Stalingrad - Die stillen Helden. Reinhold Busch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Busch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810422
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waren, besonders bei einem Kameraden, dem eine Maschinengewehrsalve durch beide Hüften gedrungen war, oder einem im Panzer so furchtbar Verbrannten. Manches Mal riefen wir den tapferen Krankenfahrern mit ihrer leidenden Last für ihre einsame Fahrt zu: ‚Fahrt mit Gott!‘ Leichter Verwundete wurden an Ort und Stelle im Operationswagen operiert und kehrten bald vom Hauptverbandplatz zu ihrer Einheit zurück. Die erste und oft entscheidende Hilfe aber vollzog sich durch die Hand Dr. Webers. ‚Das haben wir sicher doch geschafft,‘ kam es oft hoffnungsvoll über die Lippen, aber leider manchmal kam der Satz, leise geflüstert: ‚Hier ist nichts mehr zu machen,‘ bei Kopfschüssen, zu großem Blutverlust oder abgerissenen Gliedmaßen. Die Gesichter der 2. Sanitätskompanie wurden mit der Dauer des Krieges immer ernster, und ermattet warf sich oft der Chef auf sein Feldbett, häufig nur für wenige Stunden Schlaf, denn auch die nächtlichen Bombenangriffe forderten ihre Opfer an Verwundung und Tod. Oft waren Sekunden für die Rettung entscheidend, aber Dr. Weber konnte sich vom Sanitätsfeldwebel bis zum Gefreiten auf seine Helfer verlassen, jeder von ihnen kannte seinen Platz und seine Aufgabe. Sie alle wußten, von Dr. Weber eingeübt: Auf dich kommt es jetzt an, wenn ich mit der Op beginne! Ich hatte es mit ihm nicht ganz leicht, denn er war, wie man damals sagte, ‚gottgläubig‘, zugleich aber unserem kirchlichen Dienst gegenüber an der Front sehr tolerant. Vier oder fünf Kapläne waren in seiner Kompanie Sanitätsunteroffiziere oder -gefreite. Sie sind außer einem alle gefallen.36

      Auch der verwundete russische Soldat war nicht weniger Leidensgefährte wie unsere eigenen Kameraden, auch für ihn wurde der verdreckte Verband durch unseren Arzt erneuert. Mit einer russischen Ärztin in Artemowsk wiederum erlebte ich Folgendes: Nach meiner Verwundung sollte mir ein Bein amputiert werden, nicht wegen einer schweren Verwundung, sondern einer beginnenden Vergiftung nach einer leichten Verletzung. Die russische Ärztin sagte zu mir: ‚Nix operieren, deutscher Arzt noch zu jung!‘ Mit einer anderen geduldigen Therapie bewahrte mich diese Frau vor der Operation. Jeden Tag betreute sie auch mich in dem großen Raum mit vielen deutschen Verwundeten, denen sie die gleiche Hilfe erwies.

      Auf einem großen Verbandplatz in einer Scheune lagen viele Verwundete, neben deutschen auch russische. Angesichts des nahen Todes gab es keine feindseligen Empfindungen mehr, sondern nur noch die Nachbarschaft der gemeinsam Geängstigten. Immer wieder hörte man das laute Rufen eines schwer getroffenen Russen: ‚Wodä, wodä!‘ Er leerte meine Feldflasche mit einem Zuge. Ich hob die Decke und sah den völlig durchgebluteten Verband auf seinem Bauch; menschliche Hilfe, die ihm auch zuteil wurde, blieb hier umsonst. Verständigen konnten wir uns beide nicht, aber seine Hand umklammerte plötzlich mein silbernes Kreuz. Vielleicht hing ein Kreuz daheim an der Wand im Hause der Eltern, an dem der Gekreuzigte einmal für alle ohne Ausnahme rief: ‚Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!‘ Seine Hand ließ mein Kreuz bald los, denn er starb schnell, aber es war trotz aller Angst ein getröstetes Sterben.

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       Feldlazarett 194 in Artemowsk: Verbandraum

      In Kramatorskaja, einige Kilometer hinter der Front, wo die schwersten Kämpfe tobten, befand sich ein großes Feldlazarett. Ärzte und Ärztinnen – auch russische Ärztinnen! – schufteten am Operationstisch, um Leben zu retten. Mauern der Feindschaft fielen bei der Operation zusammen, denn man sah nur noch einen Menschen, der litt und auf Hilfe hoffte. In dunklen Tälern brach sich urplötzlich verschüttete Humanität, wahre Menschlichkeit Bahn. Aber das Sterben nahm in Kramatorskaja kein Ende – zu groß war der Blutverlust bei den langen Anfahrten und zu schwer die Verwundungen. Der Marktplatz wurde mit Spaten und Spitzhacke aufgerissen, um die Verstorbenen zu bestatten. Aber wie viele starben allein, ohne ein Wort des Trostes und des Beistandes, ohne einen Händedruck im Flur, auf der Trage oder in einem Klassenzimmer auf der Pritsche! Waren aber die Sterbenden wirklich allein? Da ich selber dort verwundet lag, konnte ich niemanden besuchen und ihm ein gutes Wort sagen. Aber ER selber war ja da, wenn sonst niemand neben der Trage niederknien und ein hilfreiches Wort sprechen konnte. Wie oft sah ich auch meinen katholischen Kollegen Mohr in gleicher Weise seine Kameraden mit diesem wunderbaren ‚Er selbst ist ja da‘ aufrichten!

      ‚Wenn das nur gutgeht!‘ pflegten jene überaus mutigen Kameraden zu sagen, die einen LKW mit Minen vollbeladen über die holprigen Straßen steuerten, denn was eine Bombe oder auch nur eine Granate mitten in die gestapelten Minen bedeutete, wußte jeder dieser Kameraden hinter dem Lenkrad. So erging es einem dieser Männer: Eine von einem Flugzeug geworfene Bombe, am blauen Himmel kaum zu sehen, traf mitten in die Fülle der Minen. Helle Blitze und Explosionen waren die Folge. Zwar kam der Fahrer gerade noch aus dem Gehäuse heraus, aber wie! Der Leib war aufgerissen, und die Gedärme schleppte er mit wankenden letzten Schritten durch den Staub der Steppe; nach wenigen Metern brach er zusammen. Helfende Kameraden waren schnell zur Stelle. Aber was sollte man noch machen? Kein Arzt befand sich in der Nähe, und die Versuchung tauchte auf: Gnadenschuß? Aber nur einen Augenblick, nicht länger, denn auch im Kriege galt: ‚Ich bin der Anfang und das Ende‘, also auch das Ende unseres Lebens. Und wenn man mit einem Bewußlosen nicht mehr reden konnte, dann konnte man die Hand aufs Haupt legen und das Zeichen des Kreuzes auf die schweißnasse Stirn machen mit seiner Botschaft: ‚Es ist vollbracht,‘ nämlich Heil und Rettung auch aus der Nacht des Todes. Sterbende können hellwach verstehen, auch wenn die Lippen sich nicht mehr bewegen.

      In maßloser Qual lag ein Schwerverwundeter vor mir. Ein Geschoß hatte ihm Ober- und Unterkiefer weggerissen; nur die zerfetzten Wangen und die Nase waren noch zu erkennen. Der Menschheit ganzer Jammer konnte einen packen, wenn man in diese aufgerissenen Augen sah. Stabsarzt Dr. Paal linderte die Schmerzen, soweit möglich. Immer wieder wies der Verwundete mit der rechten Hand auf meine Pistole, die wir Divisionspfarrer zum Schutze der Verwundeten tragen mußten. Ich verstand den so schwer Verletzten sehr schnell: Machen Sie doch meiner Qual bald ein Ende, bitte! Er erhielt durch den Arzt noch eine lindernde Spritze und wurde dann vorsichtig in den Wagen mit der wehenden Rotkreuzflagge hineingetragen; das Ziel: das nächste Feldlazarett. Sein Oberleutnant erzählte mir später, der Verwundete habe die qualvolle Fahrt über die holprige Rollbahn leider nicht überstanden. Hier half nur die Erinnerung an jenes Wort des Neuen Testamentes: ‚Der Tod wird nicht mehr sein, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein.‘ Auch das Stöhnen des so schwer verletzten Kameraden wird nicht mehr sein, denn ‚das Erste ist vergangen.‘

      So wie hier beschrieben – nur wenige Ausschnitte von unzähligem Sterben – ging es weiter, Tag für Tag, auch Nacht für Nacht, wenn man z. B. in tiefster Dunkelheit jemanden rufen hörte ‚Sani, Sani!‘, und man fand ihn doch nicht. Und Tag um Tag, Nacht für Nacht wurde es noch schlimmer als bisher, denn der Krieg wurde im Laufe der Zeit erbarmungsloser. Warum sollte ich die Wirklichkeit verschweigen? Denn nur die Wahrheit kann uns freimachen! Daß es noch schlimmer wurde, merkten wir auch daran, daß das Singen ganz allmählich aufhörte. Selbst Narren sangen nicht mehr ‚kein schönrer Tod, als wer vom Feind erschlagen!‘ Wer wie wir Erschlagene mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte vor einem solchen grauenhaften Ende nicht mehr singen, sondern nur noch verstummen …

      Mein katholischer Kollege, Pfarrer Peter Mohr, besaß eine besondere seelsorgerische Begabung. Wenn er mit seiner warmherzigen Stimme zu den Verwundeten sprach, spürten sie alsbald seelische Erleichterung, und Sterbenden machte er mit seinem tröstlichen Wort den Heimgang leichter. Wenn er knieend das ewige Leben bezeugte, dann stand dahinter die Gewißheit: Nichts kann unsere lieben Kameraden von der Liebe Gottes scheiden! In gleicher Weise nahm er sich der verwundeten russischen Soldaten an. Wenn deren Blick auf das silberne Kreuz von Mohr fiel, entspannten sich ihre zerfurchten Gesichtszüge. Sie merkten: Mir naht jetzt kein Gegner, mir naht vielmehr ein Pontifex, ein Brückenbauer zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Gott und Mensch, auch zwischen Mensch und Mensch.

      Während schwerste Kämpfe tobten, trafen wir beide unseren Divisionsarzt. Er sagte uns: ‚Dort, wo Sie jetzt hinwollen, ist es überaus windig!‘ Wir verstanden sofort, was er meinte. Mohrs Antwort: ‚Dort aber gehören wir auch hin,‘ und meinte damit auch unsere getreuen Küster Johann Wahl und Martin Krinke. Denn wenn Männer unter Schmerzen unsäglich leiden und auch sterben mußten, konnte oft allein das geistliche Wort noch lindern und helfen. Als Mohr auf dem dortigen Verbandplatz mit den vielen Verwundeten erschien, wurde es auf dem vom Stöhnen