Daniel schwieg tief bewegt. Mit wenigen Worten hatte Lilly genau das zum Ausdruck gebracht, was so unfassbar für ihn gewesen war. »Ich glaube, damals bin ich erwachsen geworden«, erwiderte er leise.
Plötzlich lag Lillys Hand auf seinem Arm und sie lag da so, als gehöre sie ganz einfach dort hin. »Und wie ist es dann weitergegangen?«, fragte sie. »Bist du allmählich in die Bewirtschaftung des Guts und das Tischlerhandwerk hineingewachsen?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, zunächst bin ich nach Hamburg gegangen und habe mein Architekturstudium begonnen.«
»Oh! Ich habe gar nicht gewusst, dass du auch Architektur studiert hast«, rief Lilly überrascht. Dann huschte ein spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht. »Jetzt verstehe ich auch die Sache mit der Glaskuppel besser. Ein Fensterbauer, und mag er noch so gut sein, hätte das wahrscheinlich in der Form nicht hinbekommen. Dazu gehört viel Wissen über Statik, und es müssen Berechnungen gemacht werden, die über reines Handwerkswissen hinausgehen.«
»Ja, das hat in der Tat weitergeholfen«, erzählte Daniel weiter. »Aber mein Studium konnte ich nicht beenden. Vater hatte den schweren Unfall, von dem er sich nie wieder völlig erholt hat. Ich konnte ihn nicht allein mit Rautende zu Hause lassen. Es war einfach zu viel Arbeit, das Gut zu bewirtschaften und die kleine Tischlerei zu führen. Ich habe das Studium abgebrochen und bin nach ›Silberwald‹ zurückgekehrt, dieses Mal für immer.«
Lilly schwieg eine Weile, schließlich sagte sie vorsichtig: »Das klingt nicht verbittert, sondern so, als ob du ganz im Reinen mit dir bist. Hast du deine Entscheidung nie bereut?«
»Vielleicht am Anfang«, antwortete Daniel ganz ehrlich. »Vater hat mich niemals gedrängt, nach Hause zu kommen; im Gegenteil: er wollte, dass ich das Studium beende. Ich wollte ihn nicht allein mit der ganzen Verantwortung lassen und bin geblieben, nachdem klar war, dass …« Er zögerte.
»… dass Robert nicht kommen würde«, beendete Lilly ernst seinen Satz.
Daniel nickte schweigend.
Auch Lilly schwieg. Sie dachte an das, was Robert von seinem Elternhaus erzählt hatte. In ihren Augen waren seine Reaktionen bisher verständlich gewesen, aber nun begann sie insgeheim zu zweifeln. War Roberts Sichtweise tatsächlich die einzig richtige? Daniels Wesen kam ihr längst nicht so unangenehm vor, wie sein Bruder es geschildert hatte. Sie war verwirrt und nicht mehr so sicher, was sie von der Situation halten sollte.
»Es wird Zeit für mich. Vor dem Gespräch mit Herrn Wamsler will ich mich noch umziehen«, sagte Daniel mit einem müden Seufzer und wies auf den blauen Overall, den er in der Werkstatt trug.
»Ich werde zu Rautende gehen und sehen, ob ich ihr helfen kann. Vorhin sagte sie, dass sie Brote backen will.« Lilly sprang von der Bank auf und schenkte Daniel einen letzten Blick, ehe sie leichtfüßig hinüber in die Küche lief. »Alles Gute für das Gespräch mit dem Anwalt, Daniel. Ich wünsche dir, dass es ohne Auseinandersetzung abläuft.«
»Das wünsche ich mir auch«, murmelte Daniel leise. Er ging unter die Dusche, zog sich um und kam dann in die Bibliothek, in der Robert ruhelos auf und ab ging.
»Wo bleibt nur dieser Provinzanwalt, er sollte um fünfzehn Uhr hier sein«, sagte er gereizt.
»Dann hat er ja noch zehn Minuten Zeit«, antwortete Daniel ruhig.
Wenig später erschien Korbinian Wamsler, der seit vielen Jahren Freund der Familie und ihr Anwalt war. Er hatte Daniel während der Krankheit des Vaters nicht nur in rechtlichen Dingen zur Seite gestanden und auch er hoffte, dass diese Nachlassregelung ohne brüderliche Auseinandersetzung möglich war. Dass es nicht leicht werden würde, zeichnete sich schnell ab.
»Ich möchte, dass Lilly bei diesem Gespräch mit dabei ist.« Robert ergriff als erster das Wort. »Für mich gehört sie mit zur Familie.«
»Wenn Lilly damit einverstanden ist, habe ich nichts dagegen«, erwiderte Daniel.
Die junge Frau war überrascht von dem Vorschlag, aber weil Robert drängte, kam sie mit hinüber in die Bibliothek. Schweigend hörte sie den Ausführungen des Anwalts zu.
»Ich verstehe nicht, dass Vater kein Testament aufgesetzt hat, das ist verantwortungslos«, sagte Robert ärgerlich.
»Du weißt, dass Papa es nicht mehr konnte«, erwiderte Daniel beherrscht. »Nach seinem Schlaganfall konnte er weder sprechen noch den rechten Arm bewegen. Niemand hatte damit rechnen können, dass zu seiner Beeinträchtigung durch den Unfall auch noch der Schlaganfall kommt. Aber ist es denn so wichtig, dass wir etwas Schriftliches haben? In der Zeit, als es Papa noch relativ gut ging, hat er mit mir über den Nachlass gesprochen.«
Robert machte ein abfälliges Geräusch. »Selbstverständlich nur mit dir«, sagte er spöttisch.
»Du bist mehrere Male dringend gebeten worden zu kommen, erinnerst du dich?« Allmählich merkte man auch Daniel seinen Ärger an. »Es war im letzten Sommer, als Papa wiederholt bei dir angerufen hat, aber du bist wie immer sehr beschäftigt gewesen.«
»Mir gegenüber hat Franz auch gesagt, dass er mit seinen Söhnen über die Verteilung des Erbes sprechen will«, sagte Korbinian Wamsler ruhig. »Konnte er das denn noch mit dir tun, Daniel?«
Der Mann nickte ernst. »Ja, das hat Papa zwei Wochen vor dem Schlaganfall getan. Er sagte, dass das Erbe im Sinne der Familie weitergegeben werden solle. Die Ländereien können weiter verpachtet oder verkauft werden, das soll Robert entscheiden, dem das Land zufällt. Mir sollen das Gutshaus und die Tischlerei gehören, die ich aufgebaut habe.«
»Das klingt nach einer guten und gerechten Lösung«, sagte der Anwalt erleichtert.
»Das finde ich überhaupt nicht«, entgegnete Robert prompt. »Wie kommt Vater darauf, Daniel das Gut zu vermachen? Es hat einen großen Wert und ich bin nicht gefragt worden, ob ich es gern hätte.«
»Gutshaus und Grundbesitzt haben dengleichen Geldwert«, erwiderte Daniel ruhig.
»Wenn es wenigstens Bauland wäre«, regte Robert sich auf. »Ist es aber nicht, und so, wie ich die Lage hier kenne, wird es das auch niemals werden.«
Daniel versuchte, auch weiterhin ruhig zu bleiben. »Hast du vergessen, dass es aus Mutters Familie noch zwei Häuser in guter Lage in München gibt? Sie sind sehr gut vermietet mit einer Apotheke, zwei Arztpraxen und ganz oben einer Penthauswohnung in dem einen, das andere ist ein Mehrfamilienhaus. Der heutige Wert dieser Immobilien übersteigt sogar den Gesamtwert von ›Silberwald‹. Ich bestehe nicht darauf, dass es gegengerechnet wird, du kannst es allein übernehmen.«
»Und nun glaubst du, du bist sehr großzügig, nicht wahr?« Robert schaute seinen Bruder herausfordernd an. »Das Gut ist länger in der Familie als Mutters Haus, und ich bin der erstgeborene Sohn. Du hältst doch so viel von Tradition, mein Lieber. Dann müsste dir klar sein, dass nach Fug und Recht ›Silberwald‹ mir gehört.«
Immer noch versuchte Daniel, ruhig zu bleiben. »Du weißt, dass es dieses alte Recht nicht mehr gibt, aber das ist hier gar nicht der Punkt. Robert, du bist gleich nach dem Abitur von ›Silberwald‹ ausgezogen und seitdem selten und nur kurz wieder hier gewesen. Immer wieder hast du betont, dass sich dein Leben ganz woanders abspielt und dass dir weder ›Silberwald‹ noch Bergmoosbach wichtig sind. Für mich ist es meine Heimat, die mir sehr viel bedeutet. Unser Vater hat gemeint, dass dir mit dem Kapital mehr gedient ist, während mir das Zuhause sehr viel bedeutet.«
»Das habt ihr ja fantastisch über meinen Kopf hinweg entschieden«, entgegnete Robert scharf.
»Das haben nicht wir so entschieden, sondern Papa allein«, antwortete Daniel und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er konnte es kaum fassen, dass sich sein Bruder ungerecht behandelt fühlte.
»Und ich habe andere Pläne«, erwiderte Robert nachdrücklich. »Das Gutshaus passt zu meinem Beruf, ich werde umziehen, hier leben und meine internationalen Geschäfte von