»Ja, das war der gefühlsselige Einfall meiner Ur-Großmutter«, antwortete Robert gleichgültig. »Als ihr Mann und sie das Haus bauten, hat es dort ausgedehnte Birkenwälder gegeben, die dann im Laufe der Zeit abgeholzt und landwirtschaftlich genutzt wurden. Der Ring aus Birken, die das Haus umstehen, ist der Rest des Waldes. Ich fand schon immer, man hätte sie fällen sollen. Birken verlieren ständig Reiser, das erfordert viel Gartenpflege.«
»Aber es sieht schön aus«, widersprach Lilly. »Es macht einen schützenden Eindruck, ohne düster oder einengend zu wirken. Mir gefällt es sehr.«
»Warte ab, bis du es tatsächlich siehst und in ihm wohnen musst«, warnte Robert. »Es ist ein altes Gemäuer, das sich schwer heizen lässt und ständig feucht und muffig riecht. Ich glaube nicht, dass sich im Haus viel geändert hat, weder mein Vater noch Daniel sind für Modernisierungen zu haben. Außerdem war Vater immer wieder krank und ist als Arbeitskraft ausgefallen. Und Rautende, unsere Haushälterin, meine Güte, sie müsste jenseits der Siebzig sein und ist immer noch da. Kannst du dir vorstellen, wie es im Haus aussieht, in dem der Geschmack einer alten Frau vorherrscht?«
Lilly warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Robert, hörst du eigentlich, wie arrogant und herzlos das klingt? Was ist nur los mit dir, so kenne ich dich gar nicht«, sagte sie ernst.
Der Mann griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz. »Entschuldige, mein Liebling, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Du hast mich nicht erschreckt, ich bin nur sehr verwundert. Immerhin sprichst du von deinem Zuhause und von einer Frau, die dich seit deiner Geburt kennt und mit für dich gesorgt hat«, entgegnete Lilly.
Robert unterdrückte einen gereizten Seufzer. »Du wirst nie ganz verstehen können, wie ich in Bergmoosbach gelebt habe«, sagte er schroff.
»Ich gebe mir alle Mühe«, antwortete Lilly ruhig. »Ich weiß doch, wie unglücklich du gewesen bist und dass dieser Besuch für dich schwer ist.«
»Ja, ich wünsche mir, dass er so bald wie möglich vorbei ist. Ich werde mit meinem Bruder den Nachlass regeln und dann fliegen wir so bald wie möglich nach Lugano zurück«, erwiderte er.
Lilly schüttelte leicht den Kopf. »Hast du vergessen, dass meine Semesterferien nicht endlos sind? Ich muss bald wieder in Berlin sein, das Studium wartet auf mich, und außerdem will ich auch noch zu meiner Patenfamilie an den Tegernsee.«
Er lachte. »Da siehst du, wie sehr du mich begeisterst. Ich habe tatsächlich nicht an deine eigenen Pläne gedacht, meine spätere Frau Kollegin.«
»Das solltest du aber«, antwortete sie, »denn diese Pläne sehen auch vor, dass ich dich sehr bald wieder in Lugano besuchen werde.« Lilly beugte sich zu ihm hinüber und drückte einen Kuss auf seine Wange.
»Du wirst es doppelt genießen, nachdem du Gast im spießigen Bergmoosbach gewesen bist«, prophezeite Robert mit einem schiefen Grinsen.
Lilly schaute über die sattgrüne, hügelige Landschaft mit dem beeindruckenden Alpenpanorama im Hintergrund und antwortete: »Das glaube ich kaum.« Allmählich begannen sie die abfälligen Bemerkungen über seine Heimat zu stören, aber Lilly schob Roberts Unfreundlichkeit auf seine Anspannung wegen des bevorstehenden Wiedersehens mit dem schwierigen Bruder. Sie beschloss, sich davon nicht weiter irritieren zu lassen, lehnte sich entspannt zurück und genoss die Fahrt durch die wunderschöne, sommerliche Landschaft.
Keine halbe Stunde später hatten sie Bergmoosbach erreicht, das sich geschützt in einem Tal am Sternwolkensee erstreckte. Sie fuhren am äußeren Ortsrand entlang und dann zum Gutshof ›Silberwald‹ hinauf, das inmitten von Wiesen und Feldern auf einer sanften Anhöhe lag. Eine mit Kies bestreute Auffahrt führte zwischen den schimmernden Birken entlang und endete vor der kurzen Freitreppe.
Zwei wunderschöne Collies kündigten den Besuch mit lautem Bellen an und nahmen dann wachsam am Fuß der Freitreppe Platz. »Das war auch so etwas Typisches für meine Jugend. Daniel hat Lassie im Fernsehen gesehen und wollte prompt einen Collie haben. Noch im selben Jahr wurde so ein Köter angeschafft«, sagte Robert. Zwischen seinen Augenbrauen war eine steile Falte erschienen, und er starrte die Tiere finster an.
»Magst du keine Hunde?«, fragte Lilly überrascht.
»Darum geht es nicht«, knurrte Robert. »Es geht darum, dass Klein-Daniel nur einmal etwas sagen musste und er bekam das, was er haben wollte.«
»Robert, lass gut sein, das ist vorbei«, ermahnte Lilly ihn sanft. Sie stieg aus dem Wagen und näherte sich respektvoll den beiden Hunden, welche den Eingang bewachten. »Guten Tag, ihr Schönen«, sagte sie freundlich und streckte langsam ihre Hand aus, damit die Tiere Kontakt aufnehmen konnten, wenn sie es wollten. Das taten die beiden Hunde so freundlich-zurückhaltend, wie es ihrem Wesen entsprach, aber sie zeigten deutlich, dass sie die Besucherin willkommen hießen.
Und das war der erste Eindruck, den Daniel von Lilly hatte: eine wunderhübsche junge Frau im zartfarbigen Sommerkleid, die sich leise mit seinen Hunden unterhielt. Ihr langes dunkles Haar fiel offen über Schultern und Rücken, und ihre Augen schimmerten grün wie Waldseen, auf denen Sonnenstrahlen tanzten. Sie war nicht nur hübsch und anziehend, sondern sie strahlte außerdem Lebensfreude und eine Wärme aus, die Daniel mitten ins Herz trafen.
Jetzt trat sein Bruder neben die junge Frau, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie wie unbeabsichtigt näher an sich heran. »Wie ich sehe, hat sich hier nichts verändert«, sagte er und wies mit dem Kinn auf die beiden Collies.
Daniel holte tief Luft. »Grüß Gott, Robert. Ich freue mich, dass du hier bist, willkommen zu Hause«, sagte er freundlich und reichte seinem Bruder die Hand.
»Mein Zuhause ist in Lugano«, stellte Robert klar. Er erwiderte Daniels Händedruck und ließ einen prüfenden Blick über seinen jüngeren Bruder wandern. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte er, dass Daniel nicht so strahlend und kraftvoll aussah, wie er ihn in Erinnerung hatte. »Ich hoffe, wir können die Zeit hier gut nutzen, damit alles Nötige schnell geregelt ist«, sagte er forsch.
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Daniel ernst. Er musste sich zusammennehmen, um seine Enttäuschung zu verbergen. Sicherlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ihn sein Bruder liebevoll umarmen würde, aber ganz so kalt und geschäftsmäßig wie eben hatte er sich das Wiedersehen nicht vorgestellt.
»Und das hier ist Lilly von Glasbach«, stellte Robert mit sichtbarem Stolz die junge Frau vor.
»Herzlich willkommen, Lilly. Ich freue mich, dich kennenzulernen«, sagte Daniel warmherzig und streckte ihr seine Hand entgegen.
Lillys Gesicht, das sich eben noch so freundlich den Collies zugewandt hatte, war jetzt glatt und ausdruckslos. »Guten Tag, Daniel«, antwortete sie kühl. Sie würde ihrem Gastgeber gegenüber nicht unhöflich sein, aber sie musste ihn ja nicht mögen.
»Mei, ist das schön, dich wieder einmal hier zu haben, Großer!«, rief eine Frauenstimme von der geöffneten Haustür. Mit raschen Schritten lief Rautende die Stufen hinunter, schlang ganz einfach die Arme um Robert und drückte ihn herzhaft.
Der Mann war zu überrascht von dem herzlichen Empfang, um ihn abzuwehren. Er ließ ihn über sich ergehen, ohne die Umarmung zu erwidern. »Hallo, Rautende«, sagte er nur und stellte dann die beiden Frauen einander vor.
Die lebenskluge Haushälterin ließ sich von Roberts frostigem Auftreten nicht abschrecken. »Es ist schön, dass Sie hier sind, Lilly, genießen Sie den Besuch bei uns in ›Silberwald‹. Ich habe für Sie und Robert sein altes Zimmer hergerichtet; ich denke, ihr fühlt euch dort wohl«, sagte sie herzlich.
Sofort runzelte Robert unwillig die Stirn. Sein altes Zimmer, das er als ganz junger Mann hinter sich gelassen hatte – das fehlte gerade noch! »Haben wir kein anderes Gästezimmer?«, fragte er unwillig.
»Freilich«, antwortete Rautende unbekümmert, »aber ihr seid keine Gäste, ihr seid Familie.«
Ehe ihr Freund darauf einsteigen