Schrittfehler. Richard Grosse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Grosse
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959588034
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Er war nie sehr mitteilungsfreudig gewesen, galt schon immer als mundfaul. Er sprach, wenn er dazu aufgefordert wurde, und dann in knappen Worten. Nun aber beschränkte sich sein Anteil an einer Konversation auf ein leises Brummen oder Murren. Wenn man ihn bedrängte, gab er Nichtssagendes von sich. Selbst das gleichmütige Lächeln war erloschen. Er hatte an Gewicht verloren und wirkte irgendwie männlicher, als hätte er ein paar Lebensjahre übersprungen. Und es war nicht zu übersehen, dass ihn ein gewaltiges Problem begleitete. Die Kollegen im Rechenzentrum tippten auf Liebe.

      DREI

      Bircher saß mit übergeschlagenen Beinen, die Hände wie beim Fernsehen auf seinem Bäuchlein gefaltet, auf dem Besucherstuhl von Oberarzt Dr. Peter Wohlfahrt. Die Schwester hatte ihn gebeten, einen Moment zu warten. Der Raum war schlicht eingerichtet, ein leerer Schreibtisch, drei Stühle, eine Liege, keine Bilder an der Wand, keine privaten Fotos, die Atmosphäre eines Durchgangszimmers. Einzig ein Landschaftskalender mit im Wind wehenden Kornfeldern, die Bircher an van Gogh erinnerten, deuteten an, dass sich hier jemand aufhielt. Wir sind noch im September, dachte Bircher, und eigentlich wäre ich jetzt im Urlaub, stattdessen sitze ich in der Klinik. Was soll’s, wenn Angler recht hat und die drei Patienten auf natürliche Weise das Jenseits gesegnet haben, dann erfahre ich wenigstens etwas über Herzerkrankungen. Bin jetzt in den Fünfzigern, kann nicht schaden.

      »Guten Abend«, meldete sich hinter seinem Rücken eine leise Stimme.

      Bircher drehte sich überrascht um, er hatte nicht bemerkt, dass jemand ins Zimmer trat.

      »Guten Abend, ich nehme an, Sie sind Doktor Wohlfahrt.«

      »Ja.«

      Dem Arzt hing sein weißer Kittel am Körper wie ein übergeworfenes Laken. Aus der Tasche baumelte ein Stethoskop, in der Brusttasche klemmte eine Batterie von Kugelschreibern. Er setzte sich hinter seinen leeren Schreibtisch und sah müde an Bircher vorbei zur Tür, als befürchtete er das Auftauchen eines weiteren ungebetenen Gastes.

      »Sie wissen, warum ich Sie sprechen möchte?«

      »Nicht so genau, ich muss auch gleich wieder auf die Station«, brummte Wohlfahrt unwirsch.

      »Tut mir leid, Herr Doktor, dass ich Sie zu dieser Zeit aufsuche. Mir wurde gesagt, Sie hätten heute Nachtdienst und würden für mich Zeit haben.«

      Bircher deutete mit Bedacht sein Verständnis für Wohlfahrts ungnädigen Empfang an. Soll er mal mein Mitgefühl spüren, vielleicht taut er dann auf. Bircher musterte ihn sorgfältig, als wäre er der Arzt, der die Diagnose stellte. Der sieht weiß Gott nicht wie jemand aus, der jeden Morgen vergnügt aus den Federn springt, war sein erster Eindruck. Den hat Angler treffend beschrieben, als er meinte, dass Wohlfahrt einem seiner Kranken ähnelt, dem die Angst um den kommenden Tag den Schlaf raubt. Dunkle Augenringe und eingefallene Wangen, aus denen die Knochen wie kleine Hörner ragten, gaben Wohlfahrts Gesicht einen gequälten Ausdruck. Nur die blinzelnden Augen verrieten, dass er bei der Sache war. Der sagt nichts, nach dem er nicht gefragt wird, schlussfolgerte Bircher und legte sich auf eine mittelharte Gesprächsführung fest.

      »Ich werde Sie nicht lange aufhalten. In Ihrer Klinik sind in diesem Jahr drei Patienten verstorben. Wir sehen einen Zusammenhang mit dem Einsatz der Schrittmacher. Soweit ich informiert bin, werden im Rahmen der Studie zu den Herzschrittmachern, die Sie durchführen, auch neue Elektroden oder Batterien getestet.«

      »Elektroden«, bestätigte Wohlfahrt mit matter Stimme.

      »Gut, also Elektroden. Wir wurden von den Herstellern darüber informiert, dass ein plötzlicher Ausfall der Elektroden oder der Batterien eigentlich ausgeschlossen werden kann.«

      Bircher legte eine Pause ein und zog ein Notizbuch aus seinem Sakko, in dem er blätterte. Ihm waren die Namen der Kollegen entfallen, mit denen Wohlfahrt kooperierte. Der jedoch nahm an, dass ihm Bircher die Stellungnahme des Industriepartners vorlesen würde, und winkte ab. Kenne ich alles, sagte seine Geste.

      »Die Batterien können schon ausfallen, wie jede Batterie in einer Taschenlampe, die irgendwann leer ist. Die müssen dann nach einem festgelegten Zeitschema ausgewechselt werden, was in den von Ihnen angesprochenen Fällen nicht nötig war, weil die neu waren«, klärte ihn Wohlfahrt in leicht leierndem Ton auf.

      »Aha, verstehe. Und die Elektroden?«

      »Die Elektroden werden auch in anderen Häusern eingesetzt und kommen aus dem Westen. Ich habe noch nie gehört, dass ein Patient verstarb, weil die Elektrode versagte. Theoretisch denkbar wäre eine sogenannte Elektroden-Dislokation«, sagte Wohlfahrt mit einem skeptischen Blick auf Bircher, »wenn die frisch implantierte Elektrodenspitze den Kontakt zur Herzwand verliert. Die Schrittmacherimpulse erreichten dann nicht den Herzmuskel, sondern würden im umgebenden Blut verpuffen. Hätten wir auf dem EKG-Monitor erkennen können, falls ein solches Szenario eingetroffen wäre. Da war aber nichts dergleichen zu sehen«, beendete er abrupt seine wie im Selbstgespräch vorgetragenen Gedanken.

      »Sie persönlich führen die Operationen durch?«

      Wohlfahrt zeigte zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung, indem sich sein Mund einmal kurz zu einem ironischen Lächeln öffnete.

      »Ja, wer sonst.«

      »Sie schließen also jede Panne, wenn ich das mal so ausdrücken darf, aus. Was gaben Sie dann als Todesursache an?«

      »Das steht in den Unterlagen.«

      Bircher beugte sich nach vorn und kniff die Augen zusammen.

      »Ich bin hier, um Ihre Aussage aufzunehmen, nicht um Krankenakten zu studieren, Herr Wohlfahrt.«

      Wohlfahrt lümmelte sich in seinen abgenutzten Bürosessel und bedachte Bircher mit einem Blick, als müsste er ihm einen harmlosen Befund erklären.

      »Verstehe«, sagte er kühl.

      »Na dann mal los, ich möchte Sie nicht durch Ihre Nachtschicht begleiten.«

      Arrogante Zeitgenossen gehörten zu den Spezies, die Bircher nicht mochte. Schon gar nicht, wenn Sie seine Zeit raubten. Er straffte sich, fixierte Wohlfahrt mit einem warnenden Blick und stützte beide Arme auf die Oberschenkel. Grundsätzlich bevorzugte Bircher eine unaufgeregte Vorgehensweise, die seiner gemächlichen Art entgegenkam. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn zumeist für einen Angestellten eines Ministeriums, vielleicht für Versorgung oder Landwirtschaft. Er kam ja tatsächlich vom Lande, seine Eltern bewirtschafteten nebenbei einen Bauernhof und er war früher einmal Biologielehrer gewesen, bevor er zum Kriminalisten ausgebildet wurde. Das lag zwar lange zurück, aber Bircher haftete mitunter jene Behäbigkeit an, wie man sie im dörflichen Leben antrifft. Wohlfahrt schob sich aus dem Sessel.

      »Darf ich mich hinstellen? Habe den ganzen Tag operiert, das geht ins Kreuz.«

      Bircher wollte schon sagen, meinetwegen können Sie auch im Liegen reden, wenn’s nur bald losgeht. Beide erhoben sich und standen sich wie zwei Duellanten gegenüber. Wohlfahrt umkurvte seinen Gast und sprach in den Raum:

      »Die Patienten, es sind drei Männer, alle über die sechzig, gehörten der Hochrisikogruppe an.«

      »Hochrisikogruppe, können Sie das einem Laien erklären?«, unterbrach ihn Bircher unwirsch.

      »Bei den Patienten liegt eine besonders gravierende Herzrhythmusstörung vor, ein AV-Block dritten Grades. Die elektrischen Signale erreichen im schlimmsten Fall gar nicht mehr die Herzkammer. Infolgedessen sinkt die Herzfrequenz dramatisch. Sie merken es am Puls, der setzt aus oder schlägt extrem langsam, weniger als fünfzig Schläge. Die Patienten müssen dann sofort reanimiert werden, um eine normale Herzfrequenz sicherzustellen. Sie erhalten einen Herzschrittmacher, weil der die Funktion des elektrischen Impulsgebers übernimmt. Er sorgt für siebzig Herzschläge pro Minute.«

      Wohlfahrt hatte so leise gesprochen, dass sich Bircher direkt neben ihn stellen musste. Ihm war, als röche er ein Desinfektionsmittel, und er trat einen Schritt zurück.

      »Hm. Wie lange lagen die bei Ihnen mit dem Schrittmacher?«

      »Alle zwei bis drei Tage. Unser letzter Verstorbener hätte am Morgen nach