Ich bete, dass Ihre Mutter bald wieder gesund wird und Sie Ihre Geschwister im Kinderheim gesund und wohlbehalten vorfinden. Bitte scheuen Sie sich nicht, zu mir zu kommen, wenn Sie in London Hilfe brauchen. Ich rechne damit, dass ich am 13. April zurückfahre. Sie erreichen mich in der Kanzlei von Mr Henry Dowd.
Hochachtungsvoll
Andrew Frasier
Sie faltete den Brief wieder zusammen und schob ihn und die Geldscheine tief in ihre Manteltasche. Dank dieses Geldes brauchte sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, wie sie zum Krankenhaus kommen sollte, um ihre Mutter zu besuchen, oder wie sie zum Kinderheim käme, in dem ihre Geschwister untergebracht waren. Ihre Zuversicht wuchs, doch einen Moment später wurde sie von den verwirrenden Fragen und Zweifeln, die ihr durch den Kopf gingen, verdrängt. Sie musste diesen Sorgen einen Riegel vorschieben!
Sie hatten schon viele schwere Situationen durchgemacht und überwunden. Sie würden auch jetzt eine Lösung finden.
Sie schloss die Augen und wollte beten. Sie wollte glauben, dass sich Gott um sie und ihre Familie kümmerte, aber sie hatte nach dem Unfall für ihren Vater gebetet, und Gott hatte ihn trotzdem zu sich geholt. Aber sie musste es auf jeden Fall versuchen. Gott, bitte heile Mama und pass auf meine Geschwister auf. Hilf mir, dir zu vertrauen, auch wenn ich nicht verstehe, warum du das zugelassen hast, und auch wenn ich keine Ahnung habe, wie die Zukunft aussieht.
Sie schlug die Augen wieder auf und blickte durch das Fenster, an dem die Regentropfen hinabliefen. Sie wartete auf ein beruhigendes Gefühl oder eine leise, tröstende Stimme. Aber sie hörte nichts als das Motorengeräusch des Automobils, das durch die Pfützen fuhr und sich schnell dem Ort näherte.
Würde Gott ihre Gebete erhören und ihnen einen Weg bahnen, sodass sie wieder alle zusammen sein konnten? Das war ihr Herzenswunsch. Aber ihre Angst war größer als ihr Glaube – und erstickte den kleinen Hoffnungsfunken in ihrem Herzen.
3
Das kommt nicht infrage! Das erlaube ich nicht!“ George Frasier schlug mit der Faust auf den Schreibtisch in der Bibliothek. „Wie kannst du auch nur daran denken, so etwas zu tun? Du bist ein Gentleman, kein Anwalt der Mittelschicht, der Geld verdienen muss!“
Andrews Herz hämmerte, aber er schob das Kinn vor und hielt dem Blick seines Vaters stand. Dieses Mal würde er nicht nachgeben. „Henry Dowd hat mir die Stelle angeboten, und ich habe sie angenommen. Daran lässt sich nichts mehr ändern.“
„Selbstverständlich lässt sich das ändern. Du hast eine Verantwortung gegenüber deiner Familie und gegenüber Bolton. Das muss an erster Stelle kommen und steht über jeder unüberlegten Zusage, die du Dowd gegeben hast.“
„Ich sehe nicht, dass ich durch meine Stelle bei Henry Dowd meiner Verantwortung nicht gerecht werden würde.“ Andrew atmete tief ein, um seinen Puls zu beruhigen. „Die Leitung von Bolton liegt in deiner Hand. Außerdem hast du einen sehr fähigen Verwalter. Ich werde hier nicht gebraucht, und das wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern.“
„Du hast keine Ahnung, wann du diese Aufgabe übernehmen musst. Das könnte schneller kommen, als du denkst. Du wirst dich sehr schwertun, die Leitung zu übernehmen, wenn du vorher keine Erfahrung sammelst.“
Was sollte das bedeuten? Hatte sein Vater gesundheitliche Probleme?
Sein Vater verzog die Mundwinkel nach unten. „Ich hätte gedacht, du wärest dankbar, weil du eines Tages das Anwesen deiner Familie erben wirst.“
Diese Worte rüttelten an seinem Gewissen und weckten starke Zweifel. Hatte sein Vater ernste gesundheitliche Probleme? War er durch seine Entscheidung ehrlich verletzt? Oder versuchte er nur, ihn zu manipulieren?
„Ich bin dankbar, Vater.“ Andrew mäßigte seine Stimme. „Und wenn der Zeitpunkt kommt, werde ich mich um die Familie und um Bolton kümmern. Aber bis dahin will ich meine Ausbildung als Anwalt sinnvoll einsetzen und meinen Mitmenschen helfen.“
Sein Vater verzog die Lippen, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. „Wie willst du deinen Mitmenschen damit helfen, dass du dich in einer Anwaltskanzlei abrackerst und für einen Mann arbeitest, der dir nicht ebenbürtig ist?“
Andrew kochte fast über. „Henry Dowd ist mein Mentor und Freund. Er hat einen makellosen Charakter und wird von allen, die ich kenne, sehr geachtet.“
„Ich dachte, wenn ich dich einige Monate bei diesem Mann in die Ausbildung gehen lasse, würdest du erkennen, wie anstrengend dieser Beruf ist, und wieder zur Vernunft kommen.“
„Ich habe erkannt, wie anstrengend dieser Beruf ist. Und ich finde ihn herausfordernd und erfüllend.“
„Andrew, du redest Unsinn!“
Andrew stand auf und trat ans Fenster. Warum konnte sein Vater nicht verstehen, dass andere Zeiten angebrochen waren? Er wollte sein Leben nicht auf dem Land verbringen und seine Tage mit Jagen, Reiten und Angeln vergeuden, während ihn wichtige Probleme beschäftigten, bei denen sein juristischer Beistand gefragt war.
„Sei doch vernünftig, Andrew, und gib diesen törichten Tagtraum auf!“
Andrew fuhr herum. „Als Anwalt zu arbeiten ist kein törichter Tagtraum! Ich bereite mich seit sechs Jahren auf diesen Beruf vor. Und ich habe die Absicht, ihn auch auszuüben.“
Sein Vater stand auf und hob einen zitternden Finger. „Wenn du an diesem eigensinnigen Verhalten festhältst, wirst du dem Ruf unserer Familie dauerhaft schaden.“
„Das ist lächerlich!“
„Nein, das ist nicht lächerlich! Wer wird dich respektieren, wenn du deine Rolle in Bolton aufgibst und eine Arbeit in der Stadt annimmst?“
„Jeder, der bei klarem Verstand ist und nicht im letzten Jahrhundert lebt!“
Seine Mutter betrat die Bibliothek. Ihr Gesichtsausdruck war besorgt. „Meine Güte, George! Warum wirst du denn so laut?“
„Ich bin nicht laut!“ Sein Vater räusperte sich und zupfte an seiner Weste. In etwas gemäßigterem Ton sprach er weiter. „Ich versuche nur, deinem Sohn klarzumachen, dass er seinen Standpunkt in Bezug auf eine sehr törichte Entscheidung überdenken muss.“
Ihr Blick verriet, dass sie verstand, worum es bei diesem Gespräch ging. Sie trat ein paar Schritte näher. „Ich schlage trotzdem vor, dass ihr eure Stimmen mäßigt, damit das Personal seiner Arbeit nachgehen kann.“ Sie zog vielsagend die Brauen hoch und deutete mit dem Kopf zur Tür, die in die große Halle führte.
Andrew folgte ihrem Blick, und sein Gesicht begann zu glühen. Sterling und einige andere Bedienstete hatten offenbar ihren ganzen Streit verfolgt. Das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.
Sein Vater deutete mit dem Finger auf ihn. „Andrew will in London leben und für diesen Dowd arbeiten, statt hier auf Bolton Verantwortung zu übernehmen.“
Andrew verdrehte die Augen. Wollte sein Vater jetzt das ganze Gespräch für seine Mutter wiederholen?
Sie legte die Hände vor der Brust zusammen. „Ich weiß von seiner Entscheidung.“
Die Augen seines Vaters funkelten. „Du weißt Bescheid?“
„Ja. Ich weiß schon seit einer ganzen Weile, was er vorhat.“
„Und du stimmst ihm zu?“
Ihre Miene blieb ruhig. „Ich glaube, dass Andrew alt genug ist, um selbst über seine Zukunft zu entscheiden. Wenn er sich berufen fühlt, als Anwalt in London zu arbeiten, sollten wir seine Entscheidung unterstützen.“
„Ha! Das sieht dir ähnlich. Du bist Amerikanerin.“
„Also wirklich, George! Ich lebe seit über dreißig Jahren in England. Und mir ist sehr wohl bewusst, welche Unterschiede es zwischen England und Amerika gibt, was die Kultur und die familiären Verpflichtungen angeht.“
„Dann solltest du wissen, dass es nicht akzeptabel ist, dass Andrew einen