Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Natalka Sniadanko. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natalka Sniadanko
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939451
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rückte den Gürtel seiner Soutane zurecht und verkündete, dass er den Jungen in der Schule anmelden würde.

      Der Vater knetete seine Kappe so fest in den Händen, dass seine Knöchel weiß hervortraten, zornig funkelte er den Sohn an, wagte es jedoch nicht, sich gegen die Autorität des Priesters zu stellen. Also verabschiedete er sich mit einem zwischen den Zähnen hervorgepressten „Gelobt sei Jesus Christus!“ und verpasste dem Pferd wortlos einen Peitschenhieb. Das machte einen Satz nach vorne und der Wagen fuhr mit einem Ruck an.

      So kam Iwan ins Gymnasium, den Weg dorthin musste er zu Fuß zurücklegen, sogar im Winter, neun Kilometer in jede Richtung. Latein wurde Iwans Lieblingsfach. Am Nachmittag saß er gerne auf der Ofenbank, knabberte an einer Karotte, einer Birne oder einem harten Stück Brot und wiederholte die Konjugation der lateinischen Verben. Für seine Mutter klang das wie eine Predigt: unverständlich und feierlich. Iwan selbst hatte das Gefühl, Zugang zu geheimem Wissen bekommen zu haben, das seiner Umgebung verborgen blieb.

      Wenn ihn die Eltern beim Faulenzen ertappten, was das Sitzen über Büchern ihrer Meinung nach war, fragten sie stets scharf, warum er nicht arbeite. „Sic fata tulere“, antwortete Iwan mit seiner liebsten Redewendung und übersetzte gleich: „So wollte es das Schicksal.“ Doch es half nichts, der Vater griff nach dem Gürtel und jagte den ach so schlauen Gymnasiasten durchs Haus.

      Später erzählte Iwan gerne die Episode aus seinem Schulleben, als er mit einem Freund vor der Lateinstunde Vesper aß. Die Mutter hatte ihm Käse in ein Tuch eingeschlagen, den er nun Stück für Stück genüsslich verspeiste. Die Mutter des Klassenkollegen hatte diesem Brot und Stückchen vom Huhn, das sie am Vortag geschlachtet hatten, eingepackt. Die Jungen teilten ihr Essen miteinander. Iwans Freund war schneller fertig und ging auf den Schulhof hinaus. Iwan pickte sorgfältig die letzten Käsekrümel aus seinem Tuch, als der Lateinprofessor vorbeikam. Der erblickte Iwan und scherzte: „Ivanus caseum amat.“

      Doch Iwan antwortete ernst: „Ivanus Latine amat.“

      Iwan, der etwa in Wilhelms Alter war, beherrschte Griechisch und Latein. Und wenn er mit dem Verhalten seines Herrn unzufrieden war, murmelte er: „Si duo faciunt idem, non est idem.“ Wilhelm verstand zwar nicht, was das bedeutete, fühlte sich aber schuldig.

      „Wir Kinder wurden zu Hause streng, aber sehr frei erzogen. Die Traditionen des Herrscherhauses spielten keine besondere Rolle“, erzählte Wilhelm. „Bei uns erlernte jeder Mann ein Handwerk: meine beiden älteren Brüder die Tischlerei und Brandmalerei, ich die Zierklempnerei. Damit beschäftigten wir uns von früher Jugend an bis zum Eintritt in die Militärakademie immer abends.“

      Willy mochte es, mit den Dorfkindern Kühe zu hüten und ihren Geschichten über fürchterliche Hexen, Zauberer, Werwölfe und Geister zu lauschen. In Saybusch sprachen die Kinder im Dorf größtenteils Polnisch, von den Ukrainern hörte Wilhelm zum ersten Mal von Olgierd Czartoryski, dem Mann seiner älteren Schwester Mechthildis. Wie viele polnische Magnaten bezeichnete er die Ukrainer als Russinen und hielt sie für „Verbrecher, Rüpel und Abschaum“. Doch Wilhelm schreckte dieser abschätzige Ton nicht ab, im Gegenteil, er machte ihn neugierig. Und wie sein zukünftiger Offiziersbursche schmiedete auch er einen Plan.

      An einem heißen Sommertag machte sich Wilhelm in der Schuluniform eines Dorfjungen heimlich auf zum Bahnhof und stieg in einen Zug nach Worochta. Dort lebten der Erzählung des Onkels nach die geheimnisvollen Huzulen, welche in einer ähnlichen, aber doch anderen Sprache als die übrige Bevölkerung sprachen und hexen konnten. Wilhelm schrieb darüber Folgendes:

      „Es war im Sommer, die Hitze war groß. Ich fuhr inkognito über Lemberg und Stanislau, in einem Coupé zweiter Klasse. Der Anblick der huzulischen Berge beeindruckte mich sehr. In Worochta angekommen ging ich ins Dorf. Unterwegs traf ich einen Huzulen, er war um die vierzig, ich fragte ihn auf Polnisch, ob er für ein paar Tage eine Bleibe für mich habe. Er antwortete mit Ja. Und so kam ich bei ihm unter. Ich ging in die Berge, ritt und fuhr mit dem Pferdewagen, war auch in Schabje – überall hielt ich Ausschau nach den ukrainischen Verbrechern. Umsonst! Ich war enttäuscht. In meiner Seele machte sich großer Unmut meinen Informanten gegenüber breit, denen ich so lange Glauben geschenkt hatte. Damals veränderte ich mich völlig und kehrte als anderer nach Saybusch zurück.“

      Während sich der jugendliche Willy seinen Eindrücken hingab, hatte man im ganzen Kaiserreich Gendarmen mobilisiert, die den Erzherzog suchten. Die Suche aber blieb erfolglos, denn Wilhelm kehrte von selbst nach Hause zurück und zerstritt sich für immer mit seinem Schwager Czartoryski wegen dessen antiukrainischer Haltung. Erst im Nachhinein erfuhr Willy, dass der wohlhabende Huzule, bei dem er gewohnt hatte, der Vater von Petro Schekeryk gewesen war, einem berühmten Mitglied der Ukrainischen radikalen Partei. Viele Jahre später sollte Wilhelm dieses gastfreundliche Haus noch einmal aufsuchen – auf der Flucht vor rumänischen Soldaten, die ihn in der Hitze des Bürgerkriegs in Galizien festnehmen wollten.

      Manchmal lud Karl Stephan polnische Aristokraten, die im Umkreis von Krakau lebten, zur Jagd ein. Die Gäste kamen üblicherweise für ein paar Tage, tagsüber wurde gejagt, abends lauschte man musikalischen Darbietungen im Weißen oder im Goldenen Salon – beide hatte der Hausherr mit besonderer Sorgfalt ausstatten lassen –, man speiste und tanzte. Bei den abendlichen Klavierkonzerten trat in der Regel auch Karl Stephan auf, der viele Stücke von Chopin in seinem Repertoire hatte. Oft wurden bekannte Musiker eingeladen. Besonders gut blieb Wilhelm der Besuch des berühmten tschechischen Violinisten und Komponisten Jan Kubelík in Erinnerung. Nicht das Konzert, denn Wilhelm döste nach kurzer Zeit ein und ging wenig später zu Bett, jedoch das Mittagessen mit dem Virtuosen. Wie sich herausstellte, benutzte Kubelík nie ein Messer, das Essen schnitt seine stets neben ihm sitzende Akompanitorka. Der Violinist erzählte, dass er sich von klein auf sehr vor Verletzungen fürchte und deshalb keine Messer oder anderen gefährlichen Gegenstände anrühre. Wilhelm musterte Kubelíks Hände und war beeindruckt, wie zart sie waren, die Haut ganz dünn, fast durchsichtig.

      Die Jagdsaison fiel in Saybusch auf den Herbstbeginn. Zwischen den Jagdausflügen veranstaltete man Picknicke und Wanderungen in die Berge. Selbst wenn die kaiserliche Familie eine Ausfahrt ohne Gäste unternahm, wurde sie zu einer ansehnlichen Zeremonie, die für die Bewohner der umliegenden Dörfer ein besonderes Ereignis darstellte.

      Früh am Morgen verließen drei oder vier Pferdekutschen, die Kutscher und Lakaien in glänzende Livreen gekleidet, das Schloss. Der Konvoi bewegte sich zum Treffpunkt mit den Dienern, die vorgeschickt worden waren, um einen guten Platz für die Jagd oder das Picknick vorzubereiten. Die Diener kochten am offenen Feuer wunderbare Suppen, brieten Würste, buken Kartoffeln in der Asche und richteten die von zu Hause mitgebrachten kalten Speisen an. Die Kinder freuten sich immer über die Ausflüge in den Wald oder in die Berge, denn mit dem Herannahen des Winters wurden sie seltener. Verglichen mit dem Adriaufer, wo die Familie den Sommer verbrachte, gab es in Saybusch unglaublich viele graue und verregnete Tage. Kein Wunder also, dass die Kinder den Tag, an dem sie wieder nach Lussin1 aufbrechen würden, ungeduldig herbeisehnten.

      Bei Regen war es praktisch unmöglich, das Schloss zu verlassen. Oft stürmte es, im Wald stürzten Bäume um, Flüsse traten über die Ufer und überschwemmten die Felder. An den Regentagen bekamen Willy und seine Geschwister neue Spielsachen, damit sie sich nicht so langweilten.

      In dieser Zeit richtete Karl Stephan oft Kostümbälle aus, mit Gästen oder nur für die Familie. Alle überlegten sich lustige Verkleidungen und tanzten bis spät in die Nacht zu Walzern von Chopin. Manchmal standen die Feste unter einem Motto, „Schwedische Tänze“ oder „Schwarz-Weißer Abend“ zum Beispiel, manchmal musste man seine Fantasie spielen lassen. Karl Stephan hatte hohe Ansprüche an die Kostüme seiner Familienmitglieder. Vor Beginn jedes Balls musste man sich in einer Reihe aufstellen, und er begutachtete sorgfältig jedes Kostüm. Den Kindern zitterten die Knie vor Aufregung, denn es war nicht leicht, ein Lob des Vaters zu verdienen. Entdeckte er auch nur einen winzigen Fehler am Kostüm, kritisierte er es schonungslos. Den Gästen gegenüber