Schrittfehler. Richard Grosse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Grosse
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959588034
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über der Schönhauser Allee. Fast auf einer Ebene mit der ersten Etage der Häuserreihen glitt der Zug über die Hochgleise. Aus ihrem Abteil sahen sie in die Wohnzimmer. Es glich einer Geisterfahrt, wenn man das Gesicht an das Fenster presste. Die U-Bahn hielt an der Dimitroffstraße und sie verließen schweigend das Abteil. Sie stiegen die Stufen hinab auf die Schönhauser Allee, immer noch schweigsam, und gingen bis zur Kastanienallee vor, bogen stumm nach rechts ab und standen kurz darauf vor ihrem Haus in der Oderberger Straße. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine düstere Gegend, von den Fassaden bröckelte der Putz, die Straße war nur spärlich beleuchtet, es gab einige wenige Läden, um sich mit dem Notwendigsten zu versorgen. In diese Straße kam nur, wer einen Schlüssel für eine der renovierungsbedürftigen Wohnungen besaß oder das Hallenbad aufsuchen wollte. Es hatte zwei Weltkriege überdauert. Die Kinder der umliegenden Schulen kamen zum Schwimmunterricht und die Anwohner ohne eigenes Bad zum Duschen.

      Ihre Wohnung lag zwar zum Hinterhof, war dafür aber ruhig und geräumig. Sie teilten sich drei Zimmer und das Bad, sogar eine Dusche war vorhanden. Jeder hatte sein eigenes Zimmer, eines bezeichneten sie als ihren Salon, da standen der Fernseher und der Plattenspieler. Sie hatten vier alte Sessel und ein schmales Sofa beim Gebrauchtwarenhändler aufgetrieben und alles neu beziehen lassen. Die Möbel waren der Lichtpunkt ihrer Wohnung, tiefrot war die Polsterung und jeder Besucher dachte sofort an einen Kinosaal. Klaus’ Vater hatte etwas beigesteuert. Kam er sie besuchen, und das tat er mit der Regelmäßigkeit eines Büroangestellten, so schritt er aufrechten Ganges schnurstracks in das Wohnzimmer und warf einen prüfenden Blick auf die Sofagarnitur. Das Zimmer seines Sohnes betrat er nie.

      »Wollen wir noch ein Bier trinken?«, fragte Klaus, als sie unentschlossen in ihrer winzigen Küche standen.

      Frank schüttelte langsam den Kopf und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen. Er fühlte sich völlig zerschlagen, so als hätte er die Nacht durchgearbeitet.

      »Komm, halbes Glas, auf die schöne Gattin unseres Herzspezialisten«, sagte Klaus etwas gekünstelt.

      »Meinetwegen, auf Peters Glück«, murmelte Frank mit gesenktem Kopf und wunderte sich über seine Worte. Was geht mich sein Glück an, dachte er.

      »Ehrlich gesagt, Peters Frau gefällt mir ziemlich gut«, wagte sich Klaus aus der Deckung, behutsam darauf bedacht, nicht ihren Vornamen auszusprechen.

      Seine Stimme war gepresst, als müsste er eine innere Spannung unterdrücken. Frank sah kurz auf, als übermittelte man ihm eine schlechte Nachricht. Er stand langsam auf, stellte sich vor das Küchenfenster und blickte in den nachtschwarzen Hinterhof. Die grauen Mauern ähnelten matt erleuchtetem Asphalt. Klaus blickte benommen in sein Glas. Ihm schien, als würde er Renate durch den Bierschaum sehen und ihr Parfüm riechen.

      »Ich bin verknallt oder besoffen«, murmelte er.

      Hoffentlich nur besoffen, dachte Frank, die Lippen zu einem Strich gepresst.

      »Wir sollten sie vergessen, Frank, das bringt doch nur Unruhe«, versuchte Klaus einen halbherzigen Rückzug. Statt zu antworten, verließ Frank wortlos die Küche.

      Am späten Nachmittag des folgenden Tages saß Klaus grübelnd in seinem Arbeitszimmer und suchte im Telefonbuch die Nummer des VEB Kosmetik-Kombinat Berlin. Gegen siebzehn Uhr meldete die Sekretärin Frau Wohlfahrt, da sei ein Doktor aus der Akademie in der Leitung. Renate Wohlfahrt verdrehte die Augen. Das konnte ja nur ein Chemiker auf der Suche nach einer Kooperation sein. Seit einiger Zeit wimmelte es von Forderungen nach Praxiswirksamkeit der Forschung, wie ein Zauberspruch ging die Losung nach Überführung von Forschungsergebnissen in die Praxis umher, selbst die Produktion von Seifen und alkoholfreier Gurkenreinigungsmilch sollte wissenschaftlich durchdrungen werden. Lustlos nahm sie das Gespräch entgegen.

      »Wohlfahrt am Apparat.«

      »Hallo, hier ist Klaus Behrens«, meldete sich eine angenehm ruhige Stimme.

      »Oh, der Biologe«, rief sie überrascht in den Hörer und bog die Schultern zurück. »Gut nach Hause gekommen?«

      »Ich wollte mich nochmal für den schönen Abend bedanken, auch bei Peter, dem tollen Koch«, sagte Klaus artig.

      Renate lächelte und prüfte ihre rotlackierten Fingernägel.

      »Und wie geht’s deinem Busenfreund, hat’s ihm auch gefallen?« Die Frage klang wie eine kleine Provokation.

      »Denke schon«, antwortete Klaus kurz angebunden.

      »Und hast du heute schon was entdeckt, rufst du aus deinem Labor an?«, fragte Renate.

      Klaus überlegte, ob es sie wirklich interessierte oder es nur ein höflicher Ansatz war, um das Gespräch in Gang zu halten. Er runzelte nachdenklich die Stirn und entschied sich intuitiv für eine sachliche Antwort, um nicht gleich abzublitzen.

      »Ja, ich bin im Institut. Arbeite am Studienprotokoll …«

      »Was für ein Protokoll?«, unterbrach ihn Renate, als wäre ihr etwas Wichtiges entgangen.

      »Ein Arbeitsanleitung zur Bestimmung klinisch relevanter Marker.«

      Er legte eine Pause ein, unsicher, ob Renate zuhören würde. Aber sie lauschte andächtig seiner Stimme und stellte sich sein offenes Gesicht mit dem schönen Kinn und den geschwungenen Lippen unter der schmalen Nase vor. Er hätte ihr auch etwas aus dem Biologielehrbuch vorlesen können.

      »Bin noch in der Leitung«, rief sie. »Und was verraten dir deine Marker über Peters Patienten?«

      Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Kinn und zog einen kleinen Spiegel aus der Schublade. Bin mal gespannt, wann er zum Thema kommt, sagte sie ihrem Spiegelbild.

      »Ich will dich nicht mit meinem Kram langweilen«, wiegelte Klaus ab, besorgt, Zeit zu verlieren.

      »Nee, erzähl mal weiter, letztes Mal ging es ja mehr um die Technik.«

      Sie unterhielten sich untereinander wie in einer Chiffriersprache, die den wahren Inhalt verbirgt.

      »Es geht ja um herzkranke Patienten, die sind in der Regel infarktgefährdet. Ein Herzinfarkt kündigt sich meistens nicht an, na ja, bis auf die Schmerzen in der Brust.«

      Renate legte unwillkürlich ihre Hand aufs Herz.

      »Aber es wäre ein großer Fortschritt, wenn man im Blut von Risikopatienten Stoffe nachweisen könnte, die den Infarkt vorhersagen. Solche Verbindungen interessieren uns.«

      »Ja, das versteh sogar ich!«, rief Renate. »Man gibt beim Arzt eine Blutprobe ab und erfährt einen Tag später, ob Gefahr droht. Aber was dann, hören die etwa auf zu rauchen und zu trinken?«

      Renate lehnte sich zurück und wartete auf seine Stimme.

      »Schön wäre es ja, könnte man das erreichen, aber immerhin kriegen sie eine Prognose«, sagte Klaus, als würde er einen berechtigten Zwischenruf kommentieren.

      »Damit sie wissen, wie lange sie noch rauchen und trinken können«, sagte Renate trocken.

      Klaus lachte erleichtert auf, das Thema schien erschöpft. Für einen Augenblick schwiegen beide.

      »Es stört dich hoffentlich nicht, dass ich in der Arbeitszeit anrufe?«, vernahm sie seine dunkle Stimme, nun deutlich leiser.

      Wann denn sonst, dachte Renate, und erinnerte sich daran, wie er sich neben sie gesetzt hatte, nachdem Frank die andere Seite eingenommen hatte.

      »Nein, das ist kein Problem. Übrigens, hast du was zu schreiben in der Hand? Ich gebe dir mal meine Durchwahlnummer. Für das nächste Mal.«

      Klaus stockte der Atem.

      »Ja, gerne.«

      Er schlug sein Notizheft auf und notierte die Nummer unter dem Datum: 9. Juli.

      Frank war seit dem Morgen damit beschäftigt gewesen, Magnetbänder, Lochkarten und Lochbänder für den Rechnereinsatz vorzubereiten. Täglich trafen neue Datensätze mit Patientendaten ein, die in die Herzschrittmacherstudie einflossen. Selbst die Bezirksärzte für Lungenkrankheiten