Die Feierlichkeiten zu Weihnachten und Ostern hatten einen besonderen Platz in Sofias Kindheitserinnerungen. Es waren die wichtigsten Ereignisse des Jahres, die sich ihr bis ins kleinste Detail einprägten.
Die Weihnachtsvorbereitungen beschränkten sich nicht auf das Bestellen von Lebensmitteln, sondern verwandelten sich stets in ein pompöses kulinarisch-theatralisches Geschehen. Sofia liebte es, wenn die Mutter ihr erlaubte, sich zu ihr an den Tisch zu setzen, oder ihr gar die Aufgabe übertrug, die Einkaufsliste für die Feiertage zu schreiben:
- zwei Kilo Walnüsse
- ein Pfund Schokolade
- ein Kilo Mandeln
- ein halbes Pfund Aranzini
Sofia sorgte sich stets, es könnte zu wenig Leckereien geben, und fragte einige Male bei der Mutter nach, ob die Torten auch gelängen, wenn man beim Backen zu wenig Schokolade habe. Die Mutter lächelte, tadelte sie mit dem Finger und sagte:
„Zu Hause sperren wir das alles weg.“
Doch Sofia wusste, dass das nicht helfen würde, wenn es um die Plätzchen ging. Jeder Beutel würde am Ende ein bisschen leichter sein als noch im Laden. Die Mutter würde Sofia dann einen strengen Blick zuwerfen, und die würde mit den Schultern zucken, als wollte sie sagen, was soll ich tun, die Beutel haben eben Löcher! Doch die Mutter würde ihr nicht glauben und in ihren Taschen noch Wochen später Rosinen, Schokoladenstückchen und Mandeln, von denen sie die Haut hatte ablösen dürfen, finden.
Zu den Feiertagen holte die Mutter die alten Rezepthefte heraus, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Darin fand man sorgfältig niedergeschrieben, die Tinte bereits verblichen, die größten Weihnachtsgeheimnisse: auf Ukrainisch (noch mit Härtezeichen), auf Deutsch (von Sofias Großmutter Genja, der Frau eines griechisch-katholischen Priesters) und auf Polnisch (von ihrer Urgroßmutter Renata, die mit einem deutschen Advokaten verheiratet gewesen war). Die Mutter brachte Sofia bei, sich nicht allzu genau an die Rezepte zu halten und immer dem eigenen Gefühl zu vertrauen, denn die kulinarische Kunst hieß es weiterzuentwickeln – wie auch jede andere. Es war sinnlos, sie zu fragen, was und wie viel sie einer Speise hinzufügte, denn als Antwort zuckte die Mutter immer mit den Schultern und sagte: „so viel der Teig aufnimmt“ oder „nach Gefühl“. Sofia bemerkte jedoch einige Gesetzmäßigkeiten. Zum Beispiel nahm die Mutter dort, wo das Rezept mehrere Dutzend Eier verlangte, immer nur ein paar Eier und ein paar hundert Gramm Butter, wenn im Rezept ein Kilo stand.
„Soll das Wein sein?“, fragte Bronislawa gedankenversunken und zog an ihrer Papirossa, während sie die in der Weinhandlung Stadtmiller in der Krakauer-Straße gekauften Flaschen in der Vorratskammer verstaute.
Sofia begleitete Bronislawa immer in die Weinhandlung. Sie beobachtete gerne, wie die in gelbes Papier gewickelten Flaschen mit einem Miniaturlift aus dem Keller geholt wurden.
„Jede Flasche kostet ein kleines Vermögen. Der wird nur zu Weihnachten und Ostern gekauft, und man genießt jeden Schluck“, führte Bronislawa weiter aus. „Die Franzosen und Spanier würden sich krummlachen.“
Bronislawa seufzte verträumt, das machte sie immer, wenn sie an ihre Reisen dachte. Sofia wusste, dass sie nun den Fischmarkt in Barcelona vor sich sah, neben dem sie mit ihrem Geliebten, dem Archäologen, eine Zeitlang gewohnt hatte. Jeden Morgen ging Bronislawa auf diesen Markt und beäugte entsetzt die sonderbaren, noch lebenden Geschöpfe, die eben aus dem Meer gefischt worden waren. Und jeden Morgen schenkte ihr ein hübscher junger Fischer, der seinen Fang hier verkaufte, ein Gläschen Wein ein, zwinkerte ihr zu und zeigte ihr seinen besten Fisch. Vom Wein beflügelt kaufte sie alles, was er ihr anpries, notierte sein einfaches Rezept („so viel Rosmarin und Zitrone wie möglich, das ist das Wichtigste“) und trug den Fisch nach Hause, um ihn zuzubereiten.
„Ich habe es nie bereut“, erzählte Bronislawa stolz. Nie vertraute sie die Zubereitung des Fischs, den sie nur wenige Stunden vor dem Weihnachtsabend sorgfältig auswählte, jemand anderem an. Und jedes Mal beschwerte sie sich, dass man den hiesigen Fisch nicht mit Salzwasserfisch vergleichen könne. Sie feilschte begeistert, zu Hause trennte sie die Flossen mit einem scharfen Messer ab und gab sie Sofia.
Die Flossen trocknete Sofia auf dem Ofen und tauschte sie später im Hof bei einem Jungen gegen Bonbons. Noch zwei Wochen nach Weihnachten bewarfen sich die Jungen gegenseitig mit Fischflossen, manchmal bewarfen sie auch die Mädchen, denen sie auf dem Heimweg auflauerten.
Trockenfrüchte kaufte die Mutter immer im Voraus auf dem Markt, bei den Bojken aus Werchnje Synjowydne.
„Mutters Weihnachtswareniky und Krauttaschen schmeckten sehr gut, Vater röstete zum Wodka in einem Topf Zimt mit Honig an“, erzählte Großmutter Sofia Halyna und ein Schleier der Nostalgie legte sich über ihre Augen. „Alle versammelten sich um den Tisch, auch Bronislawa. Wir aßen Prosphora: zuerst Vater und Mutter, sie wünschten einander ein gutes Jahr, dann alle anderen. Es gab Borschtsch, Pfannkuchen mit Pilzfüllung, Krautrouladen und Fisch, den die Mutter für mich von den Gräten befreite. Weihnachtslieder wurden gesungen. Zunächst Allewiger Gott und Gott ist geboren, danach alle anderen. Am Morgen des Christtags achtete man penibel darauf, dass ein Mann als Erstes das Haus betrat und nicht eine Frau. Sogar die Milchfrau schickte an diesem Tag ihren Mann, selbst wenn dieser murrte, weil er eine Weiberangelegenheit erledigen musste. Doch vor der Milchfrau kam oft der Wächter mit Stroh, das er irgendwo aufgetrieben hatte, denn er wusste, dass er bei seinem Besuch ein Gläschen guten Kornbrand von Baczewski bekommen würde.“
2008
Halyna schaute aus dem Fenster und sah hübsch gekleidete Erstklässler, die am letzten Schultag Blumensträuße in die Schule trugen. Die gigantischen Schleifen im Haar der Mädchen wippten bei jedem Schritt. Mütter zerrten ihre Kinder hinter sich her und stolperten dabei auf dem unebenen Asphalt dahin. Sie wollten sich nicht verspäten, aber ebenso wenig mit den Absätzen ihrer Stöckelschuhe in Löcher oder Hundeexkremente treten. Oles war alleine zur Schule gelaufen, ohne Mutter und ohne Blumen, in einer ungebügelten Jeans. In der fünften Klasse war der letzte Schultag längst nichts Besonderes mehr. Halyna blickte sich um. Auf dem Boden lag ein offener Koffer, darin unordentlich hineingeworfen: Bademantel, Pullover, Unterwäsche, ein paar Jeans. Oles und Halyna flogen nach Wien. Sie hatte vier Stunden, um einzupacken, mit Oles zu Mittag zu essen und in das für vierzehn Uhr bestellte Taxi zum Flughafen zu steigen.
In Wien wollte Halyna sich mit dem Besitzer einer Kaffeehauskette treffen, der die Ausstattung ihrer Lemberger Cafés gesehen hatte und ein Design bei ihr in Auftrag geben wollte. Eigentlich war geplant gewesen, gemeinsam nach Wien zu fahren, aber sie hatten keinen Termin gefunden, und so fuhren sie ohne Hryz.
Halyna warf einen Blick auf ihr Telefon und erinnerte sich daran, dass sie sich vor der Abfahrt bei Hryz melden sollte.
Am Morgen hatte er sie gebeten:
„Ruf mich vor dem Abflug auf jeden Fall an. Damit ich mir keine Sorgen mache, hörst du?“
Bei dem Gedanken an das Telefonat wurde sie wütend. Sie hasste diese sinnentleerten Gespräche:
„Hallo, ich bin’s.“
„Wie geht’s dir? Hast du schon gepackt?“
„Bin gerade dabei. Alles bestens.“
„Wunderbar. Gute Reise! Melde dich, wenn ihr dort seid!“