Tyra, die Märcheninsel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518403
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      In Tyremoen fand sich noch Natürlichkeit im Überfluß, und die Zeit lief in normaler Weise ab. Hundert Jahre liefen ab — tausend Jahre … Außer den paar Pfunden Stahl, den Sicherheitsstreichhölzern, den Petroleumlampen, den Kartoffeln und dem Tabak hat sich in Tyremoen kaum etwas verändert…

      Die Menschen kommen und gehen. Sie wachsen ihre Zeit wie die Bäume des Waldes. Und wenn ihre Stunde schlägt, sinken sie hin und verwelken.

      Der Fischer Thorgeir versank im Meer, ohne Priester und Grabgeläute, und war mit einem einzigen Schritt am Ziel. Andere mußten den Strohtod erleiden; und sie wurden mit dem Großboot an die drei Meilen weit zum Kirchorte Hernes gebracht und in geweihte Erde gesungen.

      So liefen die Jahre ab. Jeder Hausvater auf Tyremoen hatte auf dem Dachboden ein paar Särge oder doch zum mindesten trockene Föhrenbretter. Keiner wollte sich gern vom Tod überraschen lassen; denn das blieb eine ernste Angelegenheit für jedermann.

      Im übrigen schoren die Frauen ihre Schafe und spannen die Wolle und webten Stoffe und strickten Strümpfe und Genser und Unterkleider und Fäustlinge. Die Männer schnitzelten Holzschuhe und gerbten ihr Leder selber und nähten Stiefel daraus. Oh, ganz fabelhafte Stiefel! Alles miteinander schwere, ehrliche und dauerhafte Ware.

      Nicht umsonst ärgerte sich der Handelsmann Laurentzen auf Fagarö über diese Leute. Er nannte sie vor Ärger rückständig. Er nannte sie aus Wut Steinaltermenschen.

      Der alte Lehrer Klagg jedoch war gern auf Tyremoen.

      „Gutes Volk!“ sagte der Lehrer. „Liebes Volk! — Es ist nicht anders, als sei ich lange fortgewesen — in der Fremde — und habe nun wieder heimgefunden.“

      Auf diese Art nahm es der Lehrer Klagg. Das stärkte natürlich den Menschen auf Tyremoen den Rücken und gab ihnen Selbstvertrauen. Sie vergalten es dem Lehrer in mancher Weise. Vor allem ehrten sie ihn und liebten ihn aufrichtigen Herzens.

      Der Lehrer Klagg brachte eine große dunkle Brille mit, die setzte er immer auf, sobald die Sonne schien. Und er brachte eine Geige mit. Ein großer Künstler war er wohl nicht. Aber er konnte immerhin ein Lied spielen. Ja, er konnte sogar, wenn das Bier stark und frisch war, einen Halling spielen oder einen Springtanz. Viel Glanz und Freude folgte ihm überall.

      Vielleicht war es dieser alte Lehrer Klagg, der die guten halbvergessenen Volkstänze auf die weltverlorene Insel brachte. Man lebte hier eigentlich nur in den wenigen Schulwochen ein wirkliches Leben, mit Geschwätz und Gelächter ab und zu. Die übrige Zeit arbeitete man, oder schlief man. Oder man träumte höchstens.

      Das geheimnis

      Monrad, der Häuslerbub, stapft das Stortal empor.

      Im Stortal gibt es viel Geröll und viel Heidekraut. Die Wacholderbüsche werden hier zu wahren Bäumen. Sie stehen in Gruppen beisammen, dunkel und schlank wie Zypressen, und gemahnen in ihrer feierlichen Ruhe an südliche Gräber.

      Die Sonne brennt kräftig zwischen den Hängen; eine vom langen Winterschlaf ausgeruhte Sonne. Meisen zwitschern. Hin und wieder erhebt sich ein Schwarm schillernder Stare und flattert gleich einer unruhigen Wolke vorüber. Hinten auf den höchsten Bergkuppen liegt da und dort noch eine vergessene Handvoll Schnee. Der Himmel über dem allem ist rein und von wahrhaft unergründlicher Tiefe.

      Monrad stapft bergan und wird von allen Seiten übergossen von blauen Seligkeiten. Er geht in einem leichten Rausch.

      Das alles ist groß und so unfaßbar herrlich, als handle es sich hier um den ersten Frühling und den ersten Knaben, der ein sonnendurchleuchtetes stilles Tal emporsteigt … Hjördis ging eben hier vorbei. — Dort sprang sie über den kleinen Bach. Der schwarze, weiche Moorboden hat den Abdruck ihres Holzschuhs sehr getreu aufbewahrt. Hjördis — das ganze Tal ist erfüllt von ihrer Nähe.

      Dieses mag vielleicht doch etwas Großes und in seiner Art Neues sein: Zwei junge Menschen, die in einem einsamen, himmelhellen Tal Zusammentreffen. Zwei Menschenknospen, und Frühling und verheißungsvolle Stille im Walde und ein hoher Weltraum voll unergründlicher Bläue …

      Sie treffen einander bei einer steilen Felshalde, die Nova heißt. Die Felsen von Nova werden von der Sonne mehr gewärmt als andere Felsen. Dort ist der Schatten zwischen den hellen Birkenstämmen mit Goldstaub gesättigt und flimmert. Dort ist das Moos trocken. Bald liegen die zwei kleinen Menschenwesen im trockenen Moose nebeneinander und reden.

      Sie reden nur von den Schafen, die sie zu den hohen Sommerweiden emporgetrieben haben. Sie reden von den siebenunddreißig Schafen des Hofbauern Finn … Das ist siebenunddreißigmal eine ganz bestimmte Summe Geld — das ist zuverlässiger Wohlstand.

      Hjördis weiß das genau. Es handelt sich doch um die Schafe ihres Vaters. Es geht auch ihr eigenes Schaf dabei, ihr kleines Privatvermögen.

      „Letztes Jahr hat es zwei Lämmer bekommen“, sagt Hjördis, während sie an einem Grashalm nagt. Ihre feste Hand streicht über das Moos hin. „Auch dieses Frühjahr bekam es zwei Lämmer.“

      Karen am Berge, die Witwe, hat alles in allem nur drei Schafe. Diese drei Schafe haben zusammen drei Lämmer geworfen. Eins davon war zu elend und mager und konnte nicht leben. Und als es tot auf der Wiese lag, war nicht einmal das Fell etwas wert. Es machte Monrad nur ein wenig Arbeit mit dem Einscharren.

      Die drei Schafe der Witwe gingen stets in des Bauern Finn Herde. Aber es war fast immer ein Unterschied zwischen Bauerschaf und Häuslerschaf. Das Glück kannte sich hier ganz ausgezeichnet aus und griff selten daneben. Es verlohnt sich kaum, von diesen Häuslerschafen zu reden.

      Hjördis fragt: „Was würdest du tun, wenn mein Schaf dir gehörte?“

      Ohne sich zu bedenken, erwidert Monrad: „Ich würde alle Lämmer leben lassen.“

      „Wie? O — du, Monrad! Und das Heu im Winter?“

      Nein, das geht also doch nicht. Hjördis spuckt den zernagten Grashalm aus. „Im Sommer werde ich nach Fagarö rudern und alle meine Wolle verkaufen und alle meine Felle …

      Dieser Reichtum! So darf nun Hjördis reden und prahlen. Der Häuslerbub mißgönnt Hjördis den Reichtum nicht. Nein, das soll Gott wissen. Monrad ist völlig frei von Neid; er wundert sich höchstens darüber, warum Hjördis nicht in einem Schloß wohnt, in einem Schloß mit zehn Türmen und hundert Fenstern und vielen Erkern — so fein und klug wie sie ist.

      „Und was würdest du mit dem Geld machen?“ fragt Hjördis.

      „Mit dem Geld? — Nein, ich weiß nicht … Doch. Ich würde mir wohl eine Angelschnur kaufen …“

      „Und Heilbutt fangen, wie Thorgeir?“

      „Ja, Heilbutt fangen …“

      „Ja! Das magst du nur glauben!“ lacht Hjördis.

      „Glaubst du es vielleicht nicht?“

      „Nein, du, das glaube ich niemals!“

      Sie sagen, daß Thorgeir einmal einen Lachs fing — einen großen Lachs fing. Aber er durfte ihn nicht ins Boot hineinziehen, weil sonst die Schnur zerrissen wäre. Da beugte er sich schnell nieder und biß den Lachs in den Schwanz. Er zog den Lachs mit den Zähnen ins Boot. Ja, so ein Kerl war Thorgeir! Man nannte ihn von da ab „Lachsbeißer“.

      Hjördis betrachtet Monrad unter tiefgesenkten Lidern hervor. „Könntest du das vielleicht auch?“

      Darauf blickt Monrad zur Seite. Und jetzt ist er wieder klein und ein wenig zaghaft. Er ist wahrlich kein Fürstensohn mehr, der im Märchenlande wandelt. Er ist nur noch der arme Untertan.

      Und Hjördis ist in jedem Falle die Prinzessin. Sie darf ihrem Knechtlein jederzeit den Fuß auf den Scheitel setzen. Sie darf ihm auch Gnade erweisen — ihre kleine braune Hand zu ihm hinüberstrecken und ihn ein wenig emporheben aus dem Staub. Sie macht es so oder so — ganz wie es in ihrer Laune liegt.

      Hjördis wird in diesem Herbst vierzehn Jahre alt. Aber Hjördis gleicht wirklich