Tyra, die Märcheninsel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518403
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Tyremoen einen solchen Mund gesehen? Eine rote Schale zum Überfluten voll von Verheißungen …

      Zu dieser Minute beliebt es Hjördis, den kurzen Ärmel bis zur Schulter hinauf zurückzustreifen und der erstaunten Welt einen runden, schlanken Arm mit flaumiger, seidenzarter Haut zu zeigen. Durch welches Wunder kam ein solches Kind an diesen Strand? Was hat sich das Schicksal nur dabei gedacht, als es dem Hofbauern Finn eine solche Tochter schenkte? Dem Handelsmann Laurentzen auf Fagarö mit all seinen Reichtümern und dem großen weißen Haus schenkte das Schicksal nur ein Wesen mit kleinem Kopf und mächtigen gelben Zähnen …

      „Gott die Ehre“, sagte der Lehrer Klagg schon manches liebe Mal. „Aber es ist wohl nur gut gemeint, daß du, Hjördis, hier auf Tyremoen herumgehst und nicht in einer sündigen Stadt … Ja, Finn-Bauer! Das ist ein Glück!“

      Der Lehrer sagt in seinem Alter mancherlei wunderliche Worte …

      Es liegt der Knabe Monrad im sonnenwarmen Moos und schaut den großen blauen Himmel an; und in seinem Herzen ist zur gleichen Zeit viel Hitze und Kälte.

      Dieses weiß Hjördis kaum zu schätzen. Es paßt der Tochter Hjördis nicht länger, daß ihr kleiner Ritter lahm und welk am Boden liegt und in hoffnungsloser Ergebung in die Höhe starrt und schweigt. Ihr gelüstet nach einem munteren Spielchen. Sie rollt nicht so gar wenig mit den Augen und beginnt singend: „Hei — ei! Da war einmal eine Prinzessin — m — hm! … Hei! — Und da war einmal ein Riese — m — hm!“

      Monrad bewegt ein wenig die Ohren, ohne aber den Kopf zu drehen. Jedoch sein schmales Gesicht, sein ganzer schmaler Körper lauscht in großer Verwunderung.

      Hjördis rollt unschuldig weiter mit ihren strahlenden feuchten Augen … „Und der Riese hatte drei Augen auf seiner Stirn — m — hm!“

      Endlich versteht Monrad. Und da will er nichts mehr sehen vom tiefen blauen Himmel. Seine Wangen sind ganz dunkel geworden von Blutströmen. Er muß sie verbergen. Er muß sich tief zur Seite neigen.

      „Hör doch auf, Mädchen … Was willst du nur? Schweig doch still! Das ist alles so lange her … Und es war so dumm, Hjördis … Und, Hjördis, das mußt du doch verstehen …“

      Hjördis schweigt. Sie zuckt mit ihren feinen Schultern und schweigt. Ihre Augen rollen nicht mehr. Ihre Augen sind mit einem kalten, forschenden Blick auf den beschämten Ritter gerichtet. Und da dieses Schweigen doch gar zu lang und zu bedeutungsschwer wird, hebt Monrad langsam den Kopf. Das Haar hängt ihm wie ein zerzauster Strohbusch über die Stirn; über eine eigenwillige Stirn voller Kanten und Ecken.

      „Früher kamst du jeden Abend auf unsere Treppe“, sagt Hjördis mit unerwartet verschleierter Stimme. Auch ihr Blick ist plötzlich sanft geworden — es ist wie ein warmes unruhiges Tasten. „Du bist gestern nicht gekommen. Du bist auch vorgestern nicht gekommen — seit dem Sonntag bliebst du fort …“

      „Wie durfte ich denn kommen, wenn Ottny mich fortjagte?“ fragt Monrad hilflos und stützt sich auf den Arm. Monrad liegt jetzt da wie ein gespannter Bogen.

      Hjördis überlegt sich etwas, und sie denkt mit rührend kummervollem Gesicht lange nach. Sie wippt ihren Holzschuh auf der Zehenspitze. „Ach, Ottny!“ Das ist wie ein Seufzer. „Und ich war doch gestern dort und alle die anderen Abende …“

      Monrad schnellt auf. „Ist das wahr? Sag, ist es wirklich wahr, Liebe? Hjördis, hast du auf mich gewartet?“ Monrad greift in übergroßem Eifer nach ihrer braunen Hand. „Warum hast du es mir denn nicht gesagt, Hjördis, wenn es sich so verhielt?“

      „Nein, das sagt man nicht“, erklärt Hjördis leise und versinkt abermals in tiefes Nachdenken. „Ich habe gelesen, daß einmal ein Kavalier eine lange Winternacht lang vor dem Fenster seiner Dame stand, weil sie vergaß, ihr Licht zu löschen. Er stand auf derselben Stelle — am Morgen war er tot — erfroren … Aber er stand doch noch immer da und schaute zum Fenster hinauf …“

      „Aber, Mädchen! Wo denkst du nur hin — dieses kann doch niemals wahr und richtig sein. Nein, das ist eine Lüge …“

      „Wenn ich es doch gelesen habe …“

      „Es ist eine Lüge“, wiederholt Monrad.

      „Sagst du das? — Ja ja, dann mag es eben eine Lüge sein … Aber wenn ich ein Kavalier wäre …“

      „Ach, Hjördis, so höre doch! Ich werde heute abend wieder zu dir kommen.“

      Der Häuslerbub hält wahrhaftig noch immer diese kleine braune Hand und schüttelt sie in allzu großem Eifer. Diese braune Hand, die zu dieser Stunde wahrscheinlich nicht ganz rein ist; aber dennoch vornehm daliegt wie eine richtige Damenhand.

      „Laß mich!“ sagt Hjördis in jähem Unwillen. „Bist du denn ganz von Sinnen, Knabe?“ fragt sie.

      Jedoch, als Monrad ohne Zaudern gehorcht und ihre Hand fahren läßt, scheint sie auch damit nicht ganz zufrieden. Ach, Hjördis hat ja schon wieder einen neuen Einfall. „Hole mir die Blume dort!“

      „Die Blume? Aber, Hjördis, das ist doch eine Distel, eine Bergdistel.“

      „Hole mir die Blume!“

      Monrad rauft zwei Handvoll Moos aus, umwickelt den Stengel der Distel und reißt sie mitsamt der Wurzel aus der Erde.

      „O ja! Das sieht dir so ähnlich!“ sagt Hjördis. „Aber ich denke mir, daß Ove wahrscheinlich nicht zuerst Fäustlinge angezogen hätte.“

      „Da kennst du Ove schlecht. Ach, Hjördis, Ove ist noch lange nicht der Mann, der sich die Hände an einer Distel zersticht“, sagt Monrad verwirrt und auch ein wenig hitzig.

      Ohne ein weiteres Wort greift Hjördis nach der Distel. Sie greift mit ihren beiden Händen danach. Sie preßt die nadelgespickten harten Blätter zwischen ihren Fingern. Sie wird sehr bleich; aber ihre Stimme klingt ruhig. „Wer das nicht wagt“, sagt sie, „ist kein rechtes Mädchen … und noch viel weniger ein richtiger Mann …“

      Hierauf schweigt Hjördis allerdings, und ihre Augen füllen sich mit dicken Tränen — mit Kindertränen, oder vielleicht doch auch schon mit Frauentränen. Es ist in der Tat ein seltsames, stilles Weinen. Und es ist ein Schmerz, den nur die Augen verraten. Dieses merkwürdige Kleinmädchengesicht bleibt dabei starr, nicht einmal das Kinn bebt.

      „Warum tatest du das?“ fragt Monrad überwältigt und fassungslos.

      Hjördis schüttelt stumm den Kopf. Aber sie läßt es doch zu, daß Monrad sich über ihre Hände beugt und die Stacheln darauszieht. Er ist so aufgeschreckt wie ein Wasser, über das der Sturmwind fährt, so bis in alle Tiefen aufgewühlt.

      Dann gehen die zwei miteinander durchs Tal hinab. Und sie schweigen scheu und streifen einander nur noch mit schnellen Seitenblicken.

      Aber beim Steinwall, der die Hauswiesen von der Wildmark trennt, bleibt Hjördis stehen, schaut Monrad von unten her ins Gesicht und sagt mit strahlendem Lächeln: „Und das mit der Prinzessin, Monrad, und das mit dem Riesen — das war dennoch gar nicht so dumm, du — oh, es war doch sehr schön …“

      Ja. Der Häuslersohn erlebt an diesem Tage ein Wunder. Er öffnet dankbar und ein wenig ungläubig sein Herz dem Wunder — und gibt seines Herzens Geheimnis preis.

      „Du, Hjördis!“ flüstert er scheu. „Du, ich baue mir eine Fiedel …“

      Hjördis zieht die Brauen hoch. Nun sind es zwei Bogen, zwei hohe Himmelsbogen über zwei blauen, unheimlich hellen Sonnen.

      „Was für etwas?“

      „Eine Fiedel — sie ist schon fertig. Nur die Saiten fehlen noch.“

      Da werden die zwei Sonnen immer heller. Sie beginnen in einem scharfen Lichte zu funkeln.

      „Wozu brauchst denn du eine Fiedel, Knabe?“

      Weiter fragt Hjördis nichts mehr. Nun geht sie. Sie schiebt den Holzriegel zurück und öffnet das Gatter. Monrad kann für einen Augenblick das Innere