Die kulinarische Schulung durch die beiden Großmütter lehrte Halyna auch nützliche logistische Fertigkeiten: gleichzeitig ein paar Aufgaben im Kopf zu behalten (salzen, pfeffern, nicht vergessen, das Gas nach zehn Minuten abzudrehen), die Abfolge von Handlungen richtig zu planen (zuerst das Fleisch für den Borschtsch schneiden, dann ins kochende Wasser werfen, erst danach das Gemüse putzen und schneiden; auch das Gemüse hat seine Reihenfolge: zuerst die rote Bete, denn sie muss am längsten kochen, dann Karotten und Kartoffeln, am Ende Zwiebel anbraten und Tomaten dazu. Im Sommer kann man dann noch frische Kräuter und ein paar Sauerkirschen oder eine Handvoll rote Johannisbeeren für das Aroma in den Borschtsch geben). Genauso sollte Halyna später ihren Tag planen, wenn sie in kurzer Zeit viele Dinge zu erledigen hatte: am Vormittag das Wichtigste, am Nachmittag alles, was warten konnte. Oder am Vormittag, wenn der Kopf noch träge war, Erledigungen, die mit physischer Anstrengung verbunden waren (Waschen, Aufräumen, Einkaufen, Behördengänge), und am Nachmittag, wenn sie endlich ganz wach war, Arbeiten, bei denen sie ihren Kopf brauchte (dann malte sie für gewöhnlich).
Im Wissen um den Nutzen dieses Trainings gewöhnte Halyna ihren Sohn von klein auf an die Arbeit in der Küche. Oles wusste lange nicht, dass seine Eltern eine Putzfrau beschäftigten. Als Kind hatte er, ebenso wie Halyna früher, genau abgesteckte Aufgabenbereiche im Haushalt, etwa musste er die Kleidung ordentlich in den Schrank legen, um sich am Morgen schnell für Kindergarten oder Schule fertig zu machen und ebenso schnell seine Sachen für einen Wochenendausflug einpacken zu können.
Großmutter Sofias Piroggen und Babuschka Aljonas Wareniky schmeckten tatsächlich verschieden, doch war es kein qualitativer Unterschied, sondern eine Erweiterung der Geschmackspalette. Das Bestreben der beiden Hausfrauen, einander zu übertreffen, gipfelte in einem nicht enden wollenden Drang nach Vollendung bei jeder der beiden.
Beim Formen der Wareniky sang Großmutter Sofia oft Koledas – polnische Weihnachtslieder –, ein Kinderlied über zwei Kätzchen und endlose Lemken-Lieder, zu denen Halyna sich zusammenrollen und sanft einschlafen wollte, wie in ihrer Kindheit, als die Großmutter sie tatsächlich mit diesen Liedern in den Schlaf gewiegt hatte. Babuschka Aljona konnte nicht singen und kannte keine Lieder. Wenn sie also abends auf ihre Enkelin aufpasste, erzählte sie ihr beim Einschlafen Gedichte, die sie in ihrer sowjetischen Kindheit gelernt hatte. In Halynas fantastischen Kinderträumen streichelten Lemken in Filzhüten über die Köpfe von kleinen Kätzchen, die sich in Lenin und den Ofensetzer3 verwandelten, die aus irgendeinem Grund ein wenig wie ein zweiköpfiger Drache aussahen oder wie Kotyhoroschko mit seiner Keule.
Im Sommer war Großmutter Sofia im kulinarischen Wettstreit mit Großmutter Aljona immer im Vorteil. Sie besaß ein Haus in einem gottvergessenen Dorf in den Karpaten. In diesem Haus gab es einen echten Holzofen. Getrocknete Pilze und Beeren, Minze und Thymian für Tee, viele Heilkräuter, Krauttaschen und Fladen mit Mohn. Das konnte Babuschka Aljona nicht überbieten. Höchstens mit Wareniky mit Sauerkirschen und Mohn. Die machte Großmutter Sofia nie und gab zu, dass ihre Zubereitung tatsächlich eine sehr hohe Kunst sei.
Großmutter Sofias Krauttaschen – mit Sauerkraut gefüllte Piroggen aus Hefeteig – wurden über Dampf gewärmt und mit Grieben serviert. In Halynas Vorstellung gab es nichts Besseres. Außer im Ofen überbackene Krauttaschen vielleicht. Oder im Ofen gebackene Fladen aus Sauermilch und Mehl, mit frischer, heißer Milch, Honig und geriebenem Mohn übergossen. Nach dem Sommer brachten sie immer einen Vorrat an Krauttaschen und Fladen aus den Karpaten mit nach Hause, die sie ein paar Wochen lang mit nostalgischen Gefühlen aßen.
In ihren Briefen versprach Babuschka Aljona der Schwester oft: „Bald, ganz bald komme ich dich besuchen, und ich nehme meine Enkelin Halyna mit, damit du sie endlich kennenlernst.“ Aus Slowjansk, oder „Slawjansk“, wie Babuschka Aljona mit der Betonung auf „a“ sagte, kamen als Antwort enthusiastische Einladungen, welche die blinde Schwester irgendjemandem diktierte, und ihre Beteuerung: „Die Landschaft ist sehr schön. Es gibt Beeren und Pilze und in der Ferne sieht man angeblich die Halden vom Salzabbau.“ In ihren letzten Lebensjahren sah Babuschka Aljona schlecht und bat Halyna, ihr die Briefe der Schwester vorzulesen. Danach diktierte sie ihr die Antwort. Halyna überlegte hin und her, ob man „plötzlich“ schrieb oder „plözzlich“, wie es die Großmutter aussprach, und „jetzt“ oder „jezz“ und ob man „fastziniert“ zusammen oder auseinander schrieb.
Der letzte Brief aus Slowjansk kam kurz vor Babuschka Aljonas Tod. In diesem Brief versprach die Schwester, sehr bald wieder zu schreiben, doch sie tat es nicht. Einige Jahre später kam aus dem Wohnheim eine Mappe mit ihren letzten Arbeiten. Dort saß ein fröhliches Mädchen aus applizierter hautfarbener Seide in verschiedenen Posen inmitten von seltsamen Mohnblumen, die mal durchsichtig und mal mit stark verwässerter Aquarellfarbe ausgemalt waren, sodass das karierte Papier durchschien. In dem Mädchen erkannte man auf den ersten Blick Halyna. Für Halyna hatten die Arbeiten von Großmutters blinder Schwester, die sie nie gesehen hatte, etwas Furchteinflößendes.
Dieses Gefühl würde Halyna viele Jahre später, wenn sie täglich Nachrichten über die Kampfhandlungen in Slowjansk lesen sollte, erneut heimsuchen. Wie in die Ungewissheit abgefeuerte Kugeln würden dann die Phrasen aus der Kindheit in ihrem Kopf auftauchen: „Es gibt Beeren, Pilze, in der Ferne sieht man angeblich die Halden vom Salzabbau …“
Babuschka Aljona arbeitete als Kartenverkäuferin im Kino Mir, das sich in der damaligen 700-Jahre-Lemberg-Straße befand, die Großmutter Sofia standhaft Poltwjana-Straße nannte. Dieses Kino besuchte Halyna oft mit ihren Freundinnen. Die Mädchen kauften Eis und schauten sich einige Male hintereinander endlose indische Seifenopern an.
In der Sowjetunion liefen die Filme sehr lange in den Kinos, und die Mädchen hatten bald keine Lust mehr, immer wieder dasselbe zu sehen. Also unternahmen sie ihre ersten selbstständigen Ausfahrten in andere Bezirke: ins Kino Sirka oder sogar ins Orljatko in der scheinbar unerreichbaren Artem-Straße. Die Freundinnen machten in der Nähe jedes Kinos einen Laden ausfindig, in dem sie dickflüssigen Tomatensaft tranken. Den Saft salzten sie, indem sie mit einem Löffel, den man in trübem Wasser abspülen konnte, fest gewordenes Salz aus einem Glas nahmen und umrührten. Oder sie bestellten einen Milchshake, der vor ihren Augen zubereitet wurde, aus Plombir-Eis und Milch mit einem Schuss Heidelbeer- oder Erdbeersirup. Halyna beobachtete gerne den kleinen Springbrunnen, in dem die Verkäuferin die Gläser wusch, und sie mochte den groben Aluminiumhaken des Mixers, in den ein hohes Glas gestellt und dann der laute Motor eingeschaltet wurde. Die Bläschen des Shakes legten sich wie ein öliger Belag auf die Zunge. Und trank man den Shake gleich nach dem Tomatensaft, brauchte man kein Mittagessen mehr, und die zähflüssigen Getränke blubberten und vermengten sich noch den ganzen Film lang im Magen.
Das Verhältnis von Babuschka Aljona und Großmutter Sofia war nicht von Anfang an freundschaftlich. Kurz nach der Hochzeit ihrer Kinder, Alina und Taras, gab es einige Spannungen zwischen den beiden Frauen. Wie der Großteil der russischsprachigen Umsiedler in Lemberg hielt Babuschka Aljona die ansässige Bevölkerung insgeheim für Landeier, obwohl sie wusste, dass Großmutter Sofia nie auf dem Land gelebt hatte. Und obwohl Großmutter Sofia es zu verbergen versuchte, hatte sie – wie alle Galizier – den Russischsprachigen gegenüber eine leicht herablassende Haltung und mochte sie nicht, weil sie so laut und anders waren.
Einst hatte in der Straße, die Großmutter Sofia eisern Sigmundstraße nannte, ein ganzes Haus der Familie gehört, doch später blieb ihnen nur eine Wohnung im obersten Stockwerk. Den Rest hatten sich sowjetische Offiziere angeeignet. Diese Erinnerung half Großmutter Sofia nicht dabei, ihre Abneigung gegen alles Russischsprachige zu überwinden, obwohl sie natürlich wusste, dass Babuschka Aljona nichts mit den „Befreiern“