Weiter als der Ozean. Carrie Turansky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carrie Turansky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224623
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in den Händen schaute Grace mit großen Augen zu ihr hoch. „Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

      „Ist schon gut. Komm her.“ Katie hielt ihr die Hand hin.

      Grace ließ die Stöcke fallen und kletterte neben Katie auf die Kiste. Sie war zu klein, um durch das Astloch blicken zu können. Deshalb fasste Katie sie an der Taille und hob sie hoch.

      Grace schaute durch das Loch und atmete scharf ein. „Dort ist Garth!“

      „Pst! Uns darf niemand hören.“

      „Warum nicht?“

      „Wir dürfen nicht mit den Jungen sprechen. Aber vielleicht kommt er irgendwann näher.“

      Katie setzte Grace auf ihre Hüfte, und sie blickten abwechselnd durch das Astloch und beobachteten ihren Bruder.

      „Jetzt kommt er!“, flüsterte Grace.

      „Lass mich sehen.“ Katie nahm Graces Platz ein. Als Garth nur noch drei Meter weg war, rief sie leise seinen Namen.

      Er runzelte die Stirn und blickte zum Zaun.

      „Psst“, zischte Katie. „Hier drüben.“

      Garths Augen leuchteten auf. Er sah sich unauffällig um und schlenderte dann auf den Zaun zu. „Katie, bist du das?“

      „Ja! Grace und ich sind hier.“

      Ein Lächeln zog über sein Gesicht, doch dann wurde er schnell wieder ernst und wandte sich vom Zaun ab. „Falls mich jemand dabei erwischt, dass ich mit euch spreche, bekomme ich große Schwierigkeiten.“

      „Ich weiß. Das hat mir die Heimleiterin auch gesagt, als ich fragte, ob ich dich sehen könnte.“

      „Hast du etwas von Mama oder Mrs Graham gehört?“

      „Nein. Kein einziges Wort. Du?“

      „Nein.“ Er sprach leise und blieb mit dem Rücken zu ihr stehen.

      „Glaubst du, Mrs Graham hat Laura geschrieben?“

      Er schnaubte. „Warum kommt Laura dann nicht?“

      Graces Kinn zitterte. „Laura kommt nicht?“

      Katie strich Grace beruhigend über den Rücken. „Nicht weinen, Gracie. Wenn sie kann, kommt Laura bestimmt.“ Sie spähte wieder durch das Astloch. „Glaubst du, Mama geht es gut?“

      Garth drehte sich zu ihr herum. Seine Augen funkelten unruhig. „Keine Ahnung, aber ich werde es herausfinden.“

      Katie erstarrte. „Wie meinst du das?“

      „Ich werde nicht ewig hierbleiben und mir Sorgen machen, was mit Mama sein könnte.“

      „Garth, du darfst nicht weglaufen!“

      Er runzelte die Stirn und steckte die Hände in seine Hosentaschen. „Ich muss von hier fort und nach Mama sehen. Dann werde ich eine Möglichkeit finden, dich und Gracie aus dem Heim zu holen.“

      „Aber wie sollen wir überleben, wenn wir auf uns allein gestellt sind?“

      Seine Miene wurde hart. „Wir finden schon einen Weg. Sie können uns doch nicht ewig hier einsperren und voneinander trennen.“

      „Mrs Graham hat Mama bestimmt gesagt, wo wir sind. Sie wird uns holen, sobald sie kann. Davon bin ich felsenfest überzeugt.“

      Garths Augen verdunkelten sich, und er wandte den Kopf ab. Bei dem Zweifel in seiner Miene wurde Katie schwer ums Herz. Wenn Garth nicht glaubte, dass Mama kommen und sie hier herausholen würde, wie sollte sie dann diesen Glauben aufbringen?

      „Garth, komm!“ Ein Junge rannte auf den Zaun zu und winkte ihm, zu den anderen zu kommen und mitzuspielen.

      „Ich muss gehen.“

      Katie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Es musste eine Möglichkeit geben, mit Garth in Kontakt zu bleiben. Eine Idee schoss ihr durch den Kopf, und sie steckte den Finger durch das Astloch. „Wenn du wieder in den Garten kommst, dann schau in dieses Astloch. Falls ich irgendetwas höre, hinterlasse ich dir hier eine Nachricht. Und du machst das Gleiche.“

      „Einverstanden.“ Er warf einen Blick über die Schulter, dann drückte er kurz ihren Finger. „Pass auf dich und auf Gracie auf.“

      „Das mache ich. Versprochen.“ Als er seine Finger zurückzog, seufzte sie.

      Grace spähte noch einmal durch das Astloch. „Bis bald, Garth.“ Ihre Stimme zitterte, und sie schniefte, als sie von der Kiste stieg.

      Katie beugte sich noch einmal vor und beobachtete, wie Garth zu seinen Freunden zurückkehrte und dann zum Jungengebäude schlenderte. Mit jedem Schritt, den er sich von ihr entfernte, hatte sie das Gefühl, ein weiteres Stück ihres Herzens zu verlieren. Sie stieg von der Kiste und atmete stockend aus. Vierzehn Jahre lang waren sie und Garth unzertrennlich gewesen. Eigentlich sogar noch länger, wenn man ihre gemeinsame Zeit in Mamas Bauch mitrechnete.

      Dass sie in Grangeford gezwungen wurden, in getrennten Gebäuden zu wohnen, war schwer, aber wenigstens wusste sie jetzt, dass er auf der anderen Seite des Zaunes war. Das war ein kleiner Trost. Aber wie sollte sie ihn finden, falls er ausbüxte? Die Vorstellung, nicht zu wissen, wo er war und ob es ihm gut ging, war für sie schier unerträglich.

      Sie sah ihre Schwester an und kniff die Lippen fest zusammen. Sie hatte Garth versprochen, auf Grace aufzupassen. Dieses Versprechen musste sie halten. „Komm, Gracie. Wir müssen zurück und …“

      „Mädchen! Was macht ihr da?“ Mrs Hastings marschierte mit gerötetem Gesicht auf sie zu. „Kommt sofort von diesem Zaun weg!“

      Katie nahm Grace an der Hand und zog sie schützend an sich.

      „Warum steht ihr untätig herum?“

      Katie blinzelte. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass sie fast fürchtete, es würde ihren Brustkorb sprengen. Sie durfte die Wahrheit nicht verraten. Was konnte sie sagen?

      Mrs Hastings deutete mit ihrem knochigen Finger auf die Zweige vor ihren Füßen. „Hebt diese Zweige auf und macht euch an die Arbeit, die ich euch aufgetragen habe!“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Müßiggang ist aller Laster Anfang. Hier in Grangeford dulden wir so etwas nicht.“

      „Ja, Madam.“ Katie warf einen schnellen Blick auf Grace. Sie bückten sich beide und hoben den piekenden Haufen abgebrochener Zweige auf.

      Als sie sich aufrichtete, hob Katie die Augen zum wolkenverhangenen Himmel. Hilf uns, Vater. Wir haben niemand sonst, an den wir uns wenden können.

      

      Laura faltete ihren grauen Wollpullover und legte ihn in den Koffer auf ihrem Bett. Dann blickte sie sich in dem spärlich möblierten Zimmer um, das sie mit Millie teilte. Ihre Augen leuchteten auf, als ihr Blick auf das Foto von ihrer Familie auf dem kleinen Tisch neben dem Bett fiel. Dieses Bild konnte sie nicht zurücklassen. Es war das einzige Foto, auf dem die ganze Familie zusammen war. Sie nahm es vom Tisch, um es zu betrachten.

      Es war vor drei Jahren aufgenommen worden, bevor ihr Vater gestorben war und bevor sie angefangen hatte, als Dienstbotin zu arbeiten. Ihr Leben hatte damals ganz anders ausgesehen. Das spiegelte sich in dem Frieden und der Zufriedenheit in den Gesichtern wider.

      Mama saß mit strahlenden Augen und einem glücklichen Lächeln vorn. Sie trug ihr schönstes Kleid mit dem hochgeschlossenen Spitzenkragen. Die vierjährige Grace saß in ihrem weißen Rüschenkleid und mit einer großen weißen Schleife, die ihre blonden Locken zusammenhielt, auf ihrem Schoß.

      Papa stand hinter Mama, groß und stattlich in seinem schwarzen Anzug und mit Krawatte. Garth stand rechts von ihm. Ihr Bruder reichte ihrem Vater kaum bis zu den Schultern. Sie lächelte bei der Erinnerung, dass sie versucht hatten, Garths dunkelbraune Locken glatt zu kämmen, aber einige Strähnen hatten sich nicht bändigen lassen und fielen ihm in die Stirn.

      Sie und Katie saßen links und rechts