Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Natalka Sniadanko. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natalka Sniadanko
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939451
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schneeweiß. Die Großmutter vergaß nie, sie rechtzeitig wegzuräumen oder etwas darüberzubreiten.

      Nur Halyna durfte sie Großmutter nennen, für alle anderen war sie Pani Sofia. Solange Halyna sich erinnern konnte, hatte ihre Großmutter Verehrer gehabt. Selbst als Großvater Wilhelm noch am Leben war. Er hatte nichts dagegen, dass die Großmutter hin und wieder mit einem ihrer Kunden, der sich für einen besonders eleganten Anzug erkenntlich zeigen und sich an einem Gespräch mit einer intelligenten Dame erfreuen wollte, im Stadtzentrum zu Abend aß. Großmutter Sofia war eine legendäre Lemberger Schneiderin, bei ihr nähen zu lassen konnte sich längst nicht jeder leisten. Als Großmutter immer weniger Bestellungen entgegennahm, erfreuten sich die von ihr genähten Kleidungsstücke größerer Berühmtheit als die der teuersten Marken.

      Bei Großmutter Sofia hatte alles ein System. Auf ihrem Arbeitstisch lag ein dickes Notizbuch mit Ledereinband, in dem sie minutiös ihr Arbeitspensum notierte. Nicht nur was ihre Kunden und die Fertigstellung der Bestellungen betraf, sondern auch, was sie zu kochen oder einzukaufen plante. Großmutter Sofia vergaß nichts, und Halyna wusste genau: Was man der Großmutter versprach, musste man halten. Denn die Großmutter notierte jedes Versprechen in ihrem Buch und würde die Ausführung später überprüfen. Nicht, weil sie Halyna nicht vertraute, sondern weil sie schlichtweg alles überprüfte.

      Halyna sah Großmutter Sofia sehr ähnlich. Sie war zart gebaut, hatte dichtes schwarzes Haar, feine Gesichtszüge und große braune Augen mit markanten Augenbrauen, war groß und schlank, mit schmaler Taille und vollen Brüsten. Halyna hatte auch Großmutters Geschick geerbt, sich elegant zu kleiden und auf ihr Äußeres zu achten.

      „Sie haben gute Gene“, sagte eine Kosmetikerin einmal zu ihr. „Jetzt wissen Sie es noch nicht zu schätzen, aber mit den Jahren wird es sich bemerkbar machen. Sie werden langsamer altern, selbst wenn Sie sich nicht allzu sehr um Ihre Haut kümmern.“

      Doch die Angewohnheit der Großmutter, bei der Kosmetikerin regelmäßig Cremen zu bestellen und sich jeden Monat einer Behandlung zu unterziehen, hatte Halyna nicht geerbt. Ihre in der Jugend sehr empfindliche Haut gewöhnte sich erst Mitte dreißig an Make-up. Davor musste sie die gereizte Haut nach jedem Schminken ein paar Tage lang behandeln. Großmutter Sofia hatte einen dunklen Teint, ihre Haut hatte keine Flecken oder Unebenheiten und wirkte auch ohne großen Aufwand stets makellos. Halyna beneidete die Großmutter, denn ihre eigene Haut war sehr hell, fast durchsichtig, und schrecklich empfindlich. Ein unmerklicher Temperaturwechsel oder die Berührung mit einem rauen Handschuh genügten, um auf ihrer Haut eine Rötung hervorzurufen, die einige Tage anhielt. Halyna litt sehr unter diesen roten Flecken und versuchte manchmal, sie mit Tönungscreme abzudecken, doch auch das half nicht, und die Reizung wurde noch stärker. Nur wenn ihr Gesicht sonnengebräunt war, war Halyna zufrieden mit ihrer Haut.

      Sofia war Halynas Großmutter väterlicherseits. Babuschka Aljona, ihre Großmutter mütterlicherseits, starb, als Halyna noch klein war. Babuschka Aljona wurde im Osten der Ukraine geboren, weit weg von Lemberg, in der Stadt Slowjansk, in der weder Halyna noch ihre Mutter noch Großmutter Sofia je gewesen waren. Babuschka Aljona kam in den 1940er Jahren nach Lemberg. Dort brachte sie Halynas Mutter zur Welt. In Slowjansk war Babuschka Aljonas Schwester zurückgeblieben.

      Aljonas Schwester war von Geburt an blind, lebte in einer speziellen Einrichtung und fertigte Collagen an. Auf Kartonbögen von unterschiedlichem Format klebte sie seltsam geformte Figuren in den verschiedensten Farben, manchmal ausgeschnitten aus linierten oder karierten Schulheften. Die Figuren hatten bunte Konturen, waren innen weiß oder chaotisch übermalt. Da sie die Figuren manchmal schief übereinanderklebte, entstand eine reliefartige Oberfläche. Die Bilder waren einzigartig, man musste sie mit geschlossenen Augen befühlen. Das Abtasten piekste Halyna angenehm in den Fingerkuppen. Danach blickte sie manchmal lange, ohne zu zwinkern, auf das Kunstwerk, und in ihrem Kopf begann sich ein Kaleidoskop zu drehen, in dem Bilder erschienen, die mit den Abbildungen nichts mehr zu tun hatten.

      Manchmal wandte sich Babuschka Aljonas Schwester vom Abstrakten ab und schnitt bunte Blumen aus, meist Mohnblumen, die auch gelbe, blaue und sogar gelb-graue Blütenblätter haben konnten. Oft entsprangen die Blumen ihrer blinden Fantasie, denn echte Blumen hatte sie nie gesehen, kannte sie nur aus den Beschreibungen anderer. Die Konturen der Blumen trug sie manchmal mit einer dicken Schicht Gouache auf, die Flächen malte sie später aus oder ließ sie weiß. Sehr selten klebte sie die aus Papier ausgeschnittenen Blumen nicht auf Karton, sondern auf Stoff. Die Zeitschrift Sowjetische Frau berichtete einmal sogar über Aljonas Schwester. Diese Ausgabe der Zeitschrift hob Großmutter Sofia auf. Babuschka Aljona stand ihr ganzes Leben mit ihrer Schwester im Briefwechsel, hin und wieder erhielt sie mit einem Brief ein paar kleine Collagen oder Fotos von großen Arbeiten. Großmutter Aljona rahmte diese Geschenke und hängte sie auf.

      In den Briefen teilten die Schwestern einander mit, dass bei ihnen alles gut sei, nur die Gesundheit lasse zu wünschen übrig: Die Beine sind müde, der Rücken schmerzt. Babuschka Aljona hatte geschwollene Beine mit blau hervortretenden Venen, die besonders morgens und abends stark schmerzten. Stöhnend massierte sie ihre Beine und rieb sie mit Kastanienblüten-Tinktur ein, danach ging sie lange im Flur auf und ab. Die Großmutter war füllig und verließ selten das Haus, ihre Tage verbrachte sie am Fenster sitzend oder vor dem Fernseher. Sie liebte es, Pfannkuchen und Wareniky zu machen, und füllte sie mit den unterschiedlichsten Dingen. Diese Gerichte bereitete sie fast täglich und vortrefflich zu.

      „Bei uns macht man nicht so kleine Wareniky wie hier. Sondern ordentliche, große. Und man sagt: Nimm drei, essen vorbei!“, erzählte Babuschka Aljona, machte die Wareniky aber klein und „okkurat“, wie sie es nannte, aus ganz dünnem Teig. Dabei versuchte sie Großmutter Sofia zu übertreffen, indem sie den Teig noch durchsichtiger und die Täschchen noch winziger machte.

      Darin bestand ihr spezielles weibliches Rating: in der Zubereitung der filigransten Wareniky. Ihre Herangehensweisen waren sehr unterschiedlich. Babuschka Aljona bereitete den Teig nach einem geheimen, nur ihr bekannten Rezept zu, das selbst mit detaillierter Anleitung niemandem so gelang wie ihr. Halyna wusste nur, dass die Großmutter geschmolzene Butter, ein Eigelb und heiße Milch in den Teig gab. Danach knetete sie ihn lange auf einem speziellen Brett. Die Wareniky selbst formte Babuschka Aljona folgendermaßen: Sie schnitt lange Streifen vom Teig ab, rollte diese auf dem Brett aus und teilte sie flink in einheitliche, weiche Vierecke. Diese legte sie in geraden Reihen auf, nahm eins nach dem anderen, drückte die Füllung hinein und dann die Kanten aufeinander. Die Großmutter knetete den Teig immer im Stehen, nur wenn sie besonders viele Wareniki zu machen hatte, arbeitete sie im Sitzen.

      Großmutter Sofia sagte zu den Wareniky „Piroggen“. Sie knetete den Teig immer im Sitzen in einem speziellen länglichen Holztrog, der ein bisschen wie eine Babybadewanne aussah. Sie hatte kein Spezialrezept, nahm Wasser, ein Ei und Mehl („soviel es braucht“), knetete den Teig und zupfte fein säuberlich ein Kügelchen nach dem anderen für die Wareniky davon ab. Die fertigen Wareniky legte sie auf ein Brett. Großmutter Sofia füllte ihre Piroggen immer mit Kartoffeln und Quark, Babuschka Aljona ihre Wareniky hingegen mit allem Möglichen: mit Kraut, Fleisch, Sauerkirschen, Kirschen, verschiedenen Beeren, ja sogar mit Stachelbeeren. Füllte sie die Wareniky mit Kartoffeln, gab sie fast keinen Quark dazu, dafür häufig angeröstete Zwiebel.

      Nicht weniger kompliziert und nuancenreich war der Vorgang des Kochens der Piroggen. Der Topf fasste eine bestimmte Anzahl und exakt so viele musste man ins kochende Wasser legen. Die Kochzeit betrug wenige Minuten, dabei sollte der Teig weder roh bleiben noch zerkochen. Die Wareniky oder Piroggen mussten besonders sorgfältig und gekonnt geformt werden, dabei war es kategorisch verboten, die Teigränder mit Mehl zusammenzudrücken, damit sich diese im Wasser nicht lösten. Um die luftige Konsistenz des Teigs zu erhalten, sollte so wenig Mehl wie möglich verwendet werden. Großmutter Sofia verwendete grundsätzlich nur das ukrainische Wort für Mehl, Babuschka Aljona das russische.

      Beide Großmütter brachten Halyna seit früher Kindheit bei, Wareniky beziehungsweise Piroggen zuzubereiten, und weihten sie auch in die Feinheiten anderer Teigrezepte ein: Hefeteig, Blätterteig, Biskuitteig. Mit der Zeit wusste sie, wann ein Teig fest genug war, hatte ein ebenso gutes Auge wie ihre Großmütter für die benötigte Menge an Mehl beziehungsweise dafür, ob man dem Pfannkuchenteig noch ein bisschen Milch