Stalingrad - Die stillen Helden. Reinhold Busch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Busch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810422
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Paal, die Spritze vollbrachte ihre wohltuende Wirkung, der Verband wurde angelegt, und dann ab zum Hauptverbandplatz. So also ging es im Operationswagen zu: Es wurde kaum gesprochen; was vorher eingeübt worden war, klappte wie am Schnürchen; die knappen Handbewegungen von Dr. Paal, seine sprechenden Augen, und seine Sanitäter wußten sofort Bescheid. Noch ein schnelles ‚Danke‘ kam über unsere Lippen, und schon kamen die nächsten Verwundeten auf den Op-Tisch. Einer schrie fürchterlich; ihn hatte es schwer erwischt. Welche Wohltat, diese ärztliche Versorgung einmal miterleben zu können! Nun konnte man sich in das Leiden der Verwundeten hineinversetzen.

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       Dr. Erich Weber, Chirurg des Feldlazaretts 297

      Wo immer es einen Verbandplatz gab, dort gab es auch Gräber von Gefallenen, und über diesen Gräbern das schlichte Holzkreuz mit Namen, Geburts- und Todestag. Sanitätsgefreiter Baumann und seine Mitarbeiter zimmerten diese Kreuze und erwiesen damit den Gefallenen das Werk der Barmherzigkeit. Das Grab mit dem Kreuz noch schnell fotografieren und das Bild alsbald heimwärts schicken, damit Trauernde getröstet würden, das gehörte selbstverständlich dazu.

      Vor allem die Panzer verursachten schwerste Verletzungen. Ich holte einmal aus einem von einer Granate durchschlagenen Panzer einen Mann mit einem vielzackigen Splitter heraus: eine grausame Verwundung! Sorgsam wurde der Verletzte mit der Zeltbahn auf die Trage gelegt, auf den Panzer gehoben und dann auf den Op-Tisch. Der Operateur und seine Helfer standen schon bereit; leider war es wieder einmal wie so oft eine schwere Kopfverletzung. Sofort wurde der Verband sorgfältig angelegt, und wir hofften, daß das Leben im Lazarett doch noch erhalten werden konnte. Später traf ich den Kopfverletzten wieder; man hatte ihm den Splitter mit einem Magneten aus der Stirnwunde herausgezogen.

      In einem russischen Dorf lagen wir wie so oft ganz plötzlich unter schwerem Artilleriebeschuß – Einschlag auf Einschlag. Nur eine Granate explodierte in einer Baumkrone, unter der einige Kameraden standen. Die meisten Verwundungen waren Gott sei Dank nicht schwer, aber ein Kamerad wurde wachsbleich, keine äußere Verletzung war zu sehen. Jetzt schnell zu Dr. Paal, der das weiße Hemd öffnete und mit einem Blick wußte: Granatsplitter tief im Bauch! Er bemerkte: ‚Hier draußen kann ich leider selber nicht operieren, so gern ich es täte. Nur sorgfältig einen Verband anlegen, dann aber sofort zum Hauptverbandplatz und vielleicht in ein Lazarett der Heimat!‘ Freundlich wies er die Sankafahrer an: ‚Äußerst vorsichtig auf der Rollbahn fahren, vielleicht kann man dem Mann dort noch helfen!‘

      Auch dieser Krieg ging leider nicht ohne Nahkämpfe ab. Einer unserer tapfersten Offiziere hatte diese Nahkämpfe nach vielen eigenen Erlebnissen verflucht. ‚Zu Ihnen darf ich ja sprechen,‘ sagte er zu mir. ‚Furchtbare Verwundungen bei Nahkämpfen durch das aufgepflanzte Bajonett, grausam der Nahkampf mit dem geschliffenen Spaten in den Laufgräben und das entsetzliche Stöhnen der gequälten Verwundeten!‘ So mancher von ihnen hatte schon dadurch das Leben behalten, weil das strömende Blut unter der geschickten Hand des Chirurgen und seiner Helfer gestillt werden konnte. Dr. Paal strahlte vor Freude über eine gelungene Rettung, und Feldwebel, Unteroffiziere und Gefreite der 1. Sanitätskompanie nicht weniger.

      Schweren Herzens mußten sich unsere Ärzte so manches Mal zu Amputationen entschließen, wenn Arme und Beine nur noch durch Fetzen mit dem Körper verbunden waren. Man sah es Dr. Paal manchmal an, wie schwer ihm eine notwendige Amputation fiel. Denn nur eine solche Amputation konnte einem Verwundeten oft das Leben erhalten. Einer unserer amputierten Kameraden sagte mir einmal bei einer späteren Begegnung: ‚Nur noch ein Rumpf ist da, aber ich lebe und kann arbeiten!‘ Die Sehnsucht, zu überleben und wieder nach Hause zu kommen, war sehr groß – um so höher war die Tapferkeit einzuschätzen. Dr. Paals reiche Erfahrung war eine rettende, und junge Ärzte lernten viel von ihm.

      Trotz aller Hilfeleistung war oft nichts mehr zu machen. Zweiter Chirurg nach Dr. Paal war Oberarzt Dr. Hegemann. Welch eine kameradschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ärzten! Einmal brachte man einen Kameraden zum vorgeschobenen Verbandplatz, der nach schwerer Beinverletzung mit seiner Qual Tag und Nacht einsam gelegen, gelitten und geschrien hatte, endlich aber gehört und gefunden worden war. Welch ein schauriger Anblick! In seinem zerrissenen Bein wühlten schon die Maden. Bei solcher Vergiftung eines Menschen war das Leben kaum noch zu retten, aber Dr. Hegemann versuchte es. Oberarzt Dr. Hegemann wies auf einen sehr jungen Schwerverwundeten; sein Blick besagte: Hier ist, menschlich gesehen, nicht viel zu machen. Wie gerne hätte er es getan – er war ja mit Hingabe Arzt –, aber er litt wie viele andere unter menschlicher Ohnmacht in dunkelsten Situationen. ‚Sprechen Sie doch mal mit ihm!‘ Ich wandte mich dem so jungen Kameraden zu. Ängstlich sagte er sogleich: ‚Es wäre doch schade, wenn ich abrutschen tät!‘ Solch ein Wort der Hoffnung bis zuletzt vergaß man nie. ‚Der Oberarzt soll mich doch noch operieren, bitte sagen Sie es ihm!‘ Und Dr. Hegemann versuchte mit seinen getreuen Helfern wirklich alles; aber der Verwundete wachte aus der Narkose trotzdem nicht mehr auf. Dr. Hegemann blickte traurig zur Seite, und ich konnte nur mit Paul Gerhard sagen: ‚Mach End, o Herr, mach Ende, mit aller unser Not!‘, auch mit diesem elenden Krieg. Einige fingen an zu fragen: Muß das wirklich sein? Sie fragten, gerade weil sie ihr Vaterland liebten.

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      Dr. Gerd Hegemann, Chirurg der 1. San.Kp. der 16. P.D.

      So sagte ein Sanitätsgefreiter: ‚Und bitte kein Wasser!‘ Da wußte ich Bescheid, es handelte sich um einen Bauchschuß. Ich ging in die hölzerne Baracke, und da lag auch schon einer, mit kalkweißem Antlitz, aber beim Bewußtsein. Das irdische Ende dieses Mannes schien sehr nahe. Wir beide waren ganz allein. Jetzt nicht viel herumreden, sondern diesen Kameraden, der bei einem Spähtrupp verwundet wurde, ganz leise an ‚daheim‘ erinnern, nur nicht sagen, zwar gut gemeint und doch täuschend, aber leider oft genug gesprochen: ‚Bald wirst du wieder zu Hause sein‘ – nein, so nicht, sondern im Sinne von ‚wir werden daheim sein bei dem Herrn‘, und das auch den Angehörigen schreiben. Nur nicht von stolzer Trauer, von Ideologen am Schreibtisch ausgedacht, als ob man Tränen verdrängen könnte!

      Oft bohrten sich Granaten tief in die Erde und richteten deshalb keinen Schaden an. Aber bei einem Gang durch einen rechts und links mit Sträuchern bepflanzten Hohlweg sah ich vor mir einen Trichter und darin ein Stück Uniform. Ich blickte in die Baumkrone darüber und entdeckte in den Zweigen die Reste eines menschlichen Körpers, auch einen Teil der Kopfhaut mit den Haaren. Kameraden setzten die Reste in einem Grab neben dem Verbandplatz bei – eine schaurige Erinnerung! Ich dachte an das Wort Christi: ‚Alle eure Haare sind auf eurem Haupte gezählt,‘ auch die dieses armen Kameraden.