Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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auf den Rücksitz.

      Der Fahrer machte sich nicht mal die Mühe, die Scheinwerfer einzuschalten, als er den Abhang hinunterfuhr und auf die Straße einbog. Schon bald verengte sich das Tal und die Straße wand sich wieder in Serpentinen in die Berge hinauf. Belal stieß mich an. „Der scheint diese Strecke im Schlaf zu kennen“, meinte er.

      Selbst auf dieser engen, kurvenreichen Bergstraße fuhren wir die meiste Zeit ohne Licht. Vor dem sternenübersäten Himmel zeichneten sich nur schwach die kantigen Umrisse schroffer Felsen am Straßenrand und hin und wieder die finstere Silhouette der umliegenden Berge ab. Der Fahrer hatte sein Fenster ein Stück weit geöffnet. Mit dem kühlen Fahrtwind drang der Duft von Wildblüten und Kiefernharz herein. Das eintönige Brummen des Motors und das Schaukeln des gut gefederten Toyota schläferten mich ein.

      Ich schreckte erst wieder hoch, als der Wagen wild zu schaukeln begann. Wir waren von der Straße auf eine unbefestigte Piste mit tiefen Schlaglöchern eingebogen. Heftige Ausweichmanöver des Fahrers schleuderten uns gegeneinander. Wir bewegten uns über eine kahle Hochebene, die im Licht des inzwischen emporgestiegenen Halbmonds seltsam unwirklich glänzte. Ich fror in der eiskalten Luft, die zum immer noch offenen Fenster hereinblies.

      Der Fahrer sagte etwas zu Malik. Der rief zu uns nach hinten, wir wären gleich da. Kurz darauf blinkte in der Ferne schräg vor uns mehrmals kurz hintereinander ein Licht auf. Der Fahrer verließ die Piste und hielt quer durch das Gelände direkt auf diese Stelle zu. Der dunkle Streifen vor uns erwies sich als Waldrand.

      „Aussteigen. Ab hier geht’s zu Fuß weiter.“

      „Hier schmeißt der uns raus?“, protestierte Faizal, aber da öffnete der Fahrer schon die Tür auf seiner Seite. Er holte etwas aus der Brusttasche seiner Lederjacke. Der schrille Pfiff einer Trillerpfeife ertönte. Ein Antwortpfiff kam ein ganzes Stück weit entfernt vom Waldrand her. Kaum hatten wir uns ganz steif von der langen Fahrt und vor Kälte mitsamt unseren schweren Rucksäcken aus dem Wagen gewunden, warf der Fahrer die Türen zu. „Allah sei mit euch“, rief er uns durch das offene Fenster zu, ließ den Motor an, wendete und fuhr davon.

      Aus dem Dunkel des Waldes löste sich ein großer Schatten. Erst als der näherkam, erkannten wir, dass es ein Reiter war. „Hierher!“, rief er uns zu. Als er sah, dass wir uns in Bewegung setzten, wendete er sein Pferd. Wir beeilten uns, ihn einzuholen. An der Stelle, wo er aufgetaucht war, lenkte er sein Pferd in den Wald. Erst da sahen wir, dass da noch ein weiterer Reiter stand. Der hob schweigend die Hand zum Gruß, wartete, bis wir hinter dem anderen her an ihm vorbei waren und bildete dann die Nachhut unseres kleinen Zuges.

      Der trotz Mondlicht kaum erkennbare Pfad, dem wir im Gänsemarsch folgten, führte in weiten Kehren bergab. Sobald wir das Plateau verließen, legte sich der kalte Wind. Ich war froh, dass ich mich endlich mal wieder richtig bewegen konnte. Schon nach kurzer Zeit war mir warm. Der Sternenhimmel, die Stille ringsum, die klare Luft, alles erinnerte mich an meine Zeit in den Bergen. Diesmal sollte mich der Weg durch die Nacht aber in die Freiheit führen. Wahrscheinlich hätte ich unseren lockeren Marsch bergab sogar genossen, hätte ich nicht gewusst, dass uns wieder ein Grenzübertritt bevorstand,

      Fast wäre ich auf Malik geprallt, der die ganze Zeit vor mir gelaufen und plötzlich stehengeblieben war. Ein Zischen von vorn, dann standen wir alle und lauschten. Nach einer Weile, seitlich aus der Ferne, ein Ruf … ein Schuss … weitere Schüsse in ganz kurzem Abstand. Danach eine Stille, so tief, dass es einem in den Ohren nachhallte.

      Ich kann nicht sagen, wie lange wir da so standen und lauschten. Schließlich hob der Reiter vor uns die Hand und es ging weiter. Kurz darauf erreichten wir die Talsohle und hielten vor einem breit ausgetretenen Pfad. Den überquerten wir erst, nachdem unsere Führer sich längere Zeit nach links und rechts vergewissert hatten, dass sich nirgendwo etwas regte. Ein Stück weiter ging es über einen Bach, der eigentlich nicht sehr tief war. Ich aber rutschte auf einem der Steine aus, auf denen wir hinüberbalancierten. Ich konnte noch froh sein, dass ich nicht der Länge nach im Wasser gelandet war. Am anderen Ufer hätte ich gerne erstmal das Wasser aus meinen Schuhen geleert und meine Hosenbeine ausgewrungen, aber die beiden Reiter trieben uns weiter und den Hang auf der anderen Talseite wieder hinauf.

      Bald darauf wurde es so steil, dass unsere beiden Begleiter absteigen und ihre Pferde am Zügel führen mussten. Nicht lange, und mir zitterten die Beine und das Herz schlug mir bis zum Hals. Der Hang war felsig, und ständig auf kantige Steine zu treten machte das Marschieren zunehmend zur Qual. Ich war froh, als Belal hinter mir rief, er könne nicht mehr und sich einfach auf den Boden fallen ließ. Die Reiter schimpften, aber es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als uns eine kurze Pause zu gönnen.

      Nach einem weiteren steilen Anstieg erreichten wir endlich den Gipfel des Höhenzugs. Der jüngere der beiden Reiter – der, der die Nachhut gebildet hatte – saß gleich wieder auf. Sein vierschrötiger Kollege packte den immer noch jammernden Belal und hob ihn hinter seinem Kollegen aufs Pferd. Dann ging es weiter. Wenn ich gewusst hätte, wie weit wir noch laufen mussten, immer wieder bergab und bergauf, hätte ich mich wohl auch einfach auf den Boden fallen lassen wie Belal. Am Ende bin ich nur noch ganz automatisch vorangestolpert.

      Es dämmerte schon, als wir auf halber Höhe eines Berges um eine Felsnase bogen und plötzlich eine von Kiefern umgebene Lichtung vor uns lag. Ich erschrak, denn da lagerten, jeweils in kleinen Gruppen zusammen, mehr als zwanzig Personen, die alle zu schlafen schienen. An einer Stelle am Rande der Lichtung saßen drei oder vier Männer beieinander, die offenbar Wache hielten. Neben ihnen waren Pferde angebunden. Unser Führer hielt direkt auf diese Gruppe zu.

      Eine der Gestalten, ein hagerer junger Mann mit abstehenden Ohren, erhob sich und kam uns entgegen. „Von Kadér?“ Er brachte uns zu einer Stelle etwas abseits unter den Bäumen. „Ruht euch erst einmal aus. Vor morgen Mittag geht es sowieso nicht weiter“, sagte er.

      Ich schaffte es gerade noch, meinen Schlafsack auf dem sandigen Boden auszurollen und mich darauf fallen zu lassen, dann war ich fest eingeschlafen.

      Als ich aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, aber noch lag unser Plätzchen im Schatten der Bäume. Malik und Belal schliefen noch. Faizal entdeckte ich in einer Gruppe von bärtigen jungen Männern, die etwas entfernt im Kreis zusammensaßen und sich angeregt unterhielten. Erst wollte ich rübergehen, aber irgendetwas hielt mich dann doch davon ab. Es saßen oder standen noch mehrere solcher Runden auf diesem kleinen Plateau beieinander. Offenbar war dies ein Sammelplatz, wo die Schlepper ihre ‚Kunden‘ zusammenführten, bevor sie sie über die Grenze brachten.

      Am Ende haben wir drei Nächte und zweieinhalb Tage auf diesem Plateau zugebracht. Immer wieder hieß es, es ist noch nicht sicher. Die koordinierte Aktion der iranischen und türkischen Grenzer, von der schon der Boxer gesprochen hatte, war anscheinend immer noch nicht zu Ende. Angeblich hatte es bei den Grenztruppen drüben auf türkischer Seite kürzlich auch noch einen großen Personalaustausch gegeben. Dann dauere es immer eine Weile, bis alles wieder wie geschmiert laufe. Das jedenfalls wollte einer von Faizals bärtigen pakistanischen Landsleuten in Erfahrung gebracht haben.

      Die Schlepper, die uns eigentlich schon längst wieder hatten los sein wollen, wurden immer gereizter. Auch unter den Flüchtlingen – ausschließlich junge Männer – wurde die Stimmung ab unserem zweiten Tag dort oben aggressiv. Am Abend unseres ersten Tages war noch eine kleine Eselskarawane mit Decken und Lebensmitteln eingetroffen. Fladenbrot, Oliven und Ziegenkäse reichten aber gerade bis zum Mittag des nächsten Tages.

      Nicht alle waren vor ihrem Aufbruch zu diesem Ort so gut versorgt worden, wie wir. Wie hatten wir geflucht, als wir unsere schweren Rucksäcke über die Berge geschleppt hatten. Jetzt wurden wir von vielen um unsere Äpfel und Nüsse beneidet. Am zweiten Abend teilten wir den Rest unserer Schätze mit den bärtigen Freunden von Faizal, die tatsächlich alle wie er selbst aus Pakistan stammten. Diese Gruppe hatte besonders aggressiv unsere brüderliche Solidarität eingefordert. Dabei mochten sie mich und meine beiden afghanischen Freunde offenkundig genauso wenig, wie wir sie. Faizal aber meinte, wir würden vielleicht nochmal froh sein, auf ihre Hilfe zählen zu können. Besonders ihr Anführer Zabiullah habe überallhin beste Verbindungen, auch nach Afghanistan – vor allem in die Provinz Nangarhar.

      Ich