Da wir uns lieben. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711718445
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Er wandte sich zur Tür.

      Arnold ertrug es nicht länger. Er konnte sich das alles so bildhaft vorstellen: die verschlossene Wohnung, die aufgeregten Nachbarn, das Getuschel und endlich der Entschluß, die Tür aufzubrechen, drinnen die entseelten Körper – vier Menschen, die sterben mußten, weil Egon zu leichtsinnig und er, Arnold, allzu gewissenhaft gewesen war. Mußte nicht in dieser Situation das Menschliche vor allen anderen Überlegungen Vorrang haben? Egon war schon im Flur, als Arnold ihn zurückrief. »Moment noch, ich sehe einen Weg, wie ich dir helfen kann. Fünfzig Mille könnte ich bis morgen aufreißen. Würde das genügen?«

      Egon starrte ihn an. »Das grenzt ans Wunderbare!«

      »Du würdest dir also die restlichen Tausender…«

      »Aber ja, ich sage dir doch… sofort! Hör mal, du machst doch nicht etwa Witze mit mir? Woher willst du das Geld nehmen?«

      »Darüber möchte ich nicht sprechen, und ich bitte dich auch, kein Wort darüber zu verlieren… zu keinem Menschen… daß ich dir geholfen habe.«

      »Nein, natürlich nicht, das ist doch Ehrensache.«

      »Gut. Dann treffen wir uns morgen früh auf der Bank.«

      Egon zögerte. »Geht es nicht andersherum? Könntest du mir nicht das Geld zum ›Zentrum‹ bringen? Es würde einen schlechten Eindruck machen, wenn der Prüfer kommt und ich…«

      Arnold schnitt ihm das Wort ab. »Also gut, ich bringe es dir. Kannst du es denn überhaupt unauffällig wieder zurückerstatten?«

      »Ohne weiteres. Ich habe mir eine komplette Tageseinnahme unter den Nagel gerissen, weißt du. Ich brauche die Summe also nur in den Tresor zu legen und zu behaupten, ich hätte sie nicht zur Bank gebracht, wie es üblich ist, sondern als Reserve zurückbehalten. Das wird diesem Menschen nicht sehr einleuchten, nehme ich an, aber er kann mir keinen Strick draus drehen.«

      »Hoffen wir’s.«

      »Aber bestimmt nicht. Denk nur daran, daß du mir das Geld nicht in Tausendern lieferst, sondern in verschiedenen Scheinen und auch Münzen – je unterschiedlicher, desto besser.«

      »Auch das sollst du haben.«

      »Ich weiß, daß ich dir da allerhand zumute, Arnold, aber dafür… du ahnst nicht, was ich empfinde.« Egons Stimme klang erstickt. »Du hast mich buchstäblich im letzten Moment vom Galgen abgeschnitten. Wenn ich dir jetzt sagen würde, daß ich dankbar bin, so ist dankbar gar nicht der Ausdruck… es gibt kein Wort dafür.«

      »Laß es gut sein«, sagte Arnold, »ich tue es ja nicht nur für dich, sondern mindestens so sehr für Rosy und die Kinder, und schließlich auch für Ilona, denn ein Skandal in der Familie könnte ihre ganze schöne Verlobung zum Platzen bringen. Letzten Endes helfe ich dir also aus Egoismus und einfach deshalb, weil mir keine andere Wahl bleibt.« Er sagte das nicht nur, um Egon von einer übergroßen moralischen Verpflichtung zu entbinden, sondern auch, um der Bitterkeit Luft zu machen, die er ihm gegenüber tatsächlich empfand. Doch Egon war viel zu glücklich über die Wendung der Dinge, um das herauszuhören.

      Sabine hatte in Rosy keine interessierte Zuhörerin für ihren Bericht von Ilonas Verlobung und dem sagenhaften Reichtum der Zinners gefunden; es hatte sich kein rechtes Gespräch in Gang bringen lassen, und so war sie froh, als die Männer auf die Loggia zurückkehrten. »Kommt, setzt euch zu uns!« rief sie. »Was kann ich dir anbieten, Egon?«

      »Gar nichts, Biene. Lieb von dir, aber wir müssen weiter.«

      Sabine stand auf. »Schon? Und ich dachte, ihr würdet zum Abendbrot bleiben.«

      »Ein andermal mit Vergnügen, aber jetzt haben wir noch was vor.« Er reichte Rosy die Hand. »Komm, Liebling, rapple dich hoch… dein Hut sitzt übrigens schief! Nimm ihn ab oder rück ihn gerade.« Er zog seine Frau hoch. »Wo sind die Kinder?«

      »Moment, ich hole sie!« Sabine ging um die Hausecke herum, und was sie sah, verschlug ihr den Atem. Die Zwillinge hatten die kleine Tanne über und über mit Dahlienblüten und Dahlienknospen besteckt. Jetzt standen sie, Hand in Hand, mit schräg geneigten Köpfen da und betrachteten ihr Kunstwerk.

      »Andy… Chris!« Die Stimme wollte Sabine nicht gehorchen. »Wie konntet ihr!«

      Die Jungen drehten sich zu ihr um. »Ist er nicht schön?« rief Andy.

      »Ein hichtiger Weihnachtsbaum!« jubelte Chris. »Jetzt müssen wir alle ›O Tannenbaum‹ singen!«

      »Nein«, sagte Sabine, »nichts von alledem. Ihr müßt nach Hause.«

      »Aber es ist doch noch Kuchen da«, erinnerte Chris.

      »Wir können eine schöne Bescherung machen«, schlug Andy vor.

      Jetzt kam Egon hinzu und sah, was seine Söhne angerichtet hatten. »Ihr seid mir feine Schlingel!« Er versuchte, recht böse zu sein, konnte aber nur mit Mühe seine Belustigung unterdrücken. »Schämt ihr euch denn nicht? Ihr wißt doch genau, daß ihr keine Blumen ausrupfen dürft… hundertmal habe ich euch das schon gesagt!«

      »Wir wollten euch doch nur Übehaschen!« verteidigte Chris sich und den Bruder.

      »Laß nur«, bat Sabine mit Überwindung, »es nutzt ja jetzt doch nichts mehr. Der wirklich Schuldige ist außerdem Sven. Er hätte ja auf sie aufpassen sollen.«

      »Ich schicke dir zum Trost die schönste Orchidee, die ich auftreiben kann.«

      »So ein Unsinn!« wehrte Sabine ab, Tränen in den Augen. »Dann schon lieber ein Lebensmittelpaket aus dem Einkaufszentrum.«

      »Wird gemacht.« Egon zog seine Schwester an sich und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Sei nicht traurig, es gibt schlimmere Dinge, glaub mir.«

      »Als wenn ich das nicht wüßte, nur… es war ein solcher Schock.«

      Egon sah sich um. »Wo steckt Sven?«

      »Liegt hinter den Johannisbeerbüschen und schmökert. Den brauchst du nicht zu suchen.« Sie seufzte. »Manchmal denke ich: man muß seine Kinder sehr lieben, um sie ertragen zu können.« Egon lachte.

      Knut Miller hatte Sonntagsdienst im Kreiskrankenhaus, eine Verpflichtung, die unter den jungen Medizinern aus verständlichen Gründen wenig beliebt war, besonders dann, wenn, wie heute, der Chef der Klinik, Dr. Ernst Kettner, diensthabender Arzt war.

      Dr. Kettner war seinen Assistenten und Volontären gegenüber von unnachsichtiger Strenge. Man sagte ihm nach, daß er sich durch das gebieterische Regiment, das er in der Klinik führte, für die Demütigungen entschädigen müsse, die ihm von seiner Gattin, Tochter eines einflußreichen Politikers, zugefügt würden. Für ihn war der Sonntagsdienst ein Greuel, und seine Laune war dementsprechend. Er haßte es, wenn die Besucher in hellen Haufen das Krankenhaus überfielen, die Patienten – so sah er es jedenfalls – aufregten und beunruhigten, sie zu Diätsünden verführten und ihn selbst womöglich noch mit dummen Fragen belästigten.

      Sein schönster Moment war es, wenn die Turmuhr endlich sechs schlug. »Sehen Sie zu, daß Sie die Leute rausbringen, Miller«, befahl er, »aber ein bißchen dalli, wenn ich bitten darf.«

      »Wird gemacht, Herr Chefarzt«, erwiderte Knut vergnügt und salutierte, Hand an der Stirn, obwohl er sehr gut wußte, daß Dr. Kettner für dergleichen Späße nichts übrig hatte; aber er mußte sciner Freude darüber, daß dieser ungute Tag für ihn nun bald ein Ende hatte, Luft machen.

      »Hören Sie auf, den Clown zu spielen«, sagte Dr. Kettner Unwillig, »das ist eines angehenden Arztes unwürdig.«

      Knut grinste nur und verzog sich. Die Aufgabe, die vor ihm lag, war leicht genug zu erfüllen. Die Besucher wußten ohnehin, wann sie sich zu verziehen hatten, die meisten taten es nicht einmal ungern und verabschiedeten sich rasch und mit dem erhebenden Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben. Wenn aber doch einmal einer Mutter die Trennung von ihrem Kind, einem Mann der Abschied von seiner Frau schwerfiel, dann genügte es, wenn »der Herr Doktor« eintrat, um stirnrunzelnd einen