Schrittfehler. Richard Grosse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Grosse
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959588034
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im Kreißsaal des Krankenhauses am Friedrichshain. Am Handgelenk hing ihr Bändchen mit den Namen Behrens und Schuster, die erschöpften Mütter schliefen. Als sie aufwachten, sagte man ihnen, dass sie einen Jungen geboren hätten, und die Mütter nannten der Schwester die Vornamen ihrer Söhne. Wie Zwillingsbrüder lagen sie schlafend nebeneinander in ihren Bettchen. Beide wogen um die 3500 Gramm, auffallend waren ihre vorgeschobenen Lippen, eine Schnute, die ihrem Gesicht etwas Herausforderndes verlieh. Klaus Behrens und Frank Schuster sahen sich verblüffend ähnlich, soweit man das behaupten kann, wenige Stunden nach der Geburt.

      Am Abend desselben Tages standen ihre Väter unbeholfen vor einer verglasten Wand der Entbindungsstation, vor sich die Scheibe, dahinter ein leerer Raum, und warteten auf das Erscheinen ihrer Söhne. Es war jeweils ihr erstes Kind, angespannt richteten sie ihren Blick nach vorn. Sie wechselten einige Worte miteinander, um die Zeit zu überbrücken. Verlegen witzelten sie, dass es hier wie im Varieté zugehe, wo man auch darauf warte, dass jemand aus dem Vorhang tritt, um den nächsten Star vorzustellen. Schließlich öffnete sich eine Tür und zwei Krankenschwestern betraten den kleinen Raum, von dem sie die Fensterfront trennte. Jede trug ein kleines Bündel im Arm, aus dem ein Köpfchen und zwei Ärmchen ragten. Wie auf Kommando streckten die Schwestern den staunenden Vätern ihre wertvolle Fracht entgegen, als wollten sie ihnen ein Geschenk überreichen. Die Männer starrten auf die kleinen Wesen, winkten kurz und nickten mehrmals wie zur Freude über das Geschenk. Sie sahen sich kurz an, als käme ihnen gleichzeitig die Frage in den Sinn, welches Baby eigentlich zu wem gehörte. Die erfahrenen Geburtshelferinnen traten einen Schritt nach vorn und deuteten auf ein Bändchen am Handgelenk der Kinder. Daraufhin wechselten Herr Behrens und Herr Schuster ihre Positionen. Jetzt standen sie ihren Söhnen Klaus und Frank direkt gegenüber. Die Schwestern strahlten sie ein letztes Mal an und verabschiedeten sich mit einer Mundbewegung, die man als ein »Macht’s dann mal gut« lesen konnte. Die Väter waren sich auf Anhieb sympathisch und beschlossen, anschließend in der Nähe ein Bier zu trinken. Aus einem wurden mehrere und dem Abend folgten weitere. Sie wurden zwar nie enge Freunde, aber gute Bekannte. Die Familien wohnten nicht weit voneinander und besuchten sich anfangs gelegentlich. Sie achteten darauf, dass sich die Kinder sahen, und schafften es, beide im selben Kindergarten unterzubringen. Auch die Einschulung erlebten die Söhne Seite an Seite, sich bereits wie zwei Brüder fühlend. Es schien, als hätten sich die Väter an dem Tag, als ihnen die Jungen wie ein Siegerpokal entgegengehalten wurden, geschworen, sie zusammen aufwachsen zu sehen. Es blieben ihre einzigen Kinder.

      Franks Eltern ließen sich später scheiden, als die Kinder kurz vor dem Abitur standen. Frank hielt engen Kontakt zu seiner Mutter, nicht jedoch zum Vater, dem er das Scheitern ihres Familienlebens anlastete. Er war der Meinung, dass seines Vaters Lethargie und Gleichgültigkeit dazu führten, dass die Familie zerfiel. »Du hättest dich mehr um Mama als um deine Verkehrsbetriebe kümmern sollen«, sagte Frank zum Abschied.

      Obwohl sich Herr Behrens und Herr Schuster im Verlauf der Jahre aus den Augen verloren, verband sie die Freundschaft ihrer Söhne wie ein unsichtbares Band. Während Frank sich an seine Mutter hielt, zog es Klaus zu seinem Vater, den er wie einen Heiligen vergötterte. Als Klaus achtzehn Jahre alt war, starb Frau Behrens an Krebs und Klaus’ Bindung zum Vater wurde noch enger. Die beiden lebten einträchtig zusammen in ihrer Neubauwohnung am Alexanderplatz, und für den Vater war tatsächlich sein Sohn der einzige wahre Freund.

      Das war nun achtundzwanzig Jahre her, seit man Klaus und Frank vor die Scheibe gehalten hatte, und aus ihnen waren junge Männer geworden, die sorglos in den Tag hinein lebten. Beide waren hochgewachsen, mit klar geschnittenen Gesichtszügen und einem offenen Blick, der Neugierde und Lebensfreude verriet. Man spürte zwischen ihnen eine Vertrautheit, wie man sie bei Menschen findet, die sich offenbar seit Ewigkeiten kennen. Die frischen Gesichter prägten volle geschwungene Lippen, und die gleiche kleine Kerbe im Kinn verstärkte den Eindruck, auf ein zupackendes Brüderpaar zu treffen.

      Klaus war der unruhigere der beiden, und wenn man sich mit ihm in Gesellschaft befand, schien es manchmal, als müsste er jeden Augenblick zu einem wichtigen Termin aufbrechen. Eine unstillbare Neugierde trieb ihn um, gepaart mit einer gewissen Unstetigkeit, wie man sie gelegentlich bei Menschen antrifft, denen es an Geduld fehlt. Seine blonden Haare waren immer kurz geschoren, so dass die dicht anliegenden Ohren frei blieben, seine gerade Nase unter der glatten Stirn passte sich der ovalen Gesichtsform an. In seinen Zügen lag zwar noch die Harmonie der unbeschwerten Jugend, aber sobald ihn etwas quälte, gruben sich feine Falten in die Mundwinkel und deuteten an, dass er den ernsten Seiten des Lebens begegnet war. Eine Mischung aus Trotz und Angriffslust lag dann in seinem Blick und zeugte von starkem Willen. Er sprach überraschend leise, mit einer besänftigenden Stimme, wie jemand, der einen Streit schlichtet. Seine Stimme zähmte das unruhige Temperament. Während er etwas erläuterte, musterte er aus grauen Augen sorgfältig die Zuhörer. Er funktionierte wie ein vollgeladener Akku, aus dem die Energie gut geregelt abfloss. Ursprünglich wollte Klaus Medizin studieren. Das Fach kam seinem Interesse an allem Rätselhaften entgegen. Besonders zogen ihn psychologische Fragestellungen an, die er für geheimnisvoller hielt als Krankheiten, die mit der Apparatemedizin erfasst werden konnten. Eine Grippe oder einen Knochenbruch zu diagnostizieren, empfand er als langweilig, man maß das Fieber und schluckte Aspirin, oder fertigte eine Röntgenaufnahme an und legte einen Gips an. Da blieb nichts Rätselhaftes. Liebeskummer, Leid oder Neid waren nicht so leicht zu behandeln. Die Ursachen, die den einen ins Unglück reiten, während andere sie wie einen Wespenstich abtun, hätte er gern erforscht. Das Abiturzeugnis reichte leider nicht, zudem zählte er nicht als »Arbeiterkind«, ein Umstand, der ihn quasi an der Warteschlage vorbei nach vorn gebracht hätte. So wurde er an der biologischen Fakultät immatrikuliert. Während des Studiums hospitierte er in einigen klinischen Laboren, um sich sein Gefühl für die Medizin zu bewahren. Nach der Diplomprüfung bewarb er sich am Institut für Wirkstoffforschung in Berlin. Er wurde zu einem Gespräch eingeladen, und als er abends seinem Vater von dem Verlauf berichtete und ihm sagte, dass er sich nicht sicher sei, ob er die Stelle bekäme, nickte der schweigend und prostete ihm zu. Einige Tage später erhielt Klaus einen Arbeitsvertrag als wissenschaftlicher Assistent. Sein Forschungsgebiet beinhaltete anfänglich die Entwicklung neuer Psychopharmaka. Klaus war von der Arbeit begeistert, erinnerte sie ihn doch an seinen Studienwunsch und bahnte ihm den Zugang zu den Patienten.

      »Ich kann über die Wirkung meiner Medikamente eine in der Seele verborgene Unwucht aufdecken und korrigieren«, schwärmte er seinem Vater vor.

      Der Vater war ziemlich erstaunt und konnte es sich nicht verkneifen anzumerken, dass ihm gerade die Wünschelrute einfiel. Klaus winkte ab und sprach von der Zusammenarbeit seiner Abteilung mit dem Arzneimittelkombinat GERMED in Dresden und dem Weltniveau, das es zu erreichen galt. Augenblicklich glätteten sich die Unmutsfalten seines Vaters. Also doch was Handfestes, ein volkswirtschaftlich bedeutendes Projekt, schloss er für sich.

      Frank lauschte zwar ergriffen, als Klaus ihm von neuen chemischen Leitstrukturen vorschwärmte, die als »Pillen materialisiert« den Patienten Ängste, Niedergeschlagenheit oder Depressionen nehmen würden, bemerkte aber ironisch, dass der Normalbürger in der Republik doch kaum Angst vor etwas haben müsse, einen neuen Engpass oder eine Autopanne mal ausgenommen. Klaus schüttelte nachsichtig den Kopf und klärte ihn darüber auf, dass bestimmte Formen der Trauer, Angst, Verzweiflung oder Depression nicht mit der Realität zu erklären seien. Das Leben könne noch so schön sein, alles bereithalten, was man sich wünschte, sorgenfrei erscheinen und planbar wie das Auftauchen des Mondes am Nachthimmel, und doch fielen Menschen plötzlich in ein dunkles Loch.

      »Und aus dem holst du sie also mit einer Tablette wieder raus«, schlussfolgerte Frank skeptisch.

      Die Wirkungsweise von Antidepressiva interessierte ihn so wenig wie das Leben der Fledermäuse. Er wollte nicht glauben, dass es in der DDR Bürger gab, deren Schicksal von den Leitstrukturen irgendwelcher Substanzen abhing. Klaus nickte und ergänzte, dass selbst in Ländern, wo es buchstäblich alles zu kaufen gebe und die Leute sogar ins Ausland zum Jagen reisten, Menschen an Depressionen erkrankten. Das Ganze komme aus der Tiefe der Seele, sagte er, und tippte Frank auf die breite Brust. Metaphysik, befand der Ingenieur in Frank.

      Er war der praktischere von beiden und hatte trotz Einser-

      Abitur nur ein dreijähriges Studium an der Ingenieurschule für