Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Natalka Sniadanko. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natalka Sniadanko
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939451
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Sie trug ein wunderschönes Kleid mit viel Tüll und zahlreichen Unterröcken, doch beherrschte es nicht, sich in dem Kleid und den speziellen Schuhen zu bewegen. Zu Beginn wagte sie nicht, sich zu erheben, doch Karl Stephan, dem das Kostüm sehr gefiel, forderte sie zum Tanz auf, und sie konnte nicht ablehnen. Mitten im Tanz rutschte das Fräulein plötzlich auf dem blank polierten Parkett aus, stürzte und wurde unter ihren zahlreichen Tüll- und Unterröcken begraben. Karl Stephan kommentierte den Vorfall mit keinem Wort, half der Dame höflich auf die Beine, und sie setzten den Tanz fort. Wäre dasselbe einer seiner Töchter passiert, hätte sich die Arme eine lange Strafpredigt darüber anhören müssen, wie man sich keinesfalls auf einen Ball vorbereiten durfte.

      So vergingen Oktober und November, dann fiel Schnee und eine lustige Zeit begann. Der Bach im Park fror zu und die Kinder liefen stundenlang darauf Eis oder fuhren mit Schlitten oder Ski von den Hügeln.

      Weihnachten verbrachte die Familie immer in Saybusch. Und die Zeremonie dort war nicht weniger feierlich als am Wiener Hof. Die Vorbereitungen begannen früh, und bereits im November waren Maria Theresia und die Hofdamen abgehetzt und müde. Die Kinder des Erzherzogs schrieben Briefe mit ihren Wünschen, und die Hofdamen legten Geschenklisten an. Anschließend fuhr Maria Theresia mit einigen ihrer Hofdamen nach Wien, um die Einkäufe zu erledigen – sie mussten nicht nur an die Geschenke für die Kinder, Diener und deren Familien denken, sondern auch für die vielen armen Familien in Saybusch.

      Ein paar Tage vor dem Fest wurden die Türen zum Weißen Salon, dem größten Saal im Schloss, abgeschlossen, die unmittelbaren Vorbereitungen, an denen sich alle beteiligten, begannen. Sogar die Kinder hatten Pflichten: Sie mussten die Geschenke für die Diener und Armen in Körbe packen und Süßigkeiten sowie andere Leckereien in Silberpapier wickeln. Willy liebte diese Arbeit, denn er konnte dabei nach Herzenslust von den Leckereien naschen. Am letzten Tag, als die Geschenke für die Kinder unter den Baum gelegt wurden, durften sie nicht mehr in den Weißen Salon. Der Reihe nach spähten sie durch das Schlüsselloch, jedoch vergeblich, denn abgesehen vom Glitzern des Christbaumschmucks war nichts zu erkennen.

      Am Weihnachtsabend versammelten sich alle in der Kapelle neben dem Schloss zum Gottesdienst. Nach der Messe, die um fünf Uhr begann und eine gute Stunde dauerte, begab man sich zu Tisch. Das Festtagsmenü bestand aus den traditionellen polnischen Weihnachtsgerichten: kalter Fastenbarszcz mit Knoblauchtäschchen, gebratener Karpfen, eingelegter Hering, Piroggen mit Kraut und Erbsen, fleischlose Krautrouladen, Wareniky und Kutja. Nichts von diesen Speisen mochte Willy, außer Barszcz und Kutja. Davon aß er jedoch so viel, als wollte er sich ein Jahr im Voraus daran satt essen, und oft quälten ihn danach bis zum Morgen Bauchschmerzen.

      Am Heiligen Abend diente ein Tuch aus grauem Leinen, das von den Dorffrauen bestickt worden war, als Tischdecke. Darunter musste Stroh liegen, und nach dem Essen packte man Löffel, Gabeln und Messer, die mit einem Band zusammengebunden wurden, hinein. Traditionell bestand das Weihnachtsessen aus zwölf Speisen, aber meist gab es viel mehr. Das Abendessen wurde stets mit einer Oblate begonnen, die unter der ganzen Familie aufgeteilt wurde. Willy mochte keine Oblaten, und wenn er bei der Heiligen Messe eine bekam, schluckte er nur den Wein, die Hostie jedoch versuchte er in seiner Wange zu verstecken, um sie später unbemerkt auszuspucken. Aber Speichel und Wein verwandelten die Oblate zu einem Brei, der an der Innenseite der Wange haftete und noch lange einen sauren Geschmack verströmte.

      Nach dem Abendessen versammelten sich alle an der Treppe und gingen als feierliche Prozession in den festlich geschmückten Weißen Salon, in dessen Mitte ein riesiger, mit Kugeln und Kerzen geschmückter Weihnachtsbaum stand. Unter dem Weihnachtsbaum und auf Tischen an der Wand lagen die Geschenke. An jedem Geschenk war ein Schild mit dem Namen seines Empfängers befestigt. Willy liebte die Zeremonie des Geschenkeverteilens und wollte dabei immer möglichst nah bei der Mutter stehen.

      Die Geschenke für ihre Kinder wählte Maria Theresia besonders sorgfältig aus, es waren nicht nur schöne und teure, sondern auch wohlüberlegt gekaufte Dinge. Einmal hatte sich der kleine Leo ein Pony zu Weihnachten gewünscht – und wirklich, vor den Augen aller trottete ein dickes Pony durch die weit geöffnete Tür des Weißen Salons. An der Mähne des Ponys war ein Kärtchen mit der Aufschrift „Für Leo“ befestigt. Das Pony zog eine Miniatur-Kutsche mit dem Kärtchen „Für Renata“, auf deren Rückbank ein riesiges Päckchen „Für Eleonora“ und ein winziges „Für Mechthildis“ lag. Im großen Päckchen war ein neuer Fuchspelzmantel und im kleinen ein Diamantcollier. Zusätzlich zu den Geschenken, die sich die Kinder gewünscht hatten, bekamen sie stets Bücher.

      Nachdem die wichtigsten und teuersten Geschenke verteilt worden waren, kamen die Diener des Schlosses an die Reihe. Sie stellten sich nebeneinander an der Wand auf, danach rief Maria Theresia jeden bei seinem Namen auf, der Betreffende trat vor, küsste ihre Hand und erhielt sein Geschenk. Den Dienern zitterten vor Aufregung die Hände. Es folgten die Kinder der Armen aus den umliegenden Dörfern. Sie bekamen keine Spielsachen, sondern Kleidung, Schuhe und andere nützliche Dinge. Für die Kinder der Diener und Armen wurde immer ein feierlicher Weihnachtsempfang mit Süßigkeiten und heißer Schokolade veranstaltet.

      Wenn die Zeit kam, den Weihnachtsbaum abzuräumen, halfen auch die Kinder, sie liefen geschäftig umher und nahmen Schmuck und Kerzen ab. Einmal fing die Spitze des Weihnachtsbaums in Karl Stephans Händen sogar an einer Kerze Feuer. Die Kinder freuten sich über das Abräumen des Weihnachtsbaums, denn es bedeutete, dass der Frühling und somit die Abreise nach Lussin vor der Tür standen. Nur Willy mochte das Abräumen nicht. Als kleines Kind weinte er sehr, wenn er sah, dass der Weihnachtsschmuck abgenommen und dann der am Vortag noch so schöne Baum verbrannt wurde. Später verkündete er kategorisch: „So eine traurige Arbeit kann ich nicht machen!“

      Jedes Jahr zu Frühlingsbeginn übersiedelten die Habsburger von Saybusch in ihre Villa auf der Insel Lussin. Das Packen für den Sommeraufenthalt dauerte einige Wochen. Dann fuhr ein Sonderzug in den Saybuscher Bahnhof ein, der rote Teppich wurde ausgerollt, die Diener in Paradelivreen bildeten ein Spalier und verabschiedeten die Familie des Erzherzogs feierlich. Bei der Ankunft in Wien wurden sie noch festlicher empfangen. Viele einfache Leute und auch Aristokraten kamen, um die Ankunft des Erzherzogs mitzuverfolgen – die Straßen rund um den Bahnhof waren voll von Kutschen. Und danach sprach man noch tagelang darüber, wie Maria Theresia ausgesehen habe und wie groß die Kinder geworden seien.

      Vor der Weiterfahrt verbrachte die Familie ein paar Tage in ihrem Palais in der Wiedner Hauptstraße. Maria Theresia besuchte mit den Kindern verschiedene Museen, begleitet vom Lehrer für Malerei, bei dem auch sie selbst ihr Leben lang Unterricht nahm. Er war ein hervorragender Kenner der italienischen Malerei und konnte die einzelnen Kunstwerke sehr spannend erklären. Als die Kinder etwas älter waren, durften sie ihr Nachmittagsprogramm selbst wählen: mit der Mutter malen oder mit dem Vater fotografieren. Wilhelm fand Gefallen an der Fotografie. Sie zählte zu den wenigen Dingen, die sein unstetes Naturell lange an einem Ort fesseln konnten. Stundenlang stand er über Negative gebeugt in der Dunkelkammer, und einmal im Monat richtete er für das Hauspersonal eine Fotoausstellung aus. Die Begeisterung fürs Fotografieren begleitete Wilhelm sein ganzes Leben lang. Einige von Wilhelms Bildern aus seiner Lemberger Zeit sollte seine Enkelin Halyna später sogar in ihrem Atelier aufhängen.

      Von Wien ging es mit dem Zug weiter durch die malerische Steiermark und die Alpen nach Triest. Dort wurden sie von einer Yacht erwartet, die sie zur Insel Lussin im Adriatischen Meer brachte. Die Yacht legte oft an, und die Passagiere gingen an Land, um die idyllischen Inseln und winzigen Städte zu bestaunen, in denen zahlreiche Bauwerke aus römischer Zeit erhalten geblieben waren. An der Adriaküste befand sich der wichtigste Kriegshafen der Habsburger, die antike Stadt Pola2 mit ihrem atemberaubenden Amphitheater. Willy stellte sich gerne vor, wie sich hier fünfzehntausend Zuseher versammelten und das blutige Spektakel gebannt verfolgten. Auch in Pola besaß die Familie des Erzherzogs eine Villa. Hier hatte sie logiert, bevor die Villa auf der Insel Lussin fertiggestellt worden war.

      Die beiden Hauptorte auf Lussin hießen Lussinpiccolo und Lussingrande. In Lussinpiccolo gab es einen Naturhafen, einen malerischen