„Man muss einfach genau lesen, was man unterschreibt“, erzählte sie gerne. Und diesbezüglich war sie sehr geschickt. Etwa war es eine der liebsten Betrügereien von Schiffskapitänen, den Wein an Bord teuer zu verkaufen, obwohl er in der Regel in der Verpflegung während der Reise inbegriffen war, die mit der Fahrkarte bezahlt wurde. Außer Bronislawa hatte kaum jemand diesen Punkt im Kleingedruckten am Ende des Vertrags genau gelesen. So bezahlten viele Passagiere horrende Summen für schlechten Wein, nicht aber Bronislawa.
Außerdem nahm sie immer bunte Bettwäsche auf Reisen mit, denn sie beobachtete Folgendes: Händigte man den Wäschern an Bord weiße Bettwäsche aus, fand diese garantiert nicht zu ihrem Besitzer zurück, stattdessen bekam man alte, abgenutzte Bettwäsche.
An jenem Tag war Felix Pfeiffer wie immer zum Rauchen nach draußen gegangen. Von seinem Plätzchen aus war die Endstation der elektrischen Straßenbahn gut zu sehen. Schon vor einigen Jahren hatte sie die frühere Pferdetram abgelöst. Das gefiel Felix. Nun waren die Straßen sauberer, die Straßenbahn fuhr deutlich schneller und man brauchte keine Angst zu haben, dass die Pferde scheuten und die Waggons umkippten. Felix hatte fast fertig geraucht, als er einen letzten Blick auf die zur Mittagszeit menschenleere Haltestelle warf. Plötzlich erstarrte er. In einer Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt, erkannte er Bronislawa. Zuerst meinte er, sich getäuscht zu haben, doch im nächsten Moment begann sein Herz schneller zu schlagen – er hatte nicht erwartet, dass diese schamlose Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte, nach so vielen Jahren in ihm noch Gefühle hervorrufen würde. Nun wurde er neugierig. Einen Moment zögerte er noch, doch dann lief er schnell zur Haltestelle.
Die Straßenbahn kam. Die Frau – es war tatsächlich Bronislawa – stieg mit dem Kind, das ihr überhaupt nicht ähnlichsah, in den ersten Waggon. Felix stieg in den zweiten. Er schaute bei jeder Station aus dem Fenster, um sofort aus der Straßenbahn springen zu können, wenn Bronislawa und das Mädchen ausstiegen. Aber sie fuhren bis zur Endstation, dem Ausstellungsplatz. Felix folgte Bronislawa und dem Mädchen in den Stryjskyj-Park und suchte dabei hinter den Rücken der wenigen Fußgänger Deckung. Wie immer lief Sofia zuallererst zu dem Mann der Lotterie „Kolo schastja“ und kaufte ein „Ljos“. Sie hüpfte vor Freude, als sie ihren Gewinn – einen doppelseitigen Taschenspiegel – bekam, und blendete Felix im nächsten Moment damit. Er blinzelte, hob seine Hand zum Schutz und fluchte leise.
„Du hättest dir besser ein Bonbon kaufen sollen“, tadelte die sparsame Bronislawa.
„Ich tausche den Spiegel morgen im Hof gegen drei Bonbons“, lachte Sofia, und sie spazierten weiter die Parkallee entlang.
Bronislawa erzählte Sofia, wie sie auf ihrer Reise zum Äquator zum ersten Mal im Leben fliegende Fische gesehen hatte.
„Sind sie bunt?“, fragte das Mädchen.
„Nein, grau. Sie sehen ein bisschen aus wie Heringe, haben aber Flügel“, antwortete Bronislawa.
„Und springen sie hoch?“
„Beim ersten Mal hat mich die Sonne so geblendet, dass ich kaum etwas ausmachen konnte. Aber dann wurden die Fische immer an Deck geweht, und am Morgen fanden wir sie. Anders fängt man sie auch nicht, nur wenn der Wind sie an Bord weht. Sie können richtig hoch springen, aber meistens fliegen sie knapp über dem Wasser, und das ziemlich weit.“
„Habt ihr Meeresfrüchte gefangen, als ihr auf dem Schiff wart?“
„Nur einmal“, antwortete Bronislawa. „Ein sehr schönes Exemplar, sie nannten es Fisolida. Violett, mit einem langen Kamm. Es gefiel mir so gut, dass ich ein Netz bastelte und es fing. Ich wollte es malen. Aber als es trocknete, wurde es durchsichtig und lief aus. Es tat mir leid, etwas so Schönes zerstört zu haben, danach fing ich keine mehr.“
Felix folgte ihnen heimlich, und jedes Mal, wenn er glaubte, Bronislawa würde sich umdrehen, versteckte er sich hinter einem Strauch. Er versuchte nicht daran zu denken, was ihm sein Chef erzählen würde, wenn er seinen eigenmächtigen Ausgang, der lange zu dauern versprach, bemerkte. Felix hoffte, das Mädchen würde bald müde und hungrig nach Hause gehen wollen. Doch es verspeiste mit großem Appetit eine große mitgebrachte Breze und lief unermüdlich die Parkalleen entlang. Felix schmerzten vor Müdigkeit bereits die Beine …
Als sie schließlich zur Straßenbahnstation zurückkehrten, stiegen Bronislawa und Sofia wieder in den ersten und Felix in den zweiten Waggon. Wieder schaute er aus dem Fenster, um jederzeit aus der Straßenbahn springen zu können, doch auch diesmal fuhren sie bis zur Endstation. Felix blickte leidvoll zum Bahnhof hinüber, wo ihn seine Arbeitskollegen bestimmt schon suchten, trotzdem folgte er Bronislawa und Sofia weiter bis in die Sigmundstraße. Und mit jedem Schritt wurde ihm klarer, dass vermutlich das Mädchen diese Route vorgab, weil es so gerne mit der Straßenbahn fuhr. Nachdem Felix gesehen hatte, in welchem Haus Bronislawa verschwand, rannte er schnell zum Bahnhof. Er war fast zwei Stunden weg gewesen. Zum Glück genau in der Mittagspause seines Chefs, der an jenem Tag eine Verabredung zum Mittagessen gehabt hatte, dort ein Seidl mehr als sonst getrunken und sich deshalb länger aufgehalten hatte. Als er danach etwas angeheitert zur Arbeit zurückkehrte, bemerkte er Felix’ Abwesenheit nicht sofort, und so kam dessen vorsorglich zurechtgelegte Ausrede, er sei überraschend zur Reparatur des alten Zuges „Jaroslaw“ gerufen worden, nicht zum Einsatz. Jaroslaw war jener legendäre Zug, der vor über fünfzig Jahren als erster auf den Schienen der neuen Lemberger Bahnstrecke gefahren war. Nun verkehrte er nicht mehr, doch vor kurzem hatte man beschlossen, ihn zu reparieren, um am Wochenende die Lemberger Kinder damit nach Brjuchowytschi zu bringen.
Jetzt wusste Felix, wo seine Frau wohnte. Drei Tage später, am Samstag, stand er vor dem Haus und läutete an. Eine große, etwa vierzigjährige Frau öffnete ihm, Sofias Tante, bei der Sofia und Bronislawa mittwochs immer zu Mittag aßen. Der verwirrte Felix wusste nicht, was er mit den Blumen tun sollte.
„Sind die für mich?“, fragte die Tante lächelnd.
Felix überreichte ihr wortlos die Blumen. Und so begann ihre Affäre, welche die Tante über Jahre hinweg vor ihrer Familie geheim hielt. Und Felix’ Bemühungen, Bronislawa zu finden, hatten damit ein Ende gefunden.
Sofia aß nicht gerne bei der alleinstehenden, reichen Tante, die ständig von ihren Krankheiten sprach. Nach dem Essen aber bekam Sofia von der Tante immer eine Sechsgroschenmünze, und das war ein stichhaltiges Argument. Dafür konnte man im Kościuszko-Park eine große Breze oder andere Schätze kaufen. Deshalb war Sofia sogar bereit, das ekelhaft stinkende Pfefferminzbonbon zu lutschen, das ihr die Tante gegen alle Einwände der Mutter jedes Mal vor dem Essen aus einer goldenen Metalldose gab.
Als Nachtisch gab es bei der Tante oft Kirsch- oder Marillenkompott, das man in großen Gläsern kaufen konnte. Außerdem Bananen, Orangen und andere Leckereien aus Orensteins Laden. Zu besonders feierlichen Anlässen gab es Süßigkeiten aus den Konditoreien Ludwig Salewski oder Welz. Beide befanden sich relativ weit weg, in der Akademiestraße. Man erzählte, dass Salewskis Eclairs täglich mit dem Flugzeug in die Warschauer Filiale der Konditorei geliefert wurden!
Mehr noch als die Eclairs liebte Sofia bei Salewski jedoch die Pralinen „Tajojka“, denn ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass der Name vom Ausruf „ta joj“ kam, mit dem die Lemberger allerlei Emotionen ausdrückten: Verwunderung, Entrüstung, Misstrauen, Schreck, Begeisterung. Das billigste Eclair bei Salewski kostete fünfundzwanzig Groschen, und das brachte Sofia in eine echte Zwickmühle: Sollte sie das winzige Gebäck bei Salewski kaufen oder eine große Packung Halva im Kiosk von Kawuras am Heiligen-Geist-Platz? Müsste Sofia selbst entscheiden, würde sie bestimmt die Packung Halva nehmen, alleine weil mehr drin war. Aber das Eclair schmeckte natürlich viel besser.
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