Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Natalka Sniadanko. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natalka Sniadanko
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939451
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anderes Mal wollte ich in Deutschland eine Wurstsemmel kaufen. Ich bestelle also ‚eine Semmel mit Extrawurst‘. Die dumme Deutsche steht da und schaut mich an, als wüsste sie nicht, was eine Extrawurstsemmel ist. Ich zeige also auf die Vitrine. Sie sagt: ‚Das ist ein Brötchen.‘ Was für ein Brötchen soll das sein, wenn es eine Semmel ist! Dann zeige ich auf die Extrawurst. Und sie: ‚Das ist Mortadella.‘ Was für eine Mortadella soll das sein, wenn es Extrawurst ist?! Dann schneidet sie mir eine Scheibe Wurst ab und Sie werden es nicht glauben – fast zwei Zentimeter dick! Wenn man sie so schneidet, dann ist es wirklich keine Extrawurst mehr. Ich habe damals jedenfalls keine normale Extrawurstsemmel bekommen. Nicht ums Verrecken könnte ich in diesem Deutschland leben.“

      Halyna seufzte erleichtert, als sie das Schild ihres Hotels erblickte.

      Ein Zimmer in Großmutter Sofias Wohnung war ihre Schneiderwerkstatt. Nachdem der Krieg Sofias Pläne einer Musikkarriere zerstört hatte, entdeckte sie ihr Nähtalent und verdiente damit ihr ganzes Leben lang Geld. Um ihr Können webten sich wahre Legenden, es war eine Ehre, ihre Kundin zu werden. Die Großmutter führte die Bestellungen nicht nur meisterhaft aus, sie verstand es auch, für jede Frau einen eigenen Stil zu kreieren. Halyna beobachtete gerne, wie Frauen ohne Selbstvertrauen, ungeschickt gekleidet und viel zu stark geschminkt Großmutters Wohnung betraten. Sie waren entweder unverheiratet oder in einer Phase ihres Ehelebens, in der sie dringend eine Veränderung brauchten, um nicht alles zu verlieren. Großmutter Sofia betrachtete jede neue Kundin genau, bot ihr eine Tasse Kaffee an und entwarf bei einem entspannten Gespräch nach und nach einen neuen Stil für diese Frau. Dabei redete Großmutter Sofia wenig, sie fragte nach, beobachtete aufmerksam Sprache und Gesten der Frau, betrachtete ihre Figur und meinte dann ganz beiläufig:

      „Rosa ist nicht Ihre Farbe, ich würde Ihnen Schwarz empfehlen.“

      Oder:

      „Nehmen Sie den Hut ab und halten Sie die Haare hinten zusammen. Kürzere Haare würden Ihnen besser stehen.“

      Ein paar Minuten später skizzierte Großmutter Sofia auf durchsichtigem Papier bereits das erste Modell. Ein Kleid, einen Rock, ein Damenkostüm, einen Mantel. Einen Monat später würde eine völlig andere Frau diese Wohnung verlassen: voller Selbstvertrauen, ruhig und elegant.

      Großmutter Sofias Dienste waren alles andere als billig, doch sie hatte immer mehr Anfragen, als sie Kundinnen betreuen konnte.

      „Wieso nimmst du dir nicht eine Angestellte? Dann könntest du mehr Kundinnen haben“, fragte Halyna.

      „Das wäre nicht dasselbe. Ich muss mit jedem Menschen persönlich arbeiten. Und man kann sowieso nicht alles Geld der Welt verdienen.“

      Der Großmutter ging es tatsächlich weniger ums Geld als um diesen flüchtigen Moment der Verwandlung, um die Magie der Kleidung, die an einer Frau grau und uninteressant wirkte und die andere zu einer Schönheit machte. Ihr ging es darum, diese Nuancen einzufangen und ein weiteres Wunder geschehen zu lassen.

      Großmutters erste Kundinnen waren Offiziersgattinnen, die in ihrem Haus eingezogen waren. Und auch später nähte sie meistens für die Ehefrauen von Militärangehörigen. Das sowjetische Elend verlangte von der Schneiderin besondere Kreativität, oft musste sie etwas aus groben Stoffen nähen, nicht aufgetragene Uniformen umarbeiten, einen Herrenschnitt an eine weibliche Figur anpassen. Damals entwickelte Großmutter Sofia ihr phänomenales Können: Egal wie hoffnungslos die Figur der Frau, für die sie nähte, egal wie hoffnungslos der Stoff, aus dem das neue Stück genäht wurde – was Großmutter Sofias Hände verließ, sah an der Kundin elegant aus und zierte sie. Niemand wusste, worin das Geheimnis bestand, denn Großmutter Sofia nähte oft nach denselben Schnitten wie andere Schneiderinnen, trotzdem war das Ergebnis stets ein ganz anderes.

      Es begann bei der ersten Anprobe. Kritisch betrachtete Großmutter Sofia die grob zusammengehefteten Kleidungsstücke und erkannte sofort, wo sie etwas wegnehmen und wo sie zugeben musste, welche Fasson sie bei diesem Stoff und für diese Figur am besten wählen sollte, wo sie kürzen und wo sie Tüll oder Spitze anstückeln musste (mit der Zeit fand sie sogar eine Frau, die Spitzenkrägen und andere Accessoires für Kleider herstellte). Großmutter nähte auf einer deutschen Singer-Nähmaschine aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und hätte sie um nichts in der Welt gegen eine modernere eingetauscht, selbst als es bereits bessere Modelle und elektrische Maschinen gab. Später besaß sie ein paar Nähmaschinen, doch die feinsten Arbeiten vertraute sie auch weiterhin nur ihrer Singer an.

      „Weißt du, ich spüre diese Nähmaschine und das ist manchmal sehr hilfreich, um nichts Überflüssiges zu machen, um dort aufzuhören, wo es notwendig ist.“

      Alle von Großmutter Sofias Versuchen, Halyna das Nähen beizubringen, endeten in einem Desaster. Obwohl Halyna keine schlechte räumliche Vorstellungskraft und einen guten Geschmack hatte, fehlte ihr das nötige Feingefühl in den Fingern. Natürlich lernte sie Nähen und es ging ihr ganz gut von der Hand, hätte sie sich an anderen, gewöhnlichen Schneiderinnen gemessen. Doch die unerreichbare Autorität der Großmutter erstickte in Halyna jedes Verlangen, auch nur ansatzweise an sie heranzukommen. Sofia betrachtete Halynas Näharbeiten immer kritisch, setzte sich dann wortlos hin und vollbrachte vor den Augen des Mädchens eines ihrer Schneider-Wunder.

      Halyna sollte eine Schule mit dem Schwerpunkt Deutsch besuchen. Großmutter Sofia bot an, Halyna könne bei Großvater Wilhelm und ihr wohnen, denn von ihnen sei es nicht weit zur Schule. Nun sah Halyna ihre Mutter und Babuschka Aljona nur mehr am Wochenende.

      Großmutter Sofia hatte wenig Ähnlichkeit mit den anderen Großmüttern, die Halyna sah. Die Großmütter in den benachbarten Wohnungen waren dick, träge und trugen stets karierte Kittelschürzen aus Nylon oder unförmige Kleider, die aussahen wie Kittelschürzen. Diese Großmütter trugen im Winter bodenlange graue Mäntel und im Frühling und Herbst ebenso graue Regencapes. Sie trugen ausgetretene, flache Schlappen und mit alten Tüchern ausgestopfte Barette. Die Nachbarsgroßmütter rochen nach billigem sowjetischem Parfum, färbten ihr Haar mit Tinte bläulich und steckten es zu oberlehrerinnenhaften Knoten hoch, aus denen auf allen Seiten igelhaft lange schwarze Haarnadeln ragten. Sie waren geschlechtslose Geschöpfe, eine Art graue Engel, jederzeit dazu bereit, Pampuschky oder Pfannkuchen zuzubereiten und ihren Enkeln etwas Leckeres zu kaufen.

      Großmutter Sofia hingegen erlaubte sich ihr Äußeres betreffend keine Nachlässigkeiten. Wie durch ein Wunder kam sie in der Sowjetzeit an echte französische Parfums und Kosmetika. Sie färbte ihr immer noch dichtes Haar in ihrer ursprünglichen Farbe nach und trug es zu einem stilvollen Pagenkopf geschnitten, sie zog sich die Augenbrauen in einer exakten Linie nach, verwendete nur qualitativ hochwertige Kosmetikprodukte, machte sich mehrmals pro Woche eine Gesichtsmaske, ging regelmäßig zur kosmetischen und zur Heilmassage, kümmerte sich immer um Maniküre und Pediküre, machte regelmäßig Gymnastikübungen für Rücken und Taille, hatte nie überschüssige Kilos und ging im Sommer fast jeden Morgen in den Kaiserwald joggen. Sie trug selbstgenähte, mit großen grünen Blumen bestickte Kostüme oder Kleider und stilvolle Seidenschals, die eine befreundete Künstlerin in speziellen Farben für sie bemalte. Mit dieser Künstlerin traf sie sich fast jeden Sonntag in der Stadt: Sie spazierten durch den Park, tranken in einer Konditorei Kaffee und gingen später zu Großmutter Sofia nach Hause, wo sie bei ein paar Gläschen Rotwein Préférence spielten. Diese Tradition stammte aus der Vorkriegszeit, als in Großmutter Sofias Haus jeden Sonntag Préférence gespielt wurde. Und obwohl Halynas Mutter Kartenspiele hasste, traute sie sich nicht, mit dieser Tradition zu brechen.

      Großmutter Sofia trug zu Hause nie Kittelschürzen, sie besaß nicht einmal eine, nur einen Morgenrock aus Seide, in dem sie morgens und abends vom Schlafzimmer ins Badezimmer ging und morgens danach in der Küche ihren Kaffee trank. Tagsüber trug sie immer helle, kaffeefarbene Kleider mit Spitzenkragen. Von diesen Kleidern hatte die Großmutter ein paar Dutzend, die alle sehr ähnlich waren: gemütlich, aber zugleich elegant und erlesen. Halyna verstand nicht, wie es der Großmutter selbst beim Kochen gelang, ihre Kleider frei von Flecken zu halten. Jede von Sofias Bewegungen war so bedacht und geschickt,