Tyra, die Märcheninsel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518403
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sei niemals ihre Schuld. Sondern es sei eine Heimsuchung, sagen sie. Und wenn es Schicksal ist, kann man nichts dagegen machen. Jon droht sogar, den Staat um Unterstützung anzugehen.

      „Denn — bitterer Tod—“ sagt Jon, „wenn es so weitergeht, kann ich es bald nicht mehr aushalten. Ich bin nicht in der Lage, für ein ganzes Regiment zu sorgen.“

      Aber Jenny weist ihn dann jedesmal zurecht und sagt: „Du sollst dich nicht versündigen, Mann! Und du sollst dich nicht auflehnen gegen die Vorsehung! Vergiß auch nicht, daß die Kinder mit jedem Tage heranwachsen und größer werden. Mit der Zeit können wir das ganze Espedal roden und neuen Boden gewinnen und mehr Korn und Kartoffeln pflanzen …“

      Diese Jenny war doch alle Tage ihres Lebens zuversichtlich und von heiterem Sinne. Sie liebte ihre Kinderschar; und es gelang ihr bis zum heutigen Tage, sie zu nähren und zu kleiden. Und das ist sicherlich ein lebendes Wunder und in jedem Falle etwas mehr als ein Kunststück.

      Es gibt einen Weg in Tyremoen. Der ist vielleicht zweihundert Schritte lang und führt genau von der hochmütigen Steintreppe Finns an den Strand hinunter. Damals, als Finn sich das Pferd kaufte, legte er in Vermessenheit gegen den Himmel auch noch diesen Weg an und opferte den ganzen langen Streifen Wiesland. Der Bauer Finn muß wohl heimliche Reichtümer gesammelt haben, daß er sich das alles miteinander leisten konnte und darüber nicht völlig zugrunde ging.

      Und dann ist auch noch der Elv da — ein lebendiges Wasser mit grober Stimme. Ein ganz hitziger Bach, dessen Anfang man in den blauen Bergwänden dort hinten sehen kann, in einem langen Schaumstreifen, dem Trollefoß. Der Elv rennt durch eine enge Schlucht, die auch zur hellsten Mittagsstunde noch schwarz ist und am wärmsten Sommertag einen eiskalten Hauch ausströmt. Dort hinten beginnt das Märchen … Eine Welt für sich, durch den hohen Steinwall von den Behausungen der Menschen abgeschlossen — eine Welt mit seltsamen Stimmen, voller Überraschungen und wunderbaren Ereignissen und angefüllt mit Unbegreiflichem. Der Elv kommt aus jener Welt hervor. Sein Wesen ist ganz gewiß nicht freundlich. Er klatscht zornig gegen den kleinen, lächerlichen Steindamm, den der Bauer Finn ihm in den Weg legte, um die große Wiese vor Überschwemmung zu schützen. Der Elv murrt hinter den Wiesen, Tag und Nacht.

      Was aber die Hütte der Karen am Hammer angeht, so handelt es sich hier um eine ganz und gar elende Hütte. Sie besteht nur aus einem winzigen Vorraum und einer Stube, deren Decke die Dachsparren tragen. Die Wände sind fast unmöglich niedrig. Darum blieb nur wenig Platz für das Fenster. Selbst Karen, die nicht von hervorragender Körpergröße ist, muß sich bücken, wenn sie durch die Tür eintritt.

      Es steht da ein schwarzer Eisenofen, der zugleich Kochherd ist. Es steht da an jeder Wand ein Bett. Den Raum dazwischen nimmt ein Tisch ein. Nichts Überflüssiges findet sich in dieser Stube; höchstens ein Geraniumstock mit dunkelroten Blüten und Blättern, die einen braunen Ring haben. Er steht in einem schadhaften Nachttopfe am Fenster und verbreitet bunte Farben und auf irgendeine Weise ein bißchen Lebensfreude.

      Und was ist nun mit dieser Karen? Mit Karen, die vor nicht ganz zwei Jahren ihren Mann Thorgeir und im vergangenen Winter ihre Kuh Plinka verlor … Karen singt. Ach, sie singt wohl nicht so richtig. Es sind keine Worte. Es ist kein Lied. Karen singt nur Töne. Singt Töne, die in eigentümlicher Sanftmut und Trauer sich in die Stille der Stube ergießen. Fast ist es so, als streiche der Wind durchs Moorgras, als summe der Wind in hohen steilen Felsen…

      Nein, das kann niemals ein Lied sein — vielleicht ist es nur das Wimmern eines kleinen, verängsteten Tieres, das sich vor der Einsamkeit und dem großen Schweigen fürchtet und darum seine Stimme erhebt.

      Karen ist bleich und welk und von unversieglicher Demut, wie es sich für eine arme Kätnerswitwe schickt. Sie netzt jeden Morgen ihr Haar, das sich mutwillig über der Stirn kräuseln möchte, und preßt es glatt. So verrichtet sie ihre kleinen, unbedeutenden Arbeiten, melkt ihre letzte Kuh, pflanzt Kartoffeln, mäht das Gras, gräbt Kartoffeln aus, holt Reisig aus dem nahen Wald, kocht Grütze — und erharrt in stummer Angst, aber ohne sündige Auflehnung, die Schläge des Schicksals. Karen klagt niemals.

      Karen klagt auch nicht, als Thorgeir auf der See draußen blieb. Sie ging ein paar Tage lang herum und suchte ferne Stränder ab. Da fand sie das Boot, in einem kleinen Vik, unter Tang halb begraben.

      Ein Dolchmesser steckte in den Planken. Das war Thorgeirs großes Dolchmesser. Es steckte außen in den Planken, nahe beim Kiel. Das erklärte alles.

      Das Dolchmesser erzählte ganz gelassen und hart eine kleine Geschichte. Eine Geschichte, wie sie an dieser Küste jeden Winter einige Male sich ereignet …

      Thorgeir war ein tüchtiger Kerl zur See. Er fuhr mit seinem Boot hinaus und versorgte sozusagen den ganzen Strand mit Fischen. Für die Fische tauschte er Mehl ein und ein wenig Fleisch und ein wenig Schaftalg.

      Manmal fing er auch einen Heilbutt — ein richtiges fettes Seeschwein, das seine zwei Zentner schwer sein konnte. Damit ruderte er dann die paar Meilen nach Fagarö zum Handelsmann Laurentzen.

      Der Handelsmann bezahlte ihm vielleicht zwanzig Ör fürs Kilo, vielleicht auch nur fünfzehn. Ho — das gab Geld auf die Hand! Blaue Scheine, gelbe Scheine.

      „Der Absatz geht zwar in diesen Tagen furchtbar träge“, beklagte sich der Krämer Laurentzen. „Der Englischmann wird — salze mich — mit jedem Jahr mehr und mehr zum Racker. Ich kann keinen höheren Preis zahlen.“

      Damit schenkte Laurentzen dem Fischer Thorgeir einen Schnaps ein.

      „Nein — nein“, sagte der Fischer Thorgeir und trank. „Tausend Dank! Uff! Das war aber eine feine Ware — wie ein schartiges Messer zieht es sich den Hals hinab.“

      Es konnte sogar auch vorkommen, daß Laurentzen dann noch ein zweites Glas zugab. Es kam aber nicht jedesmal vor. Laurentzen verstand die Kunst, sich rar zu machen und seine Wohltaten nicht zu verschwenden.

      „Ein Pfund Zucker — ein halbes Pfund Kaffee … war das wirklich alles?“ konnte er fragen. „Sollte es wenigstens nicht auch noch ein halbes Pfund Rosinen sein für die Madame und den Jungen? Du schwimmst doch heute völlig in Geld und Staatspapieren, du, Thorgeir …“

      „Jetzt scherzen Sie!“ antwortete Thorgeir auf solche Redensarten, vielleicht nicht ganz frei von Spott und Einsicht, aber doch auch ein bißchen geschmeichelt. „Nein, da fehlt leider noch viel zum Reichtum. Aber meinetwegen kann es also auch noch ein halbes Pfund Rosinen sein.“

      „Und sonst nichts anderes?“ fragte der Krämer, währenddem er mit dem Finger ein wenig auf die Messingschale drückt, worin die Rosinen gewogen werden. „Du kannst doch nicht alle deine Geldscheine in der Erde vergraben. Das geht niemals an.“

      „Wie Sie scherzen können!“ sagt Thorgeir.

      Nun ja. Man wohnt einsam am Strande von Tyremoen und sieht nicht jeden Tag ein fremdes Gesicht. Da tut ein Schwatz in der Seele wohl. Und wenn man von einem Manne wie dem Krämer Laurentzen für mehr gehalten wird, als man vielleicht in Wirklichkeit ist, sogar gewissermaßen für wohlhabend gehalten wird, so darf man sich nicht lumpen lassen.

      „Du ziehst ja die Taler und Zehnkronenscheine nur so aus dem Wasser herauf“, konnte Laurentzen weiter sagen. „Jaha — wer es auch einigermaßen hätte wie du …“

      Und so wog er denn wieder und verkaufte und triebt Handel und erfüllte den Zweck seines Lebens. Er strich schließlich mehr als die Hälfte vom Geld, das er dem Fischer Thorgeir auszahlte, wieder über die mit Zinkblech beschlagene Tischplatte hin. Plötzlich verschwand das Geld. Es fiel durch einen schmalen Schlitz in eine Tiefe, wo es unwiederbringlich verloren war.

      Wenn Thorgeir nach Hause ruderte, hatte er allerlei kleine Sachen im Boot und eine ziemlich gute Meinung von sich selber. Ja, es war wirklich ein eigener Segen mit Laurentzens Kramladen — man wurde darin zuversichtlich im Herzen und hoch im Hut. Man war für ein paar Stunden lang nicht nur ein armseliger Stümper ohne eigenen Grund und Boden unter den Füßen. Man war gewissermaßen ein Herr — ein Herr über alle Schätze des Meeres. Man konnte ja, wenn es das Glück zuließ, jeden Tag einen Heilbutt fangen und damit nach Fagarö rudern. Und