So liefen ihre Telefongespräche mit der Zeit im Telegrammstil ab. Halyna bemühte sich, Hryz nicht mehr zu stören, doch dann rief er selbst an, was noch schlimmer war, denn er begann mit den Worten:
„Hallo, wie geht es dir? Alles okay?“
„Ja.“
„Dann lass uns am Abend reden. Ich arbeite.“
Halyna verstand nicht, wieso man jemanden anrief, wenn man keine Zeit hatte, mit ihm zu sprechen. Und Hryz verstand nicht, wieso man Einzelheiten über etwas austauschen sollte, das schon vergangen war. Sein Lass-uns-am-Abend-Reden bedeutete normalerweise, dass er Halynas Erzählungen geduldig lauschte und währenddessen seinen eigenen Gedanken nachhing. Wenn sie fragte, wie sein Tag gewesen war, antwortete er knapp: „Alles okay.“ Nur wenn Halyna weiter nachfragte, fügte er unwillig ein paar Sätze hinzu: „Ich hab mich mit Lizenzproblemen herumgeschlagen“, „Ich habe ein paar Kellner gefeuert, sie haben getrunken und dann die Gäste angepöbelt“, „Ich habe einen neuen Barkeeper angestellt, weil der alte falsch abgerechnet hat“.
Manchmal versuchte sie ihm zu erklären, dass sein Verhalten den Anschein erwecke, als spreche er nur um des Abhakens willen mit ihr. Dabei ließ er sie spüren, wie belastend und uninteressant das Gespräch für ihn war. Er wollte die Kommunikation auf ein Minimum beschränken, besser gesagt auf die Tatsache, dass eine Kommunikation stattgefunden hatte. Er hatte angerufen, das hieß, er kümmerte sich. Doch wenn man sich wirklich kümmert, ruft man nicht an, um Informationen auszutauschen, sondern um herauszufinden, was der dir wichtigste Mensch in diesem konkreten Augenblick tut, worüber er nachdenkt, was er fühlt. Nicht, weil er etwas Wichtiges tut, denkt oder fühlt, sondern weil dich die kleinsten Details aus seinem Leben interessieren und du ihm immer gern Zeit schenkst, denn du willst ihn stärken und aufrichten und ihm nicht nur ein distanziertes „Mach dir keine Sorgen, alles wird gut“ hinwerfen, oder noch übler: „Reg dich nicht auf, es gibt Schlimmeres“. Halyna versuchte zu erklären, dass sich alles in ihr zusammenzog, wenn sie solche sinnentleerten Floskeln hörte, dass sie sich ins hinterste Eck verkriechen und lange nicht herauskommen wollte.
Hryz antwortete normalerweise, dass sie alles falsch verstehe und übertreibe, dass er ihr immer gerne zuhöre und immer wissen wolle, was bei ihr los sei, in jedem Augenblick ihres Lebens, und selbst erzähle er ihr alles, nur gebe es wirklich wichtige Dinge und es gebe Kleinigkeiten, über die zu reden es sich nicht lohne. Na ja, Frauen würden vielleicht darüber reden. „Frauen dürfen das.“ Vielleicht dachte er, Halyna müsse dankbar sein, einen so geduldigen Mann zu haben, der sich sogar diesen Frauenkram anhörte. Aber anstelle von Dankbarkeit verspürte sie Kränkung und Ärger. Halyna wählte Hryz’ Nummer. Nachdem es ein paar Mal geklingelt hatte, hob er ab:
„Hallo, wie geht’s?“
„Hallo, alles okay. Und bei dir?“
„Auch. Hast du viel zu tun?“
„Du sagst es. Ist es etwas Dringendes? Wenn nicht, lass uns am Abend reden. Ich bin gerade sehr beschäftigt.“
„Gut“, meinte Halyna und legte auf.
1915–1939
Im Parterre von Doktor Stepan Lewynskyjs Haus befanden sich das Wartezimmer und der Behandlungsraum, im ersten Stock das Wohnzimmer, das Esszimmer, die Küche und das Arbeitszimmer des Vaters, im zweiten Stock das Kinderzimmer und Bronislawas Zimmer. Stepan Lewynskyj war ein bekannter HNO-Arzt und neben seiner privaten Ordination arbeitete er in dem von Andrej Scheptyzkyj gegründeten Spital, das auch „russinisches Spital“ genannt wurde. Das russinische Spital wurde von den Menschen sehr geschätzt. Je länger es existierte, desto mehr Leute warteten täglich vor den Behandlungsräumen der Ärzte. Blasse, ausgezehrte Frauen reisten mit ihren Säuglingen auf Fuhrwerken aus weit entfernten Dörfern an, die Armen der Stadt kamen – im Spital wurde niemand abgewiesen, allen wurde geholfen.
„Vater zog sich nach der Arbeit für ein paar Stunden in sein Arbeitszimmer zurück und bat, nicht gestört zu werden“, erzählte Großmutter Sofia. „Wenn zu dieser Zeit im anderen Zimmer beharrlich das Telefon klingelte, zog er den Kopf ein und wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen, in der Hoffnung, es wäre nicht für ihn. Doch einen Moment später stand die unerbittliche Bronislawa in der Tür: ‚Der Herr Doktor wird verlangt. Vom russinischen Spital.‘ Und der Vater hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wäre er nicht ans Telefon gegangen oder hätte er vorgegeben, nicht zu Hause zu sein. Deshalb schätzten ihn die Menschen so. Die Straßenbahnschaffner kündigten die Station beim Spital sogar mit ‚Heiliger Jura! Lewynskyj‘ an.“
Als Kind verbrachte Sofia die Sommerferien manchmal bei ihren Großeltern im Dorf. Der Großvater, ein Ukrainer, war griechisch-katholischer Priester, Großmutter Genia war deutscher Abstammung. Von ihren dreizehn Kindern starben acht im Säuglingsalter. Das Pfarrhaus hatte sechs Zimmer (die Pfarrkanzlei des Großvaters befand sich im hintersten, kleinsten Zimmer), außerdem eine große Küche mit Ofen, einen Vorraum, ein Vorhaus und eine verglaste Veranda. Im Esszimmer stand ein großer, runder, ausziehbarer Tisch mit sechs Tischbeinen, in dem Sofia ein auf dem Kopf stehendes Schiff sah. An der Wand stand eine hohe Kredenz mit Marmorplatte, auf einen speziellen, runden, niedrigen Tisch stellte man den Samowar, und an der Wand hing eine große Uhr mit Gewichten. Die Uhr schlug jede Stunde, tief und melodisch. Sofia durfte nicht einmal in die Nähe der Uhr gehen, ganz zu schweigen davon, sie zu berühren. Einmal in der Nacht zog sie trotzdem an den Gewichten und entkam nur mit Mühe der Großmutter, deren feine Ohren im Schlaf die kindlichen Schritte vernommen hatten.
Im Salon standen ein Klavier, ein Tisch, ein Sofa, Polstersessel und Stühle, mit goldgelbem Metall verziert und mit einer ebenso goldfarbenen Bespannung, ein Sekretär mit zahlreichen Lädchen, darauf eine Uhr. Auf dem Boden lag ein weicher Teppich – damals „Diwan“ genannt – mit rot-grauen Ornamenten, die Kinder liebten es, darauf zu spielen.
Vom Esszimmer kam man auf die Veranda, die auf eine hohe Pappelallee hinausging. Am Ende dieser Allee standen im Winter die Bienenstöcke in ihren Winterquartieren. Im Hof befanden sich ein Brunnen und die Wirtschaftsgebäude: Stall, Scheune, Dreschhaus, Hühnerstall und der Schuppen für die Pferdewagen. Aus einem kleinen Wasserloch hinter dem Stall hörte man oft das Quaken der Frösche.
Es war langweilig, am Land zu Hause herumzusitzen, deshalb trieb sich Sofia ganze Tage lang im Hof herum oder spielte auf der Straße mit den anderen Kindern. Unweit des Hauses wuschen die Frauen in einem seichten Bach die Wäsche. Als Kind fuhr Sofia gerne mit den Fingern über die abgeriebenen Rippen der Waschbretter und half der Großmutter beim Aufhängen der Wäsche auf den zwischen den Ästen der Bäume gespannten Wäscheleinen. Sie liebte den Geruch des Windes, der sich in der frisch gewaschenen Wäsche verfing. Doch am meisten liebte sie es, ein frisch gewaschenes Laken über das eben zur Scheune gebrachte Heu zu werfen, sich daraufzulegen und den frischen, würzigen Geruch einzuatmen. Dabei riskierte sie jedoch einen Klaps von der Großmutter.
Einmal nahmen die Dorfmädchen Sofia mit zur Heuernte. Sie beobachtete, wie die Mädchen das Heu geschickt zu Bündeln zusammenrafften und verschnürten, dann fuhren sie auf dem über und über mit Heu beladenen Wagen nach Hause. Vor dem Hof bremste der Wagen scharf, und Sofia fiel hinunter. Zum Glück passierte nichts, nur ein großer blauer Fleck zierte noch ein paar Wochen lang ihren Ellenbogen.
Sofia beobachtete gerne, wie die gespannte Kette des mit einem Holzdach bedeckten Brunnens die vollen Eimer quietschend nach oben zog, wie die Wassertropfen spritzten und sich die Sonne in den Farben des Regenbogens darin spiegelte, wie gerade Großmutter Genia sich hielt,