Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Natalka Sniadanko. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natalka Sniadanko
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939451
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mit der späteren Babuschka Aljona nach Lemberg. Die Verwandte hatte keine Familie und zog das Mädchen wie ihre eigene Tochter groß. Babuschka Aljona heiratete einen Tischler, der ein geschicktes Händchen und massenhaft Bestellungen hatte. Er arbeitete in einer staatlichen Tischlerei und pfuschte abends. Auf erledigte Aufträge wurde häufig angestoßen, und so wurde er schließlich zum Alkoholiker. Als ihre Tochter Alina mit neunzehn Jahren heiratete und ein halbes Jahr später Halyna zur Welt brachte, lebte der Großvater nicht mehr.

      Babuschka Aljona war das absolute Gegenteil von Großmutter Sofia. Mittlerer Wuchs, rund, ausdrucksstarke Gesichtszüge, üppiger Vorbau und Po, markante Backenknochen und ein hoher Dutt auf dem Kopf. Sie sprach laut, viel und emotional, hatte einen Hang zum Theatralischen und zu lautstarken hysterischen Anfällen aus jedem Anlass, aber auch ohne. Nach jedem Satz setzte sie scheinbar ein Ausrufezeichen. Sie hatte die Angewohnheit, ganz nah an ihren Gesprächspartner heranzugehen und wild zu gestikulieren. Trat jemand einen Schritt zurück, fasste sie das nie als Wunsch nach mehr Distanz auf, sondern machte einen weiteren Schritt auf den Gesprächspartner zu, als hätte sie Angst, er könnte sie nicht hören oder davonlaufen. Kaum jemand ertrug eine längere Unterhaltung mit Babuschka Aljona, ihre übermäßige Expressivität machte müde und man wollte tatsächlich nichts wie weg. Vielleicht hatte sie deshalb wenige Freundinnen. Als sie in Rente ging, war Halyna gerade zur Welt gekommen, und Babuschka Aljona bestand darauf, dass das junge Paar bei ihr einzog. In den folgenden Jahren rief sie ihre ehemaligen Arbeitskolleginnen fast täglich an und beschwerte sich mit beleidigter Stimme bei ihnen, dass alle sie vergessen hätten und sie niemanden zum Reden habe. Manchmal bekam sie von den ehemaligen Arbeitskolleginnen Besuch, und das war ein echter Festtag für sie. Die Zusammenstellung des Menüs dauerte ein paar Tage, danach verließ sie die Küche volle zwei Tage nicht. Bevor die Gäste kamen, zog sie ihre schönste Kittelschürze an und stemmte zufrieden die Hände in die Seiten.

      „Was bin ich müde!“, sagte sie dann, während sie vor dem Spiegel ihren Dutt zurechtzupfte.

      In der Rente wurde die Kittelschürze zu Babuschka Aljonas wichtigstem Kleidungsstück. Sie hatte einige Alltags-Kittelschürzen, die meisten aus warmem Baumwollstoff mit buntem Blumendruck und einige aus leichter Baumwolle mit kurzen Ärmeln; und sie hatte Festtags-Kittelschürzen, die sich nur dadurch von den anderen unterschieden, dass sie seltener getragen wurden. Die Kleider, in denen Großmutter Aljona früher zur Arbeit gegangen war, verstaubten im Schrank, der Großteil hätte ihr nach einem Jahr Rentnerinnenleben aber ohnehin nicht mehr gepasst.

      Nach jedem Besuch von Babuschka Aljonas ehemaligen Arbeitskolleginnen aß die Familie noch eine Woche lang die übriggebliebenen Speisen. Am häufigsten bekam die Großmutter von Tamara Lwowna, einer Kindergärtnerin, Besuch. Im Gegensatz zu den früheren Arbeitskolleginnen, die auf eine Stunde vorbeikamen und kaum etwas aßen, liebte Tamara Lwowna – wie Babuschka Aljona auch – üppige Festessen. Sie schlossen die Küchentür hinter sich und unterhielten sich lange. Zu Beginn bemühten sie sich zu flüstern, doch keine der beiden beherrschte es, leise zu sprechen, deshalb wurden ihre Stimmen schon bei der ersten Flasche selbstgemachten Apfelweins lauter und die achtjährige Halyna hörte, wie sie sich über ihre undankbaren Kinder, Enkel und besonders die Schwiegersöhne beklagten. Babuschka Aljona beschwerte sich auch über Großmutter Sofia, die sie überheblich fand. Sie dachte, Sofia würde den Schwiegersohn gegen sie aufbringen.

      „So klein und dürr, und so böse Augen“, beschrieb Babuschka Aljona sie. „Ich will ja nichts sagen, sie ist ein guter Mensch. Hat mir sogar ein Kleid genäht. Aber irgendwie geht mir nicht ein, dass so eine dünne Person nicht böse ist.“

      Bei allen, die den Hunger erlebt hatten, war das Essen zum Kult geworden, und für Babuschka Aljona war es die einzige Möglichkeit, ihre Gefühle auszudrücken. Sie kochte für alle, die sie liebte, die ihr leidtaten, die sie achtete, und sogar für jene, die sie nicht so sehr mochte. Für die, die sie liebte, kochte sie mit besonderer Hingabe.

      Ungefähr nach der dritten Flasche hausgemachten Weins oder nach der ersten Flasche Wodka, den Tamara Lwowna mitgebracht hatte, kam Taras nach Hause, Babuschka Aljonas Schwiegersohn und Halynas Vater. Er mochte Tamara Lwowna nicht und war der Ansicht, dass sie einen schlechten Einfluss auf Babuschka Aljona habe.

      „Diese Galizier“, beschwerte sich die Großmutter bei Tamara Lwowna. „Die sind überhaupt nicht gastfreundlich. Geizig und stolz sind sie. Sagen nichts, brauchen niemanden.“

      Später verstand Halyna, dass Babuschka Aljonas übermäßige Expressivität und ihr hartnäckiges Bestreben, sich in das Eheleben ihrer Tochter einzumischen, zu den ersten Rissen in der Beziehung des jungen Ehepaars geführt hatten. Es war Babuschka Aljona, die aus geheimen Quellen erfuhr, dass Taras eine Geliebte hatte. Sie rief sofort Großmutter Sofia zu sich, um sich mit ihr zu beraten. Großmutter Sofia kam, schick wie immer, in einem schwarzen Rock und schwarzen Schuhen, einem Blazer über der weißen Bluse, außerdem trug sie eine Perlenkette und goldene Perlenohrringe.

      „Bei den Jungen darf man sich nicht einmischen“, sagte Großmutter Sofia. „Sagen Sie niemandem etwas, vielleicht wird alles gut. Wenn Sie sich einmischen, wird nichts mehr zu retten sein.“

      Doch Babuschka Aljona verdrehte theatralisch die Augen, fasste sich an die Brust, nahm einen Schluck hausgemachten Weins und begann ihr Lamento:

      „Ich wusste, dass sie mit diesem Westler nicht glücklich wird. Mein armes Mädchen! Wie sollen wir jetzt weiterleben!“

      So ging es, bis Taras und Alina am Abend nach Hause kamen. Die zu diesem Zeitpunkt bereits ziemlich angetrunkene Babuschka Aljona stürzte sich mit Fäusten auf ihren Schwiegersohn. Taras und Großmutter Sofia verließen gemeinsam das Haus. Von da an waren Halynas Erinnerungen an ihren Vater nur mehr episodenhaft: Er schenkte ihr eine teure Puppe, er ging mit ihr einkaufen, ins Kino, in den Vergnügungspark. Sie aß Eis, er schaute ihr schweigend dabei zu.

      Taras war ein braver Junge gewesen. Sein blondes Haar, seine wasserblauen Augen und seine mollige Figur ließen ihn wie einen Engel aussehen. Als er älter wurde, schoss er in die Höhe und verlor die überflüssigen Rundungen, ersetzte sie jedoch nicht durch Muskeln. Er ging stets etwas gebeugt und zog sein kleines Bäuchlein ein. Sein Blick – wach und durchdringend – blieb unverändert, es schien, als interessierte ihn nichts so sehr wie das eben von seinem Gegenüber Gesagte. Bei diesem Blick und dem charmanten Lächeln wurde jede Lehrerin schwach. Wenn Taras mit einem schlampig geführten Heft oder einer halbfertigen Klassenarbeit zur Lehrerin ging, musste er sie nur anlächeln und ihr aufmerksam in die Augen schauen, und schon war sie bereit, ihm jede Frage zu beantworten und ihm noch dazu eine deutlich bessere Note zu geben, als er verdiente.

      Taras lernte schnell, den Charme seines Äußeren auch abseits der Schule einzusetzen. Die neidischen Mitschüler, die es weit mehr Anstrengung kostete, gute Noten und die Sympathie der Klassenkollegen zu bekommen, veranstalteten geheime Treffen, bei denen sie besprachen, wie man dem unverschämten Glückspilz eine Lehre erteilen könnte. Während Taras in der Grundschule der Liebling aller war, der Spaßvogel, der die Lehrerin unbestraft veräppeln konnte und so die ganze Klasse unterhielt, zog diese Nummer in der weiterführenden Schule nicht mehr. Nun musste er wählen, wessen Gunst er erringen wollte: jene der Lehrer oder seiner Mitschüler. Und hier begannen Taras’ Probleme.

      Einmal auf dem Heimweg von der Schule schlenderte er pfeifend dahin. Ein paar Tage zuvor war der erste Schnee gefallen, und als Taras so dahinstapfte, hatte er das Gefühl, als schritte er über ein frisch gewaschenes weißes Laken. Es war ein beinahe verbotenes, beklemmendes Gefühl. Er kniff beim Gehen die Augen zusammen, denn der glänzend weiße Schnee blendete ihn. Plötzlich traf ihn etwas von hinten am Bein, er schwankte, stürzte aber nicht, bis er ein zweites Mal getroffen wurde. Er fiel hin und sah über sich hinter Schals versteckte Gesichter, besser gesagt sah er nur die Augen. Sie schlugen ihn nicht, sondern rieben ihn wortlos und konzentriert mit kaltem, stechendem Schnee ein. Es tat nicht sehr weh, war aber schrecklich erniedrigend. Besonders beschämend war ihr wortloses Einvernehmen.

      „Jungs, wofür?“, fragte Taras und versuchte zu erkennen, wer sich hinter den einheitlich grauen Schals und den ins Gesicht gezogenen Mützen versteckte.