Als Kind liebte Sofia den ausladenden Nussbaum, dessen Blätter bitter rochen, wenn man sie zwischen den Fingern zerrieb. Sie mochte es, wenn die ersten Nüsse, deren grüne Schale noch schwer abzulösen war, vom Baum fielen. Noch schwieriger war es, die harte, feuchte Nuss zu öffnen. Und danach musste man geduldig die gelbliche Haut vom knackigen, weißen Inneren abziehen, das im Herbst, wenn es trocken war, viel bitterer und lange nicht so zart und saftig schmeckte wie im Sommer.
Mitten im Hof stand eine riesige, breite, alte Linde. Wenn sie blühte, kroch ihr Geruch in die entlegensten Winkel. Er begleitete Sofia bis nach Lemberg, versteckte sich in ihren Sachen und machte sich als trockene Blüte, die aus einem zusammengelegten Rock fiel, überraschend wieder bemerkbar. Die Kinder sammelten die Lindenblüten und legten sie auf Großmutters Webteppichen am Dachboden zum Trocknen auf. Später nahmen sie die Blüten in Stoffbeutelchen, die aus irgendeinem Grund immer rot waren, mit nach Lemberg.
Neben die Blumenbeete, in denen im Sommer Dahlien, Levkojen, Astern und exotische Blumen blühten, deren Samen sie in Warschau bestellten, schüttete man den Kindern zum Spielen einen Haufen Sand. Manchmal gingen alle zusammen an eine seichte Stelle des Flusses, wo das Wasser „den Fröschen bis zu den Augen reichte“, wie die Großmutter sagte.
„Einmal ging der Großvater mit mir und meinen beiden siebenjährigen Cousinen wandern“, erzählte Großmutter Sofia Halyna. „Der Berg erhob sich gleich hinter dem Pfarrhaus, die Wanderung dauerte nur einen Tag. Wir übernachteten nicht in den Bergen, trotzdem blieb mir dieser Tag aus irgendeinem Grund sehr gut in Erinnerung. Vielleicht weil ich zum ersten Mal so weit zu Fuß unterwegs war. Der Großvater schnitt uns Haselzweige ab, die am Ende wie zu einem Griff gebogen waren, und während wir rasteten, ritzten wir mit den Fingern Bilder darin ein. Im Wald kamen wir an einer unheimlichen Schlucht vorbei, tief und dunkel konnte man ihren Grund nicht sehen, von unten wehte uns eine geheimnisvolle, schaurige Kühle entgegen. Es war, als würden im nächsten Moment böse Geister aus der Schlucht auftauchen, und wir bekamen Angst. Großvater brachte uns bei, so zu wandern, dass wir lange nicht müde wurden. Man musste die Beine richtig abbiegen und durfte auf keinen Fall beim Gehen Wasser trinken. Nur wenn man rastete. Der Großvater zeigte uns die Heuwiesen, auf die kein Vieh getrieben wurde, und die Almen, auf denen die Schafe weideten. Er lehrte uns, essbare von giftigen Pilzen zu unterscheiden. Zeigte uns, wie die Berge rauchten, wenn sich der Nebel über sie legte, und erklärte, wie man so das Wetter vorhersagen konnte: Bleiben nach Sonnenuntergang dichte Nebel, wird’s andres Wetter geben; siehst du Nebel auf Seen, kannst du auf Schönwetter bauen; Nebel, wenn er steigend sich verhält, bringt Regen, doch klar Wetter, wenn er fällt. Und vieles mehr. Auf dem Heimweg sangen wir immer wieder eine huzulische Kolomyjka:
Oj, ihr, Berge, Berge,
Gesund sollt ihr bleiben,
Dass Adler und Falken
Gerne hier halten!
Zwischen dem Pfarrhaus und dem Obstgarten, der sich bis zur Kirchenmauer erstreckte, befanden sich von Wegen durchzogene Blumenbeete, um die sich die Großmutter sorgfältig kümmerte. Zu Weihnachten wurde die in die Mitte der Beete gepflanzte Silbertanne geschmückt. Sofia brachte aus Lemberg stets in Silberpapier gewickelte Nüsse und Pralinen mit, die sie während ihres Aufenthalts bei der Großmutter selbst verspeiste. Im Winter waren die Besuche bei den Großeltern kurz, denn der Vater konnte sich in der Erkältungssaison nur für wenige Tage freimachen. Sie besuchten die Großmutter immer zum katholischen Weihnachtsfest. An diesen Tagen musste der Großvater, der Priester war, keine Messe in der griechisch-katholischen Kirche im Dorf lesen, und Großmutter Genia, die Katholikin geblieben war, betrachtete diese Feiertage als Rückkehr in ihre deutsche Kindheit. An diesem Tag sprach sie mit allen Deutsch, obwohl nur ihre Tochter, Sofias Mutter, sie verstand. Das orthodoxe Weihnachtsfest feierte Sofias Familie dann in Lemberg.
2008
„Woher ist Ihr Flugzeug gekommen? Aus Deutschland?“, fragte der Taxifahrer Halyna auf dem Weg vom Wiener Flughafen zum Hotel.
„Nein, aus der Ukraine“, antwortete sie.
„Aus der Ukraine?“ Der Taxilenker blühte auf. „Ich bin auch nicht von hier. Ich bin in Salzburg geboren, in der Stadt Mozarts. Kennen Sie die Stadt?“
„Ja“, sagte Halyna.
„Hier meine Visitenkarte, rufen Sie mich an! Ich bringe Sie überallhin, und das zu einem guten Preis. Und ich kann Ihnen das beste Restaurant der Stadt zeigen. Wollen Sie?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu:
„Dort kocht jeden Monat ein anderer Koch. Alle sind weltberühmte Starköche, die besten und bekanntesten. Jeden Monat ein anderer, und jeder unübertrefflich. Man muss ein paar Wochen im Voraus einen Tisch reservieren, und ein Mittagessen kostet um die fünfhundert Euro. Immer wenn ich es mir leisten kann, gehe ich dorthin. Denn Essen ist das Wichtigste.“
„Das stimmt“, pflichtete Halyna ihm bei.
Der Taxifahrer sprach sehr schnell und sie verstand nicht alles. Er schien ihre Gedanken zu lesen:
„Na klar, wenn Sie aus der Ukraine sind, verstehen Sie mich sicher nicht so gut. Die Deutschen und wir sprechen eine ähnliche Sprache, aber ich könnte nie in Deutschland leben, dort haben sie einfach keine Esskultur. Aber die Ukraine ist da ganz anders. Die Ukrainer haben eine sehr hohe Esskultur. Ich habe einen Patensohn, seine Familie ist aus der Ukraine nach Österreich gezogen. Ich war zweimal in Kiew. Die Esskultur dort ist hervorragend. Fast wie bei den Jugoslawen. Waren Sie in Kroatien?“
„Ja.“
„Dort legen sie auch viel Wert auf die Esskultur. Und von uns ist es gar nicht weit dorthin. Ein paar Stunden mit dem Auto, und schon ist man am Meer. Ich mache keinen Unterschied zwischen Serben und Kroaten, ich nenn sie alle Jugos. Meine jugoslawischen Freunde nehmen mir das schon lange nicht mehr übel. Und alle kochen sehr gut. Waren Sie schon mal in Deutschland?“
„Ja.“
„In Deutschland könnte ich nicht leben, dort gibt es kein frisches Essen mehr. In den Geschäften nichts als Konserven. Die Deutschen essen nur so etwas. Ich habe eine Freundin aus Deutschland. Wenn sie zu mir kommt und sieht, dass ich beim Kochen frische Lebensmittel verwende und nicht nur Konserven aufwärme, wundert sie sich. Aber essen tut sie dann für zwei. Ist nur selbst zu faul zum Kochen. In Deutschland kann man nicht einmal im Restaurant gut essen. Waren Sie dort schon einmal in einem Restaurant?“
„Ja.“
„Dann wissen Sie, was ich meine. Es ist schrecklich! Einmal habe ich dort ein Wiener Schnitzel mit Pommes bestellt. Und was glauben Sie? Ich habe ein Schnitzel bekommen, so dick wie mein Finger, vom Schwein und noch dazu wie ein Pariser herausgebacken. Wo gibt es so was? Ein Wiener Schnitzel muss hauchdünn und vom Kalb sein. Und niemand zieht es durch ein Mehl-Ei-Gemisch. Es muss paniert werden. Und nur in Butter gebraten, die lecker vom fertigen Schnitzel auf die Erdäpfel tropft, niemals in Öl. Und die Pommes? Stellen Sie sich vor, die haben Sauce über die Pommes gegossen. Ekelhaft – in Sauce aufgeweichte Pommes! Ich habe die Kellnerin gerufen und gefragt: ‚Was ist das?‘ Sie darauf: ‚Ein Wiener Schnitzel.‘ ‚Wenn das ein Wiener Schnitzel ist, wieso ist es dann nicht so zubereitet wie in Wien?‘, frage ich. ‚Wenn Sie dieses Gericht so nennen, müssen Sie es auch dementsprechend zubereiten.‘ Darauf sie: ‚Sind Sie Österreicher?‘ ‚Ja‘, sage ich. Sie lacht und meint: ‚Dann sind Sie ein Trockenesser.‘ So nennen uns die Deutschen, weil wir nicht jedes Essen mit einer schrecklichen Sauce verderben. Wir sind überhaupt keine Trockenesser. Wir essen so, wie es sich gehört, und nicht wie die Deutschen, die kein Fünkchen von Esskultur haben. Ihr Ukrainer seid da ganz anders.