Die Bevölkerung bestand größtenteils aus Italienern, doch reisten zu jeder Jahreszeit, sogar zwischen November und April, die reichsten Österreicher hierher, denn der Ort war berühmt für sein Klima. Hier gingen alle zu Fuß und atmeten Meeresluft, entlang der Strandpromenade gab es keine Straße für Kutschen oder Automobile. Das Leben erschien einfach und wunderbar, genauso behielt Wilhelm diesen Ort in Erinnerung. Karl Stephan und Maria Theresia nahmen aktiv am Leben der Inselbewohner teil. Alle wohltätigen Veranstaltungen fanden unter ihrem Patronat statt. Konnten der Erzherzog und die Erzherzogin nicht persönlich erscheinen, schickten sie jemanden von den Hofleuten, am häufigsten Graf Chorinsky.
Die Villa Podjavori wurde als kleine Festung über dem Meer errichtet. Von den Fenstern des langen zweistöckigen Gebäudes hatte man einen herrlichen Blick auf die blaue Adria, verschneite Alpengipfel und unzählige kleine Inseln. Treppen aus grauem Marmor, lange Gänge, Terrassen voller Blumen, das Interieur im Kolonialstil … Der riesige, direkt an den Hängen des Monte San Giovanni angelegte Garten erschien Willy immer geheimnisvoll. Hier konnte man völlig überraschend auf eine efeubewachsene Altane stoßen, auf Rosensträucher oder einen grauen kahlen Felsen, der wie eine Kirchturmspitze in die Luft ragte und sich in unerreichbarer Höhe, irgendwo zwischen Himmel und Meer, vom umliegenden Grün abhob. Hier wuchsen Oliven-, Zitronen- und Orangenbäume, Palmen und Kamelien, und es wimmelte von Insekten und faulen Schlangen, die unter den Büschen hervorkrochen, um sich in der Sonne zu wärmen.
Wie alle Kinder waren auch die Kinder des Erzherzogs manchmal ungezogen. Meist wurden sie hart dafür bestraft, besonders wenn der Vater von ihrem Vergehen erfuhr. In diesem Wissen verheimlichten die Lehrer und Gouvernanten die Dummheiten der Kinder manchmal vor den Eltern, was zum Glück einen viel größeren Lerneffekt hatte als jede Strafe.
Einmal zum Beispiel stellten Willy und Eleonora im Garten ihrem Zimmermädchen nach, das sich zum Wasserlassen hinter einen Busch gehockt hatte. Die Kinder wollten sie in einem unerwarteten Moment mit dem Schlauch des Gärtners anspritzen, bemerkten jedoch nicht, dass sich die englische Gouvernante Miss Ryan von hinten an sie heranschlich. Diese hatte die Kinder in ihrem Versteck gesehen, aber nicht den Gartenschlauch in ihrer Hand. Und so war am Ende Miss Ryan von Kopf bis Fuß durchnässt und die Kinder starr vor Schreck. Dafür würden sie eine saftige Strafe bekommen. Auch Miss Ryan erstarrte, denn sie müsste nun pitschnass in ihr Zimmer gehen und jedem, dem sie begegnete, von ihrem Abenteuer erzählen.
Graf Chorinsky, der die Szene vom Fenster aus beobachtet hatte, rettete alle, weil er die Situation sofort durchschaute und umgehend reagierte: Er lief in den Garten und gab Miss Ryan seinen Mantel, die Kinder schickte er mit einem Korb Rosen zum Gärtner. So war Miss Ryans Ruf gerettet, und Willy und Eleonora entkamen der Strafe.
Bald hatte Willy die Gelegenheit, sich zu revanchieren. Einige Tage später hielten sich Graf Chorinsky und Miss Ryan länger als geplant bei einem Bankett in der Nachbarvilla auf und kamen erst gegen Morgen nach Hause. Der Graf begleitete Miss Ryan zur Tür ihres Wohntraktes und wollte sich schon verabschieden, als sich herausstellte, dass die Gouvernante ihren Schlüssel verloren hatte. Die Situation war ausweglos. Der Graf konnte die junge Dame nicht in seine Suite einladen, denn das würde ihre Reputation ruinieren, doch konnte er sie auch nicht mitten in der Nacht alleine im Freien stehen lassen. Würde man sie jedoch am Morgen gemeinsam im Freien antreffen, wäre Miss Ryans Ansehen ebenfalls in Gefahr. Willy, der immer einen sehr leichten Schlaf hatte, wachte auf und schaute aus dem Fenster. Als er die beiden sah und ihr Gespräch mitanhörte, lief er sofort zur Tür und öffnete Miss Ryan. Die Tür zu ihrem Zimmer hatte Miss Ryan zum Glück nicht abgesperrt.
Auf der Insel führte die Familie ein Leben ohne Zeremonien und Formalitäten. Oft traf man eines der Familienmitglieder im Garten, bei einem Spaziergang in den Hügeln oder einfach im Kaffeehaus, ohne Wachen und sogar ohne Begleitung. Die Einheimischen hatten sich längst daran gewöhnt und grüßten die Mitglieder der erzherzoglichen Familie freundlich. Die Sommerfrischler hingegen waren überrascht und unterhielten sich aufgeregt über das Gesehene, wovon die Bewohner der Villa Podjavori sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließen: Sie spielten Tennis, schwammen im Meer, unternahmen Fahrten mit ihrer Yacht, kümmerten sich um Garten und Gemüsebeete. Jedes Kind des Erzherzogs hatte im Garten sein eigenes Beet, für das es verantwortlich war. Die achtzehn italienischen Gärtner, die sich um den Garten kümmerten, waren gerne bereit zu helfen, doch die Kinder wussten Bescheid und werkten mit Freude auf ihren Beeten. Wenn Wilhelm Halyna davon erzählte, lebte er stets auf und wandte sich mit seiner immer wiederkehrenden Frage an Großmutter Sofia:
„Was meinst du? Sollen wir uns nicht ein Stückchen Land kaufen, wie nennt man das heutzutage gleich noch mal … eine Datscha, und endlich mit dem Gärtnern beginnen?“
Die Großmutter reagierte längst nicht mehr auf diese rhetorische Frage und auch Halyna war klar, dass Gartenarbeit nichts für den von Arthrose geplagten Wilhelm war. Selbst in die Karpaten begleitete er Sofia und Halyna nur selten, denn es fiel ihm schwer, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Doch einen Streit zu diesem Thema zu beginnen, war gefährlich: Wilhelm glaubte fest daran, dass er eines Tages eine herrliche Datscha mit riesigem Garten besitzen würde. Und dass er irgendwann einen dicken Wälzer über sein Leben schreiben würde, nicht bloß eine kurze Autobiografie.
Die religiösen Feiertage und Familienfeste folgten auf Lussin einer festen Ordnung. Als Erstes wurde Maria Theresias Geburtstag gefeiert. An diesem Tag trugen die Frauen ihre schönsten Kleider und die Männer ihre Paradeuniformen. Nach dem Frühgottesdienst gingen die Kinder mit weißen Glacéhandschuhen, hintereinander in einer Prozession, zum Boudoir der Erzherzogin, um ihr zu gratulieren. Jedes Kind küsste der Mutter die Hand, brachte einen Strauß Blumen vom eigenen Beet und ein selbstgemachtes Geschenk und sagte einige Gedichte in verschiedenen Sprachen auf. Dann gratulierten die Erwachsenen: mit einer tiefen Verbeugung, einem Handkuss, Blumen, Glückwünschen und Geschenken. Zu Mittag gab es ein Festmahl, später ein Abendessen und danach Tanz und Musik.
Stephan fuhr an seinem Geburtstag gewöhnlich mit der Yacht aufs Meer hinaus. Ohne Familie. Die Kinder mussten ihm derweil lange Briefe mit Glückwünschen in verschiedenen Sprachen schreiben. Er antwortete stets auf Englisch, das er in Wort und Schrift perfekt beherrschte. Das waren die letzten Reste der Hofetikette, an denen die Familie des Erzherzogs auch im Urlaub fern der Heimat festhielt.
Stephans ältester Sohn Karl Albrecht studierte im Sommer ebenso intensiv wie das restliche Jahr über. Ab sechs Uhr morgens hatte er den ganzen Tag lang eine Unterrichtsstunde nach der anderen, selbst bei größter Hitze in Anzug und mit weißen Handschuhen. Sogar die einander an Karl Albrechts Seite abwechselnden Lehrer unterhielten sich manchmal darüber, wie schwer es der älteste Sohn des Erzherzogs habe.
Ostern
Ostern feierte man üblicherweise am Meer. Das Fest begann mit dem Bemalen der Ostereier. Gründonnerstag war der einzige Tag im Jahr, an dem nicht nur Willy, sondern alle Kinder in Maria Theresias Werkstatt durften, wo bereits alles vorbereitet war. Jedes Kind bekam einige Kistkas und so viele Eier, wie es wollte. Mit dem flüssigen Wachs der Kistkas malten die Kinder große Blumen auf die Eier, in einem konzentrierten Zwiebelsud bekamen sie dann den satten Farbton von Buchenrinde. Wenn sie die Eier herausholten, wischten sie das Wachs ab und auf den Ostereiern erschienen weiße Blütenblätter auf dunklem Hintergrund.
Am Freitag besuchte man die Epitaphios-Gottesdienste. An diesem Tag fuhr die Familie des Erzherzogs in ihre Villa in der Stadt Pola, von wo sie die Gottesdienste zu Fuß erreichen konnten. Selbst wenn Ostern in den April fiel, war es hier heißer als in Wien im August. Trotzdem kleidete sich die ganze Familie in Schwarz und ging um zehn Uhr Vormittag in die Kathedrale, die „sehr schön, sehr alt und sehr italienisch“ war, wie Miss Ryan es ausdrückte.
Für die Familie des Erzherzogs gab es in der Kirche spezielle Plätze: mit Gold verzierte Stühle mit purpurroten Sitzkissen. Die vom alten italienischen Priester Don Antonio zelebrierten Gottesdienste der Osterwoche blieben Wilhelm am besten im Gedächtnis. Am Karfreitag ging man danach noch zweimal zur Kirche: um drei Uhr