Schrittfehler. Richard Grosse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Grosse
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959588034
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biss sich leicht auf die Lippen und nahm an der anderen Stirnseite Platz. Frank saß nun Renate direkt gegenüber. Es wurde ein entspannter Abend, obwohl Lothar wie aufgezogen redete. Renate lobte mit einem anerkennenden Blick auf Klaus die Kartoffelbällchen, während Frank mit gesenktem Kopf seinen Teller leerte.

      Bäsler funktionierte wie ein Spielautomat, der mit jedem Münzeinwurf ein neues Stück abspielte. Den Männern war es nur recht, konnten sie sich doch in Gedanken Renate widmen. Frank sah ihr von Zeit zu Zeit in die Augen, sie erwiderte seine Blicke, ohne zu verraten, welche Gedanken sich hinter ihrer schönen Stirn verbargen. Klaus konnte sie nur von der Seite betrachten, es kostete ihn einige Anstrengung, sich dem Wunsch zu widersetzen, sich zu ihr zu drehen. Manchmal warfen sich Klaus und Frank einen verstohlenen Blick zu, als versuchten sie, die Gedanken des anderen zu erraten. Jedes Mal, wenn sie Frank ein sanftes Lächeln schenkte, glaubte er, seine Herzschläge würden Bäslers Bariton übertönen.

      »Sag mal, Lothar, kannst du auch einen Schrittmacher ins Herz verpflanzen?«

      Renates Frage kam so unerwartet und leise, als würde sich ein Kind nach einer Krankheit erkundigen.

      »Renate, ich bitte dich: Ich entferne Tumore, verlege oder repariere Organe, schließe Wunden und lege Nähte. Na klar kann ich das, wenn ich’s mir einmal angesehen habe.«

      »Und umgekehrt, kann Peter ein Organ verlegen?«

      Lothar stieß ein triumphierendes Lachen aus.

      »Nee, kann er natürlich nicht so ohne weiteres. Ich kann aber auch nicht am Herzen operieren«, fügte er wie zum Schutz seines Kollegen hinzu. »Die Chirurgie ist kein Zehnkampf, wo man sich die Wettbewerbe mal so einfach antrainieren kann.«

      »Lothar, mich interessiert nur, ob es gefährlich ist, einen Draht ins Herz zu schieben und sein halbes Leben lang mit einem Metallblock rumzulaufen.«

      Ihre Stimme klang jetzt wie bei dem Telefonat, als Frank sie kurz vor Dienstschluss anrief. Als würde sie Klaus und Frank eine verschlüsselte Botschaft schicken, setzte sie fröhlich hinzu:

      »Peter spricht nie mit mir über seine Arbeit. Leider. Er ist dann immer zu kaputt, wenn ich etwas von ihm erfahren will.«

      »Ich glaube, dass die Technik so weit entwickelt ist, dass man da nichts befürchten muss. Die Elektroden sind wohl importiert und die Batterie im Herzschrittmacher kommt aus Pirna von der Fahrzeugelektronik, die sind Weltspitze.«

      »Batterie«, seufzte sie, »hoffentlich nicht die vom Trabbi.«

      Die Männer lachten und trampelten mit den Füßen, Frank und Klaus starrten sie aus verliebten Augen an. Frank verspürte eine Schwingung in der Herzgegend, als säße dort eine Elektrode. Klaus hatte versehentlich die Arme ausgefahren und Renates Hand gestreift. Er zuckte wie vom Blitz getroffen zurück, Renate tat, als hätte sie nichts gemerkt und sah munter in die Runde.

      »Frank, wie würde denn eine Elektrode in mein Herz kommen?«, dehnte sie das Thema weiter aus und beugte sich leicht nach vorn, mit erhobenen Brauen Frank in Augenschein nehmend.

      Ihr Blusenausschnitt kam ihm gefährlich nahe und seine Lippen öffneten sich erstaunt.

      »Na, was ist, Frank, als Ingenieur verlegst du doch Leitungen«, sagte sie im Brustton der Überzeugung und strahlte ihn unbekümmert an, während er irritiert auf seinem Stuhl umherrutschte.

      »Das ist eine Frage an den Arzt, Renate, nicht an den Informatiker«, brachte sich Lothar in Erinnerung.

      »Na ja, wir wollen hier ja kein Seminar abhalten«, wiegelte Renate ab und legte wie eine umsichtige Erzieherin kurz ihre Hand auf seinen Arm.

      Lothar fühlte sich in seinem Element und lehnte sich über seinen Teller in Richtung Renate. Er tippte mit dem rechten Zeigefinger zuerst auf ihren Halsansatz, um ihn dann langsam in Richtung Blusenausschnitt zu bewegen, als markierte er eine Linie für den chirurgischen Eingriff. Renate schnappte sich seine Hand und drückte sie energisch auf die Tischplatte. Frank und Klaus hatte der Atem gestockt.

      »Ich liege nicht auf deinem OP-Tisch«, ermahnte ihn Renate sanft. »Sag’s in drei Sätzen.«

      Lothar schluckte einmal und sah leicht pikiert auf sein übrig gelassenes Kartoffelbällchen.

      »Man setzt hier am Hals einen leichten Schnitt, so dass man die Elektrode und den Draht in die Vene, die zum Herzmuskel führt, einfädeln kann. Musst du dir vorstellen, wie wenn du im Hosenbund einen neuen Gummi einziehst.«

      »Und wo versteckst du den Schrittmacher?«, unterbrach ihn Renate.

      »Hier«, antwortete er und wollte sie erneut an den Hals fassen, besann sich aber rechtzeitig und tippte auf sein Schlüsselbein.

      Renate zuckte nur mit den Achseln, als wäre das Thema für sie beendet, und drehte sich zu Klaus.

      »Sag mal, verändert etwa der Schrittmacher das Blutbild?«

      Lothar prustete los und Frank verzog den Mund bis an die Ohren. Wie frisch Verliebte strahlten sie Renate an.

      »Hm, das sicher nicht«, nahm Klaus nach einem kritischen Augenaufschlag in Richtung Frank wieder das Wort. »Aber viele Patienten hatten vor ihrem Schrittmacher einen Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, Bradykardie und andere Auffälligkeiten. Mich interessiert, ob infolge der Schrittmachertherapie irgendwelche Verbindungen im Blut auftauchen, die den Heilungsprozess charakterisieren. Wenn’s die gäbe, könnte man sie vielleicht als Marker einsetzen.«

      Klaus verschob seinen Oberkörper, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Sie hob den Kopf und sprach leise wie zu sich selbst:

      »Du willst dir also die Patienten vor und nach der Schrittmachertheraphie ansehen und rauskriegen, warum es geklappt hat, beziehungsweise, ob bei einigen, wo sich nichts tut, was im Blut fehlt. So als würde ich rauskriegen wollen, warum meine Gurkenmilch manchen Frauen hilft, anderen leider nicht. Vielleicht haben die einen auch was im Blut, das meine Kosmetika brauchen, um zu wirken.«

      »Hm, könnte man so sagen«, murmelte Klaus, der ergriffen den merkwürdigen Vergleich mit der Gurkenmilch in sich aufnahm.

      Renate unterdrückte ein Gähnen und rieb sich wie zum Zeichen des Aufbruchs die Oberschenkel, entschied sich dann doch noch etwas zu bleiben, und die Unterhaltungen plätscherten noch einige Minuten dahin.

      »Nun ist’s aber Zeit zu gehen«, verkündete sie schließlich, sprang vom Tisch auf, schubste Lothar sanft an die Schulter und bewegte sich zügig zum Ausgang.

      An der Haustür reichte sie den Jungen routiniert ihre Wange und rief ihnen vom Treppenabsatz zu:

      »Bis bald, dann wieder bei mir.«

      Klaus und Frank standen unbeholfen vor ihrer Wohnung, Renates letzten Satz auf eine versteckte Botschaft hin untersuchend.

      Das Treffen mit Lothar Bäsler und Renate lag einige Zeit zurück. Seitdem hatte sich das Leben der Busenfreunde so umgekrempelt, dass ihnen ihr Leben wie eines vor Renate Wohlfahrts Erscheinen und eines danach vorkam. Renate war die Quelle eines unüberbrückbaren Konflikts geworden: Keiner wollte auf sie verzichten, eher würde jeder der beiden ihre Freundschaft aufs Spiel setzen. So geschah es, dass sie sich eines Abends die Hand reichten, kurz auf die Schulter klopften und wie vor einer längeren Reise Abschied voneinander nahmen. Frank hatte sich seit einigen Wochen intensiv um eine eigene Wohnung bemüht. Die Universität verfügte über ein Wohnungskontingent, das ihm die Zuweisung einer Einzimmerneubauwohnung unweit des Ostbahnhofs bescherte.

      »Das kann ich einfach nicht ablehnen«, rechtfertigte er seinen Auszug, sich Renates Besuche ausmalend.

      Klaus hatte sich in den vergangenen Wochen stark verändert. Er war unkonzentriert, und wenn er seinen Vater besuchte, musste der einige Fragen wiederholen, ohne eine befriedigende Antwort zu erhalten. Klaus saß zwar neben ihm, war aber in Gedanken woanders. Manchmal sah er ins Leere, als suchte er nach einer Erinnerung. Einmal öffneten sich seine Lippen leicht, wie um einen Rat bittend. Es waren kurze Momente einer kindlichen Hilflosigkeit, die sein Vater von ihm nicht kannte. Er hegte keine Zweifel, dass