber das hörte Lilly nicht mehr. Die junge Frau saß inzwischen in der gemütlichen, großen Küche am Tisch, auf dem Rautende die rohen Brotlaibe ausgebreitet hatte, und bestrich sie mit Salzwasser, damit sich eine krosse Kruste bildete.
Die ältere Frau bemerkte Lillys verschlossenen Gesichtsausdruck und fragte vorsichtig: »Das Gespräch mit dem Anwalt ist nicht gut gelaufen, gell?«
»Nein«, antwortete Lilly aufrichtig, »es wurde sehr unschön.«
Rautende ahnte sofort, was passiert war. Mit einem leisen Seufzer sagte sie: »Ja, unser Großer macht es sich und seinen Mitmenschen nicht leicht.«
Lilly versuchte loyal zu bleiben. »Kann man das nicht gut verstehen? Er ist zehn Jahre lang das einzige Kind gewesen und dann kam Daniel dazu. Auf einmal drehte sich alles um den kleinen Sonnenschein, und Robert musste um Beachtung kämpfen. Es wundert mich nicht, dass das bis heute noch Auswirkungen hat.«
Rautende schüttelte den Kopf. »Das klingt einleuchtend, aber ganz so ist es nicht gewesen. Robert war von Anfang ein unzufriedenes Kind, das ständig im Mittelpunkt stehen und seinen Willen bekommen wollte. Wenn er sich beim Frühstück die Farbe seines Bechers aussuchen durfte und wunschgemäß den blauen bekam, wollte er nach zwei Schlucken doch lieber den roten haben. Von solchen Kleinigkeiten gab es im Laufe des Tages eine Menge, das darfst du mir glauben. Robert ist schon als kleines Kind schwer zufriedenzustellen gewesen, er war egoistisch und dadurch nicht sehr beliebt bei den anderen Kindern. Leider scheint sich bei ihm im Laufe des Erwachsenwerdens nicht viel geändert zu haben.«
»So habe ich das noch nicht gesehen«, erwiderte Lilly nachdenklich. »Bisher dachte ich, er sei oft ungerecht behandelt und von seinem kleinen Bruder verdrängt worden.«
Rautende wiegte skeptisch ihren Kopf. »Das habe ich anders in Erinnerung«, sagte sie.
Lilly schwieg und machte sich ans Häuten der Pfirsiche, aus denen die Frauen köstliche Marmelade kochen wollten. Während ihre Hände bei der Arbeit waren, kreisten ihre Gedanken um Robert. Nicht zum ersten Mal hatte sie an ihrem Freund Verhaltensweisen bemerkt, die ihr nicht gefielen. Noch hatte es deshalb keine Auseinandersetzung gegeben, denn welcher Mensch ist schon perfekt? Aber jetzt stellte sich Lilly die Frage, was sie tatsächlich mit Robert verband und ob sie unter diesen Umständen weiter mit ihm zusammen sein wollte.
Robert war wütend und enttäuscht vom Ausgang des Gesprächs, vor allem aber wegen Lillys Reaktion. Wie konnte sie nur zu diesem Weichei Daniel halten? Robert war es bisher nicht gewohnt, dass seine jeweilige Freundin ihm widersprach, aber Lilly war anders. Sie war selbstbewusst, klug und gebildet, und er erhoffte sich durch den Kontakt mit ihrer Familie und dem Freundeskreis neue berufliche Möglichkeiten. Dass sie eigene Ansichten hatte und die klar äußerte, hatte ihm bisher gefallen, aber ihre heutige Kritik passte ihm ganz und gar nicht. Sollte sie sich doch bei Rautende in der Küche verschanzen, im Augenblick hatte er von ›Silberwald‹ die Nase voll und brauchte Abwechslung. Er fand, dass im spießigen Bergmoosbach höchstens das moderne Hotel Steg-Haus am Sternwolkensee zu ihm passte, dort würde er seinen Ärger an der Bar hinunter spülen. Ohne sich von jemandem zu verabschieden, machte er sich auf den Weg hinunter in den Ort.
Daniel hatte sich im Büro mit der Buchführung beschäftigt und Rautendes freundliche Bitte abgelehnt, zum Abendessen zu kommen. Er hatte keinen Hunger. Nachdem er noch lange am Schreibtisch gesessen und sich mit der Verwaltung von ›Silberwald‹ befasst hatte, schloss er endlich die Ordner und löschte