Schrittfehler. Richard Grosse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Grosse
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959588034
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Doch das Fräsen interessierte ihn wenig, er zweifelte daran, dass die Maschinen, die er entwerfen sollte, je gebaut würden, auch ging ihm der Lärm in der Werkshalle gewaltig auf den Keks und sein Chef schien sich nur auf den Feierabend zu freuen. So sah er sich bald nach einer neuen Stelle um. In der Republik war die Bedeutung der Mikroelektronik beschlossen worden, alle redeten von Robotron, EDV und Rechenzentren. Frank beschloss, dem Zug der Zeit zu folgen. Er belegte einen EDV-Kurs und erlernte einige Programmiersprachen. Zu Hause entwarf er Matrizen zur datentechnischen Erfassung von Körperteilen und sann mit Klaus darüber nach, ob man mit FORTRAN die perfekte Frau programmieren könne.

      1979 bewarb er sich am Rechenzentrum der Humboldt Universität. Er hatte Glück und wurde als Operator eingestellt. Nun war er an der Front des Fortschritts und fütterte den Großrechner Robotron 300 mit Lochbandrollen und Magnetbandkassetten. Die Arbeit entsprach seinem Charakter und seiner Gefühlswelt. Man kann alles programmieren, war sein Credo. Egal, ob die Daten aus der Wirtschaft, Technik, Medizin oder Naturwissenschaft stammen, ein gutes Rechenprogramm trennt sozusagen die Spreu vom Weizen. Es sagt einem, was womit im Zusammenhang steht, und deckt Denkfehler auf. Im Leben sei es nicht viel anders, behauptete er gern. Laufe etwas schief oder gar aus dem Ruder, so habe sich eben in unser Handeln ein Programmierfehler eingeschlichen, und dann müsse man die Befehle ändern, die Daten ergänzen oder korrigieren, oder einige Postulate überprüfen.

      »Werden Menschen richtig programmiert, so irren sie sich nicht«, scherzte er.

      Unerwartet begrub GERMED das Projekt und die Hoffnungen von Klaus, in das Innerste des Menschen vorzudringen. Frank atmete auf, als er erfuhr, dass Klaus stattdessen an einer klinischen Studie zur Testung einheimischer Herzschrittmacher mitarbeiten sollte. Das war etwas Handgreifliches und entsprach seinen Vorstellungen von Wissenschaft.

      »Phantastisch, das wird sicher durch die Uni unterstützt, ist ja quasi praxiswirksam«, kommentierte er die Nachricht. »Wir könnten etwas zusammen machen. Algorithmen für die Anwendung dieser Antriebe entwickeln, messen, auswerten, vergleichen, optimieren. Ich kann dir auch noch helfen, die Patienten auszuwählen, denen du den Rhythmus vorgibst!«

      Neben Klaus wirkte Frank wie ein Souffleur, der es gewohnt war, unbemerkt seiner Tätigkeit nachzugehen. Er redete wenig, und wenn, dann langsam, fast stockend, als suchte er nach Worten. Er wirkte zurückhaltend und kühl, war aber in seinem Wesen weder abgehoben noch arrogant. Er war von Natur aus ein vorsichtiger Mensch, der nicht zum Übermut neigte. Immer schön sachte, war eine seiner Floskeln, wenn Klaus ihn mit neuen Plänen in Beschlag nahm. Kannte man ihn nicht, kostete es eine gewisse Überwindung, sich ihm zu nähern. Unbewusst fürchtete man, zurückgewiesen zu werden oder sich zu blamieren. Dabei trug er immer ein einladendes Lächeln im Gesicht. Es schien ihm wie ein leichtes Schielen in die Wiege gelegt worden zu sein. Aber da es so gut wie nie aus seinen Zügen wich, verlor es nach einigen Augenblicken seine Anziehungskraft. Klaus glaubte, dass Franks Lächeln jede Frage nach seinem Gemütszustand abwehren sollte. Es war sozusagen die vorweggenommene Antwort auf die Frage »Wie geht es dir?«. Frank trug seine braunen Haare nicht kurz, wie Klaus, sondern bis über die Ohren. Vielleicht sollten sie ihn vor lauten Geräuschen schützen. Er war auch etwas fülliger, besonders im Gesicht, und seine Nase war weit weniger auffällig als die seines Freundes, nur der Mund und das Kinn, die stachen wie bei Klaus hervor. Frank wirkte für sein Alter sehr beherrscht, er wäre auch als der ältere Bruder von Klaus durchgegangen.

      Der Vater von Klaus, Genosse Friedrich Behrens, war im Ministerium für Gesundheitswesen als Sektorenleiter für die technische Ausstattung von Krankenhäusern zuständig. Da gab es keinen allzu großen Spielraum, um schöpferisch tätig zu werden, geschweige denn eigene Vorstellungen über eine moderne Klinik umzusetzen. Jede Veränderung birgt das Risiko des Scheiterns in sich, war eine seiner Lebensweisheiten. Eines Morgens fand er sich allein in der Wohnung wieder. Verständnislos blickte er um sich und lauschte in die Stille. Nachdem seine Mutter verstorben war, pflegte Klaus zu sagen: »Unsere Familie war erst ein musikalisches Trio, in dem jeder eine Solopartie spielte. Danach spielten wir als Duo weiter.« Klaus wurde das alles bestimmende Thema in Behrens’ Leben. Um ihn kreisten seine Gedanken, er wurde sozusagen sein wichtigstes Aufbauwerk. Dirk Behrens war nicht nur alleinerziehender Vater, sondern auch engster Freund und in alle Sorgen, Wünsche oder Pläne des Filius eingeweiht. Was Herrn Behrens an Gestaltungsspielraum im Beruf fehlte, fand er im Leben seines Sohnes. Klaus wiederum befand sich in der komfortablen Situation, im Vater und Frank, seinem Bruder im Geist, zwei treue Gefährten an seiner Seite zu wissen. Zufrieden schmunzelnd verglich er die beiden mit Rettungssanitätern, die sich in ständiger Bereitschaft befanden. Fiele einer aus, stünde der andere bereit. Klaus’ Vater wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es für Klaus eine Person gäbe, die wichtiger als er sein könnte.

      Klaus und Frank hatten vor zwei Jahren eine große, aber heruntergekommene Wohnung in der Oderberger Straße ergattert, nachdem sie dem Wohnungsamt versprochen hatten, sie instand zu setzen. Sie lag in einer Gegend, die von keinem Wohnungsbauprogramm erfasst wurde, unweit der Schönhauser Allee und der U-Bahn-Station. Keine zwei Minuten von ihrer Wohnung entfernt stand die Mauer, hinter der sich der Westen verbarg. Die Zusage durch das Wohnungsamt hatte ein Hinweis der Humboldt-Universität erleichtert, wonach Frank zukünftig im Schichtbetrieb des Rechenzentrums tätig sein würde. Doch als sich Frank beim Wohnungsamt meldete und ansetzte, der Sachbearbeiterin seine Tätigkeit zu erläutern, winkte diese ab. »Ich bin informiert«, beschied sie ihm mit kühlem Blick. Er rief seine Mutter an und erzählte ihr von seinem Besuch. »Ja, mein Sohn, wenn jemand darauf hinweist, dass seine Kinder Kaderreserve sind, haben die gewissermaßen ein Ass im Ärmel«, sagte sie nur. Es dauerte nicht lange, bis bei Frank der Groschen fiel und er begriff, dass es Klaus’ Vater war, der darauf hingewiesen haben musste.

      Das Leben der zwei Freunde begann sich im Juni 1980 zu verändern, als sie ihre erste berufliche Bewährungsprobe zu bestehen hatten. Die groß angelegte klinische Studie zur Herzschrittmachertherapie war durch das Ministerium für Gesundheitswesen veranlasst worden. Republikweit waren vierundachtzig Kliniken beteiligt. Die Patienten wurden in einem zentralen Register in der Klinik für Innere Medizin erfasst. Es liefen anamnestische Daten von Hunderten Patienten ein und der Auftrag lautete, sie systematisch aufzuarbeiten. Selbst Ergebnisse der seit Jahren in der DDR durchgeführten Volksröntgenreihenuntersuchung (VRRU) sollten einbezogen werden. Das rief zwar bei einigen Ärzten Zweifel hervor, da sie Röntgenaufnahmen bisher nur zur Abklärung von Lungenkrankheiten abgefordert hatten, doch der leitende Bezirksarzt Dr. Tämpel aus Potsdam hatte nachdrücklich darauf verwiesen, dass bei acht bis zehn Prozent der DDR-Bevölkerung, die in der VRRU erfasst würden, röntgenpathologische Befunde erhoben würden, die auf eine Herzerkrankung hinwiesen. Das waren immerhin 1,2 bis 1,3 Millionen Bürger. Gesundheitspolitisch hochbrisant, befand das Ministerium, und gab den Weg frei.

      Die Verantwortlichen in der Regierung hatten festgelegt, dass jeder Bürger gleich welchen Alters einen Anspruch auf einen Schrittmacher haben sollte. Das unterschied ihre Bürger von denen in den Bruderländern Polen oder Ungarn, dort musste man sich nämlich ab dem sechzigsten Lebensjahr allein auf sein Herz verlassen, einen Schrittmacher gab es nur bis neunundfünfzig. Es passte gut in die Planung, dass ein neues Modell, bezeichnet mit dem Kürzel LCP 202–VVI, aus dem VEB Transformatoren- und Röntgenwerk »Hermann Matern« in Dresden zur Auslieferung in die Bezirkskrankenhäuser bereitstand. Und interdisziplinäre Forschung war auch gefragt, weil Forschungsergebnisse schneller praxiswirksam werden sollten. Vor diesem Hintergrund fanden Klaus und Frank in dem Projekt ihren Platz. Klaus hatte die Auswertung klinisch-biochemischer Parameter zu verantworten, Frank als Informatiker einen Algorithmus zur Stratifizierung der Patienten zu entwickeln, um ihr Herzkreislaufrisiko zu klassifizieren. Den klinischen Teil vertrat der Kardiologe Dr. Peter Wohlfahrt, der auch die Implantation der Schrittmacher vornahm. Zusammen bildeten sie das medizinisch-naturwissenschaftliche Rückgrat des Projekts. Als sie sich das erste Mal zu einer Besprechung trafen, war besonders Klaus etwas irritiert von der kühlen Art Wohlfahrts, der nur das Notwendigste sagte und den Anschein erweckte, als würde er im Stillen die Minuten abzählen, die er für die Sitzung eingeplant hatte. Der Unterschied zum extrovertierten Klaus hätte nicht größer sein können. Frank gefiel die Art des Arztes, mit der Zeit sorgsam umzugehen, sich nicht mit Allgemeinplätzen abzugeben und seine Meinung in klare Sätze zu kleiden.

      »Der Peter