Frank hob den Kopf und lauschte. Im Hintergrund nahm er merkwürdige Geräusche wahr. Er stand auf, sah in den Korridor und schlenderte langsam in Richtung des Lärms. Sie arbeiteten noch mit dem Großrechner Robotron 300, der Ende der sechziger Jahre in der DDR hergestellt wurde und nicht gerade geräuschlos lief. Die Tür zum Rechnerraum war wie immer verschlossen, aber die eingelassene Glasscheibe gewährte einen Blick auf die Datenverarbeitungsanlage. Er linste durch das Fenster und sein Lächeln wurde noch breiter als gewöhnlich. Kaum war der Chef in den Feierabend entschwunden, machte sich das Kollektiv oft selbstständig, heute wieder einmal auf Rollschuhen. Irgendwann einmal war jemand auf die Idee gekommen, dass man die ungenutzten Freiflächen zwischen Rechner, Paralleldrucker und Regalen als Sportfläche nutzen könnte. Eines Tages hatte es eine Panne gegeben, da hatte das beliebte Zweier-Verfolgungsrennen den Rechner lahmgelegt, seitdem war man vorsichtiger geworden und fuhr ruhige Runden. Frank wartete noch eine Runde, um die sich auseinanderschiebenden Beine der Frauen ein weiteres Mal zu betrachten, und ging dann zurück in sein Zimmer.
Sein Paralleldrucker stanzte in furiosem Stakkato Zahlenkombinationen, die sich als Papierschlangen im Auffangkorb stapelten. Wahnsinn, dachte er, vielleicht kann ich aus den Daten die Lebenserwartung der Leute abschätzen. Dann rufe ich sie an: »Hallo, Sie leben nur noch drei Jahre, schonen Sie sich nicht, lohnt nicht mehr.«
Seit dem Morgen lag das aufgeschlagene Telefonbuch wie eine Mahnung vor ihm. Ja, sagte er sich, jetzt kann ich noch anrufen, in einer halben Stunde wird’s zu spät sein. Er notierte sich die Nummer, klappte das Telefonbuch zu und schob es wie eine lästige Akte zur Seite. Er zog das Telefon an sich und gab langsam die Nummern ein. Die Scheibe drehte sich und mit ihr etwas in seinem Schädel. Sie wird mich abwimmeln, ich Blödmann, warum mache ich das. Das Tuten an seinem Ohr erinnerte ihn daran, gleich reden zu müssen. Sollte ich nicht besser auflegen?, dachte er aufgeregt, aber da meldete sich bereits Renate. Er hatte Glück, das Sekretariat war nicht besetzt und so landete sein Anruf direkt bei ihr.
»Wohlfahrt am Apparat.«
Er kniff die Augen zusammen, als hätte er sich verhört. Ihre Stimme hatte er ganz anders in Erinnerung. An sein Ohr drang ein kühler Ton, der ihn an eine Sekretärin erinnerte, die kurz vor Feierabend ein letztes Gespräch entgegennehmen muss.
»Ja, ich bin’s, Frank, äh, störe ich?«, stammelte Frank in den Hörer.
»Oh. Welche Überraschung! Der Mann mit den Vorhersagen. Wie geht’s dir?«
»Na, so ganz gut«, stammelte Frank und überlegte, welche Vorhersagen ihre mandelförmigen Augen im Blick hatten.
»Und, hast du dem Peter die ersten Herzpatienten ans Messer geliefert?«
Sie sprach jetzt wieder mit dem spöttischen Unterton wie an dem Abend auf dem Sofa, als sie sich munter die Gewichtstabelle erklären ließ.
»Wir machen Fortschritte, kann bald losgehen.«
Es hörte sich an, als würde er seinem Chef einen Produktionsstart ankündigen.
»Was kann losgehen und wer ist wir? Doch du und dein Rechner, nicht?«
Frank lauschte ihrer Stimme hinterher und blies leicht die Backen auf. Plaudert sie unbeschwert daher oder sagt sie mir etwas durch die Blume? Er atmete tief durch.
»Ich rufe dich doch nicht an, um dir von meinen Rechnerprogrammen zu erzählen«, entschloss er sich zu einem zaghaften Vorstoß.
Er legte eine Pause ein, aber sie schwieg und wartete auf das Satzende. Sie saß schmunzelnd auf ihrem kunstledernen Bürosessel und spitzte die Lippen wie zum flüchtigen Begrüßungskuss. Ja, Frank, du musst schon selber sagen, was du möchtest, dachte sie. Hast doch sicher ein Programm im Kopf.
»Ich will mich erstmal für den Abend bedanken, auch für das Essen«, setzte er erneut an.
Da kann er sich bei Peter bedanken, sagte sich Renate und schickte ein leichtes »Hm« durch die Leitung.
»Vielleicht können wir uns revanchieren?«
Renate klatschte im Stillen Beifall: Auf die Idee war sein Freund nicht gekommen.
»Gern, wo wollen wir uns denn treffen?«
Erneut stockte Frank der Atem: Das wir klang, als würde sie ihn und sich meinen. Kann nicht sein, wies er sich zurecht.
»Nun, ihr könnt ja mal zu uns kommen. Zum Abendessen?«
Renate sah das eingerahmte Kornfeld vor sich an der Wand und irgendetwas versetzte sie in leichte Schwingungen. Fast so, als würden im warmen Sommerwind einige Halme ihre Haut streifen.
»Natürlich komme ich«, rief sie vergnügt.
Frank fiel sofort auf, dass sie in die Ich-Form gewechselt hatte. Da hat sie sich wohl versprochen, schlussfolgerte er.
»Wollen wir einen Tag vereinbaren? Wann klappt es bei euch?«, fragte Frank, mit Bedacht den Plural wählend.
»Lass uns morgen nochmal telefonieren. Wahrscheinlich an einem Freitag oder Sonnabend, ja?«
Seit seinem bestandenen Einstellungsgespräch als Informatiker hatten ihm die Wangen nie wieder so geglüht. Wie um etwas abzustreifen, schüttelte er die Schultern und verabschiedete sich betont lässig:
»Klar doch, Renate, ich rede auch noch mit Klaus. Dann also bis morgen. Um dieselbe Zeit?«
»Mach das. Schönen Abend, euch beiden.«
Er hörte ein wenig dem durchgehenden Tuten zu. Ich muss aufpassen, schwor er sich. Sie ist verheiratet, mit meinem Kollegen, lass die Finger von der Braut. Aber er sprach zu sich wie zu einem anderen Menschen. Er saß eine Weile ratlos vor dem Telefon, bis ihm einfiel, was er tun wollte. Er wählte die Nummer seiner Mutter, diesmal mit ruhigem Herzschlag.
»Hallo Mama«, meldete er sich betont forsch.
»Frank, du? Ist was passiert?«
Es kam nicht oft vor, dass er sie während der Arbeit anrief, eigentlich nur, wenn er etwas auf dem Herzen hatte oder krank war. Krank war er so gut wie nie.
»Nein, wollte nur mal Guten Tag sagen, nichts weiter.«
»Hm, und Klaus, auch alles bestens?«, fragte sie und schnitt versehentlich ein unpassendes Thema an.
Frank zögerte und rieb sich die Stirn. Sie sah ihren Sohn vor sich, wie er auf dem Stuhl saß und nachdenklich die Backen aufblies.
»Kannst du dir vorstellen, wir haben beide, Klaus und ich, dieselbe Frau kennengelernt. Haben uns beide, na ja, du weißt schon …«, druckste er herum.
»Ja, und was bedeutet kennengelernt«, hakte seine lebenstüchtige Mutter nach.
Sie war es gewohnt, Fragen nicht im Raum stehen zu lassen, dazu war keine Zeit in ihrem Kindergarten. Kinder wollen immer und sofort eine Antwort.
»Wir